1. März 2010 Michael Schumann

Die Herausforderung annehmen

Es ist mittlerweile ein Gemeinplatz: Die gegenwärtige Finanz und Wirtschaftskrise bescherte den tiefsten Absturz seit der Großen Depression der 30er Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Strittiger sind Prognosen über den weiteren Verlauf. Selbst jene, die ein langsames Emporsteigen aus dem Krisental erwarten, können nicht ausschließen, dass neue Spekulationsblasen platzen und die Instabilität der Finanzmärkte erneut Systemrisiken heraufbeschwört, die die Realwirtschaft ein weiteres Mal abstürzen lassen.

Gerade für einen längeren Krisenverlauf liefert die "Great Depression" eine historische Folie. Noch unsicherer sind die gesellschaftlichen Folgen einzuschätzen, präziser: die Auswirkungen der Krise im Alltag und damit die Verarbeitungsformen und Reaktionen der Bevölkerung. Die Debatte über die Perspektiven der Gewerkschaften muss gleichwohl hier ansetzen.

Ich möchte hierzu thesenartig folgende Überlegungen einbringen: In dem vor 20 Jahren in "Jenseits der Beschlusslage" vorgelegten Ansatz galt "Individualisierung" als zentrale Herausforderung gewerkschaftlicher Politik.[1] Damit konnten drei grundlegende Entwicklungsdynamiken beschrieben werden: Erstens das Erschöpfen der auf standardisierter Massenproduktion basierenden fordistischen Produktionsweise, zweitens ein Prozess zunehmender Subjektivierung von Arbeit und drittens wachsende Legitimationsprobleme von Massenorganisationen, auch der Gewerkschaften. Dabei wurde "Individualisierung" damals bereits als ein durchaus vieldeutiger Begriff vorgestellt, der – zugespitzt – für die einen Befreiung aus einem ökonomisch-administrativen Zwangsregime und für andere soziale Fragmentierung bedeutete. Gleichwohl zeigte sich auch, dass damit keineswegs antagonistische Lohnarbeitserfahrungen verschwinden, sondern in innovativen Arbeitsregimen neue Formen von Solidarität entstehen können. Der Grundtenor war gleichwohl: Individualisierung führt zu einer Reduktion des gemeinsamen Erfahrungshintergrunds und bedeutet damit eine Erschwerung kollektiver Interessenvertretung.

Die vergangenen 20 Jahre und auch die aktuelle Finanz und Wirtschaftskrise werden als eine Bestätigung dieser Individualisierungsthese begriffen und als neuer Schub von Entkollektivierung interpretiert: Der Einzelne ist noch mehr auf sich und seinen familiären Nahbereich verwiesen, sucht sich personenspezifische Nischen zum Überleben. Und wo Abwehrfronten entstehen, kämen diese über einen Krisenkorporatismus nicht hinaus, der in der Logik möglicherweise noch verstärkter Standortkonkurrenz und Konflikte in voneinander abgeschotteten Lebensbereichen verbleibt. Entsprechend wurde bisher in der Debatte vor allem die Vermutung stark gemacht, dass die Krise die bereits bekannten Entwicklungstrends des Auseinanderbrechens von gemeinsamen Interessenlagen und entsprechenden Erfahrungen nur verstärkt.

Ich halte diese Kontinuitätsannahme für eine unzulässige Engführung der Debatte, die die Totalität der aktuellen Krisen-Veränderungsprozesse aus dem Blick zu verlieren droht. Ich möchte deshalb auf mögliche Diskontinuitäten und Umbrüche hinweisen, die mir, in all ihrer Widersprüchlichkeit, für die politische Interpretation und die Abschätzung politischer Optionen relevant zu sein scheinen. Die Wirkungen für die Gewerkschaften sind unter drei Gesichtspunkten neu zu betrachten.

1
Gerade die Krisenzuspitzung der letzten Jahre hat zu zahlreichen Veränderungen der Arbeits und Lebenswirklichkeit geführt, die als kollektivierende Erfahrungen verarbeitet werden könnten. Dazu gehört die wachsende Existenzunsicherheit auch bei jenen, die noch in Beschäftigung sind – Unsicherheit, die sich teilweise bis zur Angst vor dem Morgen steigert. Derartige Existenzängste wachsen mit der Gefährdung des Arbeitsplatzes, die nun auch zunehmend – trotz Beschäftigung sichernder Maßnahmen – Teile der Stammbelegschaften erfasst. Zudem nimmt – nahezu unabhängig vom Einsatzgebiet und quer durch die Belegschaften – die Bedrohung der psychischen und körperlichen Unversehrtheit durch radikalisierte betriebliche Vernutzung zu. Dies erfolgt in einer gesellschaftlichen Situation, in der sozialstaatliche Kompensation sowohl des Gesundheits und Arbeitsschutzes wie in der Entgeltdimension für immer mehr Personengruppen prekär geworden ist. Die Widersprüche zwischen dem Wohlergehensversprechen des politischen Systems und der geltenden Realität sind evident und lassen sich durch schöne Worte nicht mehr verdecken. Diese Tendenzen sind nicht neu. Der entscheidende Punkt ist jedoch: In der Krise erfahren sie neue Zuspitzungen, die die Realitätswahrnehmung verändern könnten.

