1. November 2007 Redaktion Sozialismus

Die Gewerkschaftsbewegung sortiert sich neu

Seit vielen Jahren beteiligt sich das Forum Gewerkschaften an den Debatten um die Weiterentwicklung der Strategie und Organisation der Gewerkschaftsbewegung. Wer diese Debatten verfolgt, weiß, dass auf diesem Terrain nicht nur analysiert, sondern auch gehandelt wird. Wer den Gewerkschaften vorhält, sich dem gesellschaftlichen Strukturwandel zu entziehen, ignoriert die vielfältigen Suchbewegungen und Veränderungsprozesse.

Wir halten nichts davon, einen Kapitalismus ohne Gewerkschaften auszurufen. Nicht, weil wir die Defensive oder Krise der Interessenvertretung der Lohnarbeit schönreden wollen. Dass sie auch zu Beginn des neuen Jahrhunderts eine Erosion ihres Einflusses und ihrer autonomen Macht erfahren mussten, ist unstrittig. Doch das ist nur eine Seite der Medaille. "Mit der zunehmenden Überzeugung, dass die Gewerkschaften an gesellschaftlichem und politischem Einfluss verlieren, hat sich in der Bevölkerung eine Trendwende vollzogen."[1] Denn zugleich ist in der Bevölkerung der Wunsch nach einem "stärkeren Einfluss" der Gewerkschaften in den Betrieben und in der Politik deutlich gestiegen. Aufschlussreich ist der Zeitpunkt des Beginns dieser Trendwende: 2003, dem Start der Agenda 2010, die mit Hartz IV die Angst vor dem sozialen Absturz in die Betriebe getrieben und sich selbst als das mächtigste Projekt der anti-wohlfahrtsstaatlichen Gegenreform gefeiert hat. In der Trendwende liegt eine dreifache Erkenntnis über den Stand der abhängig Beschäftigten und ihrer gewerkschaftlichen Organisation:

Erstens "wie es angeht, dass im selben Maß, wie sie mehr arbeiten, mehr fremden Reichtum produzieren und die Produktivität ihrer Arbeit wächst, sogar ihre Funktion als Verwertungsmittel des Kapitals immer prekärer für sie wird." (MEW 23: 669). Zweitens, dass Gewerkschaften nicht irgendwann im 19. Jahrhundert einmalig entstanden sind, sondern im Alltag als Widerstands­organisationen gegen die Übergriffe des Kapitals immer wieder neu gegründet werden. Drittens die "Verwandlung gesellschaftlicher Einsicht in gesellschaftliche Gewalt" (MEW 16: 194), d.h. die Notwendigkeit der Verteidigung und permanenten Erneuerung des gewerkschaftlichen Einflusses in Gesellschaft, Staat und Gesetzgebung. Die aus den sozialen Verhältnissen selbst erwachsenden Tendenzen der Revitalisierung von Gewerkschaften, die im Unterschied sowohl zu zivilgesellschaftlichen wie bloßen Lobby-Organisationen ihren Existenzgrund im sozialökonomischen Basisverhältnis eines gesamtgesellschaftlichen Reproduktionszusammenhanges haben, machen sie "basisdemokratisch" und zugleich unabhängiger gegenüber dem, was in sozialen Bewegungen als "Bewegungszyklus" bezeichnet wird: der schwer kalkulierbare schnelle Aufstieg, aber ebenso das schnelle Erlahmen neuer politischer Aktionsfelder und Organisationsformen. Die soziale Basis der Proteste gegen die Agenda-Politik der rot-grünen und schwarz-roten Koalition seit 2004 waren GewerkschafterInnen – im Bündnis mit sozialen Bewegungen.

Die gesellschaftszersetzenden Folgen eines Kapitalismus mit nur noch schwachen, institutionell attackierten, politisch ignorierten Gewerkschaften zeigen sich nicht mehr nur in den Ländern des angelsächsischen Kapitalismus (oder den mitteleuropäischen Transformationsstaaten). Die Veränderungen zunehmend marktförmig gestalteter Arbeitsbedingungen, Standortkonkurrenz in der kapitalistischen Triade und den neuen prosperierenden Zentren China und Indien, Privatisierung öffentlichen Eigentums und Deregulierung des gesellschaftlich-politischen Einflusses auf die Kapitalakkumulation, die seit Jahren voranschreitende Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen bei anhaltendem Druck millionenfacher Arbeitslosigkeit haben die Integrations- und Bindekraft der Widerstandsorganisationen nachhaltig geschwächt.

Massiv betroffen sind hierzulande vor allem die Gewerkschaften des privaten und öffentlichen Dienstleistungssektors. ver.di, die erst 2001 aus fünf Gewerkschaften neu entstandene Vereinigte Dienstleistungsgewerkschaft, hat seit Gründung ein Fünftel ihrer Mitglieder verloren. Die neoliberale Spar- und Privatisierungspolitik hat nicht nur die öffentlichen Dienste massiv beschnitten, sondern auch die Arbeits- und Tarifbedingungen der dort Beschäftigten verschlechtert.

Die wichtigste Herausforderung: Unter den Bedingungen des Finanzmarktkapitalismus ist es extrem schwierig geworden, eine solidarische Interessenvertretung der Lohnabhängigen durchzuhalten, wie gegenwärtig die organisations- und tarifpolitischen Alleingänge der Ärzte und Lokführer zeigen. Organisationen, die für eine einzelne Berufsgruppe das Maximale herausschlagen wollen, nutzen ihre exponierte Stellung, kündigen der Mehrheit die Solidarität auf und reißen tiefe Gräben in die Belegschaften. Eine Implosion des Gesamtsystems ist die Folge, wenn immer mehr Gruppen im Alleingang operieren. Selbstkritisch muss sich aber auch eine große Dienstleistungsgewerkschaft fragen, ob die Bezahlung auch weniger exponierter Berufsgruppen – von BusfahrerInnen über Erzieherinnen, Pflegekräfte, Krankenhauspersonal bis zu Ingenieuren – in einem vertretbaren Verhältnis zu ihrer Verantwortung, Qualifikation und beruflichen Belastung steht.

Immer mehr Beschäftigte der unteren Einkommensgruppen fallen unter die Schwelle, die eine Reproduktion des Wertes des Arbeitsvermögens zu den gegebenen sozial-kulturellen Existenzbedingungen sicherstellt. Verteilungs- und sozialpolitisch sind die Gewerkschaften mit der Herausforderung konfrontiert, einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn durchzusetzen, weil ihre eigene Organisationskraft nicht ausreicht, Existenzsicherung im Tarifvertrag zu gewährleisten. Es geht um die Abschaffung von Ein-Euro- und Mini-Jobs, um die Re-Regulierung von Leiharbeit und befristeter Arbeit und um die Etablierung eines öffentlich geförderten Sektors mit sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen zu regulären Tariflöhnen.Dieses Heft fällt zwischen zwei wichtige Gewerkschaftskongresse – der von ver.di liegt hinter uns, Anfang November geht es um die Kursbestimmung der IG Metall. Angesichts der vielfältigen Problemlagen und Diskussionsbedarfe ist diese Ausgabe dem Schwerpunktthema Gewerkschaften vorbehalten.

[1] Institut für Demoskopie Allensbach: Mehr Zustimmung, aber weniger Zutrauen. Dokumentation des Beitrags in der FAZ vom 21.6.2006.

Zurück