1. Januar 2021 Mario Keßler: Sprache und Schweigen der DDR-Intellektuellen

Die Betrogenen des »realen Sozialismus«

Man kann, und die Romanschriftsteller haben hier Gutes geleistet, die Geschichte der DDR-Intellektuellen aus unterschiedlicher Sicht in ihren verschiedenen Milieus untersuchen.

Das Dresdner protestantische Bildungsbürgertum, das Uwe Tellkamps »Turm« bevölkert, ist eine andere Spezies als jene in Eugen Ruges literarischem Soziogramm, das dieser »In Zeiten des abnehmenden Lichts« so einprägsam zeichnete: die scheinbar etablierte Intelligenz, die Stalins Lager überlebte. In einer seiner letzten (und besten) Erzählungen, »Wäschekorb«, zeigt Erich Loest die DDR-Funktionselite nach dem Umbruch von 1989 zwischen geistigen Blockaden und neuer Desorientierung, ohne sie zu verdammen.

Leider fast unbekannt, da nicht übersetzt, blieb in Deutschland Tariq Alis Roman »Fear of Mirrors«. Der aus Pakis­tan stammende britische Autor brachte in einer erregenden, mit Elementen des Thrillers vermischten Familiengeschichte verschiedene Gruppen zusammen, die die ostdeutsche Intelligenz in der »Wendezeit« konstituierten: Kommunisten und Antikommunisten, Karrieristen, die die Widersprüche erkannten, doch von sich wegschoben und Traumatisierte des Stalinismus.

Soziologen, Kultur- und vor allem Literaturwissenschaftler, von Hans Mayer bis Werner Mittenzwei, haben das Feld gleichfalls beackert, und Gerd Dietrichs Opus magnum, seine dreibändige »Kulturgeschichte der DDR«, dürfte auf lange Zeit eine unübertreffbare Fundgrube für den Historiker bleiben. Anders als mitunter prophezeit, hat auch im Ausland das Interesse an der DDR und ihren Intellektuellen keineswegs nachgelassen; Mary Fulbrooks Arbeiten, die Studien von Mark Wolfgram, Matthew Stibbe, Axel Fair-Schulz und Nicolas Offenstadt sowie das neue Buch der französischen Historikerin Sonia Combe legen davon Zeugnis ab. Dieses Buch sei im Folgenden ausführlicher vorgestellt.[1]

La loyauté à tout prix. Les floués du »socialisme réel« (Loyalität um jeden Preis. Die Betrogenen des »realen Sozialismus«) ist, in guter französischer Tradition, eine historische Analyse in Form eines Groß-Essays und in fünf Teile gegliedert.

Mario Keßler arbeitet am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam.

[1] Sonia Combe, La loyauté à tout prix. Les floués du »socialisme réel«, Lormont: Editions le bord de l’eau, 2019, 238 S. Die Seitenzahlen im Text beziehen sich auf dieses Buch.

Die komplette Leseprobe als pdf-Datei!

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