Neue sozialwissenschaftliche Empirie zum "Krisenbewusstsein" gibt es gegenwärtig noch kaum. Die wenigen demoskopischen Umfragen zeigen jedoch recht eindeutig: Die Wahrnehmung der Gesellschaft und des politisch-wirtschaftlichen Systems verändert sich. Quer zu den verschiedenen Statusgruppen beklagen Mehrheiten wachsende Verteilungsungerechtigkeit und schwindende Durchlässigkeit sowohl im Erwerbssystem wie in den gesellschaftlichen Institutionen, angefangen in der Schule. Erkannt wird von Mehrheiten, dass die Gesellschaft auseinanderdriftet in ein unüberbrückbar werdendes "Oben" und "Unten". Von vielen wird bereits die Überlebensfähigkeit des gesamten Systems in Frage gestellt. Jedenfalls wird seine Legitimation angezweifelt. Was jahrzehntelange "linke" Aufklärungsarbeit über den Kapitalismus nicht vermochte, bricht in der Realerfahrung der Krise durch: Der Kapitalismus ist nicht gut – der Finanzmarktkapitalismus schon gar nicht. Aber auch nicht jener Kapitalismus der "sozialen Marktwirtschaft", weil er immer erkennbarer den versprochenen sozialen Ausgleich und die intendierte soziale Gerechtigkeit nicht einzulösen vermag.

Wir wissen: Diese Wahrnehmungsveränderungen setzen sich nicht im politischen Verhalten und als Widerstand gegen die politischen Institutionen und das Wirtschaftssystem fort. Deswegen kann (noch) nicht von einem Übergang der Finanz und Wirtschaftskrise in eine Gesellschaftskrise gesprochen werden. Das Institut für Demoskopie Allensbach spricht von einem "Statusfatalismus"[2] gerade jener sozialen Schichten, die von den beruflichen und sozialen Verwerfungen der Krise am härtesten betroffen sind. Andere befürchten eine Zunahme des Ressentiments für den Fall, dass die Krise stärker auf den Arbeitsmarkt durchschlägt. Von der Finanz und Wirtschaftskrise geprägte kollektive Konflikte sind bisher kaum auszumachen. Es dominiert die individualisierte Lösungssuche. Für die bisher weniger hart Betroffenen mit der Hoffnung, letztlich unbeschadet durchzukommen. Die wachsende Zahl jener, deren negative Betroffenheit sich zuspitzt, reagiert auf die wachsende Ungewissheit eher mit Lähmung und Apathie. Politisch gilt bisher durchaus die Einschätzung von Claus Offe, dass die Krise "konfliktbetäubend" wirkt und typischerweise "Dumpfheit und Desorientierung" hervorbringt.[3]

Das braucht aber nicht das letzte Wort zu sein. Mir erscheint die Situation zunächst vor allem als offen. Nicht zu übersehen ist auf jeden Fall, dass gleichsam oberhalb aller Vereinzelung, Parzellierung und Individualisierung die Kritik am Wirtschaftssystem und an der Politik dramatisch angewachsen ist. Das Vertrauen in die Leistungsfähigkeit des Staates als herausgeforderte Lösungsinstanz verflüchtigt sich. Erkennbar ist auch – zum Teil noch untergründig und im Anfangsstadium befindlich –, dass mit den realen verbreiterten Krisenerfahrungen Ansatzpunkte für kollektive Wahrnehmungen erkennbar werden, die als Potenzial für Vereinheitlichung des politischen Denkens interpretiert werden können. Das heißt, dass Solidarität und gemeinsames Handeln als Interpretationsleistung wieder neuen Boden gewinnen und durch politische Arbeit gefördert werden könnten. Übersehen wir vielleicht – wie des öfteren schon in der Geschichte (auch die Studentenrevolte kam aus heiterem Himmel) – relevante Mobilisierungsansätze?

