1. Juli 2003 Rossana Rossanda

Die Arbeit zählt nicht

Am 14. / 15. Juni hat in Italien ein Volksbegehren zur Ausweitung des Kündigungsschutzes stattgefunden. Es wurde im Wesentlichen von der Gewerkschaft CGIL und Rifondazione Comunista (RC) initiiert und getragen. Die anderen politischen Kräfte der Linken standen abseits bzw. haben zur Wahlenthaltung aufgerufen (vgl. Heinz Bierbaum, Kampf um den Kündigungsschutz, in: Sozialismus 5 / 2003) Das Volksbegehren wurde abgelehnt, weil nur 25% der Wahlberechtigten abgestimmt haben. Von den etwa 12 Mio. Stimmberechtigten, die sich beteiligt haben, plädierten aber etwa 11 Mio. (fast 90%) für eine bessere soziale Absicherung. Die Stellungnahme von Rossana Rossanda ist am 20. Juni in der linken Tageszeitung Il Manifesto erschienen.

Es ist nun das zweite Referendum zur Arbeit, das schief gegangen ist – so als ob die große Mehrheit der Wähler sich weigern würde, sich dafür zu interessieren. Dies ist ein Faktum, dem man Rechnung tragen muss. Dass man die Auffassungen und Meinungen, die die italienische Gesellschaft bewegen, nicht begriffen hat, ist kein Anlass zum Prahlen, sondern sollte alle, uns eingeschlossen, zur Bescheidenheit mahnen. Die Frage, die sich zuallererst stellt, ist, warum nur die Hälfte der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen zur Wahl gegangen ist. Sicherlich hat Epifani (der Vorsitzende der CGIL – d. Übers.) recht, wenn er sagt, dass 11 Millionen Menschen ein wirklich wertvolles Gut darstellen. Aber warum hat die andere Hälfte nicht gewählt? Weil sie sich sicher fühlt? Das denke ich nicht. Sie fühlt sich unsicher, glaubt aber nicht an gemeinsame Aktionen. Sie ist vielmehr der Auffassung, dass heutzutage die Unternehmer am Drücker sind und dass nichts anderes übrig bleibe, als sich dem Markt und dem Unternehmen anzuvertrauen. Das ist der eigentliche Sieg der Gegenoffensive, die mit der Niederlage bei der "scala mobile" in den 70er Jahren begonnen hat. Wer nach dem Krieg zu arbeiten begonnen hatte, glaubte an den Kampf, hat sich eingesetzt und vor dem Hintergrund einer wachsenden Wirtschaft Lohn, Rechte und Renten erkämpft, die ihm ein Einkommen ermöglichte, von dem auch die in den 60er Jahren und später geborenen Kinder lange Zeit gelebt haben. Für diese Kinder war die Arbeit nicht mehr wie für ihre Eltern eine Verpflichtung und zugleich eine Chance. Sie werden das auch nicht mehr für ihre eigenen Kinder machen können.

Und das ist ein gesellschaftlicher Tatbestand. Hinzu kommen eine Reihe von subjektiv gefärbten, konfusen Aussagen und Ratschlägen. Von allen Seiten ist gesagt worden, dass der liberalisierte Kapitalmarkt allen nicht nur die Möglichkeit geboten habe zu arbeiten, sondern auch unternehmerisch tätig zu werden: angefangen bei den drei oder vier Millionen volatiler Betriebe mit zwei oder drei Beschäftigten, über einen Wald von Mediationsagenturen auf Kosten der Arbeit von anderen bis hin zur Illusion, mittels eines kleinen Aktienpaketes am Finanzvermögen teilhaben zu können. Die gesellschaftlichen Erwartungshaltungen haben sich verändert. Trotz der täglichen Erfahrung prekärer Arbeits- und Lebensverhältnisse ist die Solidarität der und unter den Arbeitnehmern für tot erklärt worden. So ist einer von zwei Italienern (zum großen Teil Frauen und Jugendliche) vom Arbeitseinkommen eines anderen abhängig und auf sich selbst zurückgeworfen. Kollektive Möglichkeiten sozialer Sicherung haben an Sinn verloren in einem System, das als unveränderbar definiert wird.

Daher ist es leichter, für die großen Problem der Zivilgesellschaft oder gegen die Ungleichheit in der Welt zu mobilisieren als für die Arbeit und ihre Rechte in den westlichen Metropolen. Wie viele alte Kampfgefährten haben mir nicht gesagt: Die Arbeit interessiert niemanden mehr, heute haben wir andere Probleme. Sie sagen, dass die Frage von Kapitalismus oder Sozialismus niemanden mehr interessiere, weil nurmehr der Kapitalismus übrig geblieben ist. Auch die Linke hat politisch und mit entsprechenden Veröffentlichungen in diesem Sumpf mitgemischt.

Auf dieser Grundlage sind Thatcher und Reagan groß geworden, hat sich die vergängliche "new economy" aufgebläht und haben sich riesige Finanzblasen gebildet, die dann wieder geplatzt sind, wobei Millionen von Dollars verpufft sind. Und bei uns hat Berlusconi und die schlimmste politische Rechte in Europa gewonnen.

Das Mindeste was man nach einer derartigen Niederlag tun muss, ist, dass man aufhört mit Trost spendenden Theorien vom Ende der Arbeit herumzuspielen oder aber in völlig ungeeigneter Weise mit den Kategorien des Postfordismus zu hantieren. Vielmehr muss man damit beginnen, Ideen, Kräfte und Subjekte wieder zusammenzubringen. Die Dinge so zu betrachten, wie sie sind, ist eine gute Übung in Realitätstüchtigkeit. Wir sind nicht bester Verfassung. Aber auch das Kapital steht nicht gut da: Behindert durch seine gierige Unfähigkeit hat es nicht vermocht, auch nur eine der großen weltweiten Widersprüche zu lösen. Sein Sieg war vor allem ein Siege im Kampf um die Köpfe, wie das Referendum beweist. Sehen wir also zu, ihn von da zu vertreiben. Ohnehin ist hier schon viel zu viel Zeit verloren worden. Dies ist eine Aufgabe, die sich eine Zeitung zum Ziel setzen kann.

Rossana Rossanda ist ehemaliges Mitglied der KPI, Gründerin der Tageszeitung Manifesto, Autorin. Aus dem Italienischen von Heinz Bierbaum.

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