1. September 2009 Redaktion Sozialismus

Die Chance auf politische Erneuerung wahren!

Bundeswirtschaftsminister zu Guttenberg (CSU), zurzeit der populärste Politiker in Deutschland, warnt davor, die weltweite Wirtschaftskrise als überwunden zu betrachten. "Obwohl wir in den letzten Wochen und Monaten auch einige sehr ermutigende Zeichen gesehen haben, haben wir noch schwierige Jahre vor uns."

Zu Guttenberg versucht sich nicht in Schönrednerei vom angeblichen Ende der Krise und nimmt mit seinen Bedenken eine eher nüchternere Einschätzung der jüngsten Konjunkturdaten als andere Repräsentanten der politischen und wirtschaftlichen Eliten vor. Diese sehen die deutsche Wirtschaft bereits wieder auf gutem Weg aus der schwersten Rezession der Nachkriegszeit. Ihre Konjunkturerwartungen spiegeln sich u.a. im ZEW-Barometer wider, das die Wirtschaftsaussichten gegenwärtig so gut wie zuletzt vor mehr als drei Jahren anzeigt. Die oberflächliche Schlussfolgerung: Die Krise war einmal.

Der Optimismus der Herrschenden speist sich auch aus der Einschätzung der früheren Lokomotive der Weltwirtschaft USA. Die steile Talfahrt der amerikanischen Wirtschaft, die im Dezember 2007 begonnen hatte, hat sich in diesem Sommer so verlangsamt, dass Politiker und Ökonomen auch dort vom Beginn einer Erholung sprechen. Die Lage an den Finanzmärkten, an denen im vergangenen Jahr Panik herrschte und ein Zusammenbruch drohte, hat sich stabilisiert, und die Arbeitslosenrate, die stark nach oben geklettert war, ist nicht mehr weiter gestiegen. Die Krise war einmal – das ist auch die Grundtendenz im Alltagsbewusstsein kurz vor der Bundestagswahl. Die Demoskopie stellt fest: Es gibt keine Krisenstimmung, fast die Hälfte der Wahlbevölkerung hat kein Bewusstsein von der anstehenden Wahlentscheidung, die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung befindet sich in einer Stimmung "fatalistischer Gelassenheit". "Von Alarmstimmung ist ... wenig zu spüren. Weder die Wahl noch die wirtschaftliche Entwicklung scheinen die meisten Bürger zurzeit sonderlich zu bewegen. Nur 26 Prozent der Bevölkerung sehen den kommenden zwölf Monaten voller Befürchtungen entgegen. In Bezug auf die weitere konjunkturelle Entwicklung werden die Sorgen der Bevölkerung von Monat zu Monat schwächer. Anfang des Jahres rechneten noch zwei Drittel mit einem anhaltenden Abwärtstrend, im Mai noch 55 Prozent, im Juni 44 Prozent, jetzt 39 Prozent." (Allensbach-Analyse)[1]

Es wäre ein großes Missverständnis, diese Gelassenheit auf Unkenntnis und Manipulation zurückzuführen. Der Mehrheit der Bevölkerung "ist durchaus bewusst, dass die Auswirkungen der Wirtschafts- und Finanzmarktkrise zurzeit noch durch die Kurzarbeit und die staatlichen Konjunkturpakete abgefedert werden. Zwei Drittel erwarten, dass die Arbeitslosenzahlen in Deutschland binnen Jahresfrist steigen werden, 45 Prozent rechnen mit einem gravierenden Anstieg." Knapp die Hälfte erwartet gar, dass das Schlimmste der Krise noch bevorsteht. Was begründet diese Haltung?

Die zentrale These: Seit Monaten wird die Bevölkerung mit wirtschaftlichen Hiobsbotschaften konfrontiert. Dass die große Mehrheit gleichwohl bisher persönlich/familiär keine Auswirkungen der Krise erlebt, produziert Gelassenheit. Die Sorge um den eigenen Arbeitsplatz ist in den letzten Jahren nicht gewachsen, rund ein Drittel sieht sich bereits seit Jahren gefährdet, ohne dass in der gegenwärtigen Lage eine qualitative Veränderung gesehen wird. Vielmehr: "Mitten in dem schwersten Konjunktureinbruch der Nachkriegszeit sind die durchschnittlichen finanziellen Spielräume der privaten Haushalte gewachsen. 2007 bezifferte die westdeutsche Bevölkerung den Betrag, der im eigenen Haushalt nach Begleichen der festen Lebenshaltungskosten zur Verfügung bleibt, auf monatlich im Durchschnitt 315 Euro, im Frühjahr 2008 auf 325 Euro, aktuell auf 331 Euro ... Der Anteil der Bevölkerung, der die eigene wirtschaftliche Lage als schwierig beschreibt, hat sich seit dem Frühjahr 2008 gerade einmal von 14 auf 15 Prozent erhöht." Keine Frage: Stabile oder teilweise sogar sinkende Preise befördern diese Wahrnehmung einer Steigerung der Kaufkraft.

Anders als vor den Bundestagswahlen 2005 verbindet die große Mehrheit der Wähler die bevorstehende Abstimmung nicht mit der Sorge vor persönlichen Nachteilen. Damals befürchteten drei Viertel der Bevölkerung Nachteile durch Steuererhöhungen und drastische Einschnitte bei den Sozialleistungen. 2009 glauben nur 27 Prozent, dass der Ausgang der Bundestagswahl darüber entscheidet, wie rasch sich Deutschland wirtschaftlich erholt. 60 Prozent erwarten keine schwerwiegenden ökonomischen Auswirkungen. Politisch drückt sich dies in stabilen Zustimmungswerten für die Unionsparteien aus. Die überwältigende Mehrheit der Wahlbevölkerung erwartet, dass CDU/CSU auch nach der Wahl die Regierung führen werden. Der Abwärtstrend der Sozialdemokratie hat sich seit 2005 in kleineren Schwankungen kontinuierlich fortgesetzt.

Ein Blick auf Europa zeigt: "Zum einen sind Sozialdemokraten sowohl in der Regierung als auch in der Opposition kräftig abgestraft worden, und das, obwohl der neoliberale Glaube an Laisser-faire als Richtlinie für die Organisation der Märkte zusammengebrochen war. Zum anderen – und das ist noch wichtiger: Der Niedergang kommt nicht aus heiterem Himmel. Seit Jahren gelingt es keiner sozialdemokratischen Partei mehr, überzeugend Wahlen zu gewinnen. Dass Europas Mitte-Links-Parteien tief in der Krise stecken, ist also nicht mehr zu leugnen. Jedoch wird über die Gründe, die Reichweite und die Ernsthaftigkeit dieser ideologischen Krise kontrovers diskutiert."[2]

Aber auch die Kritik von links an dem strukturellen Niedergangsprozess der europäischen Sozialdemokratie kann aus der offenkundigen Krise des Kapitalismus keine Ausweitung des politischen Einflusses generieren. Vor dem offenen Ausbruch der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise hatte sich die LINKE in Deutschland – europaweit gemessen an der Zerlegung und Spaltung sozialistischer Kräfte eine Ausnahmeerscheinung – eine Zustimmung von deutlich über zehn Prozent der WählerInnen erarbeitet, in den alten Bundesländern lief dies auf Anteile von deutlich über fünf Prozent hinaus.

Seither hat die neue Partei erheblich an Rückhalt verloren. Trotz massiver Erschütterung des kapitalistischen Gesamtreproduktionsprozesses hat die politische Linke im weiteren Sinne deutlich an Terrain eingebüßt. Insgesamt gelingt es den Parteien des linken Spektrums damit nicht, sich in der Systemkrise als glaubwürdige Alternative für eine neue Politik zu profilieren.

Mit erneuten Turbulenzen in der gesellschaftlichen Produktion rechnet bloß eine kleine Minderheit der Wahlbevölkerung. Zwei Drittel erwarten dennoch, dass nach den Wahlen die Arbeitslosenzahlen massiv nach oben schießen werden. Das dicke Ende kommt noch. Und wenn sich im Zuge dieser Entwicklung die Rekonstruktion der gesellschaftlichen Produktion innerhalb der kapitalistischen Formation als kaum lösbares Problem herausstellen sollte, könnte sich die "fatalistische Gelassenheit" schlagartig verflüchtigen.

Aber wäre dies dann die Zeit der politischen Erneuerung von Sozialdemokratie und einer erfolgreichen Offensive der LINKEN? Wohl kaum. Die Gefahr ist nicht von der Hand zu weisen, dass sich auch in Deutschland die unausweichliche Auflösung der Illusionen über die Ewigkeit der bürgerlichen Gesellschaftsordnung in einer deutlichen Rechtsverschiebung des politischen Koordinatenkreuzes bei der großen Mehrheit der Wahlbevölkerung niederschlagen wird.

Angesichts des Absturzes der bundesdeutschen wie der europäischen Sozialdemokratie bei den Wählern wie in den Mitgliederzahlen bleibt die Hoffnung auf eine selbstkritische Überprüfung und einen Prozess der Erneuerung bescheiden. Für die LINKE ist die weitere Entwicklung unbestimmt. Wie in anderen Ländern ist die Möglichkeit der politischen Selbstzerstörung durch vielfältige Sektenbildung, Spaltungen und eine Renaissance des politischen Fundamentalismus nicht auszuschließen. Es gibt freilich auch die Variante, dass die politische Ohnmacht der sozialistischen Linken in anderen westeuropäischen Ländern wie Frankreich, Italien etc. verarbeitet wird und die europäische Linke insgesamt ihre analytischen und programmatischen Defizite und (Selbst)Blockaden bezogen auf die Analyse und Auswege aus der Krise überwinden kann.

Die Beförderung eines Rekonstruktionsprozesses der sozialistischen Linken angesichts der Wirtschaftskrise macht daher politisch Sinn. Die Redaktion Sozialismus unterstützt die Wahl der LINKEN am 27. September zum deutschen Bundestag, die hierzu ihren Beitrag leisten kann. Nach den Bundestagswahlen ist das Zeitfenster offen, um in einer solidarischen Diskussion die offenen programmatisch-strategischen Fragen auf die Tagesordnung zu setzen und eine Entwicklung einzuschlagen, die die Ausrichtung auf eine solidarische Ökonomie in das Zentrum der Parteipolitik rückt.

[1] Vgl. auch nachfolgend: Renate Köcher, Keine Krisenstimmung, FAZ, 19.8.2009.
[2] Olaf Cramme, Gefangen in der eigenen Kultur. Zur europaweiten Misere der linken Mitte, in: Berliner Republik, 4/2009, S. 6.

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