2
Mobilisierungschancen hängen ganz wesentlich davon ab, ob die Kritik am Wirtschafts und Politiksystem als legitim vorgetragen werden kann mit dem Selbstbewusstsein des Einklagens der von diesem selbst eingebrachten Wohlstands und Gerechtigkeitsansprüche. Die politische Rechte hat möglicherweise das Legitimationsvakuum früher erkannt als die Linke. Sie hat als Krisenerfahrung zu verarbeiten, dass der Neoliberalismus seine Wohlfahrtsversprechen nicht einzulösen vermag. Ihren ideologischen Protagonisten muss es deswegen jetzt darum gehen, die normativen Prämissen zurückzunehmen, d.h. das Recht auf generalisierte Gleichwertigkeit aufzukündigen.

Meine Interpretation der Feuilleton-Debatte der vergangenen Monate von Sloterdijk, Bohrer u.a. ist: Der Gleichheits und Gerechtigkeitsanspruch wird destruiert. Das eigene elitäre Selbstverständnis wird offengelegt, die Geringschätzung, ja Verachtung der Masse wird nicht mehr verborgen. Damit soll einem solidarischen Gesellschaftsverständnis die Berechtigung entzogen werden. Zu diesem Zweck wird der Kritik an wachsender Ungleichheit und Ungerechtigkeit öffentlichkeitswirksam die Legitimität abgesprochen und sozialstaatliche Politik als leistungsfeindlich desavouiert. Diese ideologische Offensive wurde in ihrer Marschroute in dem Satz zusammengefasst: "Eine egalitätsorientierte Umverteilungsforderung nährt nur Unzufriedenheit, weil sie unerfüllbare Erwartungen weckt." (FAZ, 30.1.2010) Ohne Scheu wird die Verachtung der "Plebs" auf den politischen Markt getragen und die Klassengesellschaft nicht mehr als eine zu überwindende, sondern durchaus gerechtfertigte behauptet. So wird der ideologische Boden bereitet für die interessenspolitisch wohl kalkulierten Invektiven eines Guido Westerwelle, der die Existenzsicherung von Arbeitslosen wahlweise als Ausdruck spätrömischer Dekadenz oder sozialistischer Zwangsbeglückung denunziert. Die politische Stoßrichtung ist eindeutig: Der zur Bankenrettung in der Krise enorm angewachsene Schuldenberg des Staates soll primär vom gesellschaftlichen "Unten" abgetragen werden. Es gilt, aller Kritik an dieser Umverteilungspolitik den Boden der Berechtigung zu entziehen.

3
In dieser politischen Situation sind die Gewerkschaften neu herausgefordert. Es ist an ihnen, die Grundwerte unserer Gesellschaft – soziale Gerechtigkeit, Solidarität, Freiheit – zu stützen. Die politischen Parteien mit ihrem ramponierten gesellschaftlichen Ansehen können dabei nur noch wenig helfen. Wenn die Gewerkschaften den Anspruch einlösen wollen, über Einzelinteressen hinaus Verantwortung für das Gesamt der Gesellschaft zu übernehmen, müssen sie mit aller Kraft in den Kampf um die Hegemonie der politischen Ideen und gesellschaftlichen Normen eingreifen.

Auch wenn es in der Krise vordergründig naheliegt, dass Gewerkschaften sich auf ihr organisations- und tarifpolitisches Kerngeschäft konzentrieren, so wäre dies nicht nur eine höchst einseitige Wahrnehmung ihrer Aufgaben. Ohne massive politische Anstrengungen zur Revitalisierung eines sozialen Gesellschaftsverständnisses werden sie ihren Kernfunktionen immer weniger gerecht werden können und für ihren grundsätzlichen Politikansatz Unterstützung verlieren. Von Gewerkschaften werden umfassendere ökonomische und gesellschaftliche Deutungsangebote gefordert, Aufklärung über Ursachen und Profiteure der Krise und darüber, weshalb die Gesellschaft auseinanderbricht. Dabei müssen sie offen sein auch für Systemkritik und sie müssen ein Sprachrohr sein für jene sozialen Schichten, die nach jahrzehntelangen Erfahrungen mit Massenarbeitslosigkeit, Sozial und Demokratieabbau die Möglichkeit der Gesellschaftsveränderung nahezu aufgegeben haben. Ihnen in Zeiten großer Unsicherheit neues Zutrauen zu geben erfordert, den Umbau des Kapitalismus neu auf die Tagesordnung zu setzen, nicht in der Erwartung, ihn abzuschaffen, sondern ihn neu zivilisieren zu können. Der vom Vorsitzenden der IG BCE, