24. Juni 2019 Joachim Bischoff/Hasko Hüning

Die EU zwischen geopolitischer Selbstbehauptung und Selbstzertörung

Jahrzehntelang waren die Europawahlen eine müde Angelegenheit. Nun hat der letzte Wahlgang einen deutlichen Anstieg der Wahlbeteiligung und eine Stärkung pro-europäischer Parteienfamilien gebracht – trotz der Angriffe der Europa-Kritiker*innen.

Der Weckruf zur Verteidigung der gefährdeten Souveränität Europas, zu einer Selbstbehauptung Europas im Auflösungsprozess der liberalen Nachkriegsordnung, ist offenbar gehört worden. Soll die EU die Rolle eines »Schlafwandlers« (Christopher Clark) abschütteln, muss sie zu einem Gestaltungsfaktor in der Weltunordnung werden und zugleich eine Erneuerung des Projektes Europas verwirklichen. Um die EU-Kohäsionspolitik auf eine neue Qualität zu heben, muss ein sozial-ökologischer Fortschritt erfahrbar werden: durch einen Green New Deal inkl. eines »europaweiten Mindestlohns«, durch eine verallgemeinerte »soziale Grundsicherung« in allen Mitgliedstaaten und einen Ausbau des ökologischen Wandels.[1]

Gleichwohl: Die Gesamtsituation in Europa bleibt kritisch und die Neuwahlen zum europäischen Parlament verheißen keineswegs einen Aufbruch. Großbritannien verlässt im Herbst 2019 die europäische Gemeinschaft. Nicht nur vielen Brit*innen, Französ*innen und Italiener*innen ist ein geregeltes Miteinander in der EU gleichgültig – hinzu kommen noch einige osteuropäische Mitgliedstaaten, die sich über Vorgaben der EU zu Rechtsstaatlichkeit und Pressefreiheit hinwegsetzen. Außerdem ist unübersehbar, dass den Großmächten USA, Russland und China aus geopolitischen und wirtschaftlichen Gründen ein geeintes Europa von 500 Mio. Menschen nicht behagt.

Europa den nationalistischen Kritiker*innen zu überlassen, wäre fatal. Durch die europäische Einigung ist ein auf der Welt einzigartiges Konstrukt entstanden, das politische Freiheit mit sozialem Fortschritt verbinden könnte. Das ist bedroht, durch seine Gegner und durch die Trägheit seiner Unterstützer*innen.

Joachim Bischoff ist Mitherausgeber von Sozialismus.de, Hasko Hüning arbeitet in den Sozialistischen Studiengruppen (SOST).

[1] Ein hervorragendes Beispiel ist der Green New Deal in den USA, d.h. eine nichtbindende Resolution, die vom demokratischen Senator Markey in den Senat und von der demokratischen Abgeordneten Ocasio-Cortez ins Repräsentantenhaus eingebracht worden ist. Die Resolution fordert zum Kampf gegen den Klimawandel auf, und zwar mittels einer zehnjährigen nationalen Mobilmachung, während der die Treibhausgasemissionen netto auf null reduziert werden sollen. Der Übergang dazu soll sozialverträglich geschehen und auf die bedürftigsten Bevölkerungsgruppen Rücksicht nehmen. Die Mobilisierung für Klimaschutz wird verbunden mit einer großen Kampagne zur Verbesserung der sozialen, gesundheitlichen, wohnungswirtschaftlichen und kommunalen Lebensweise.

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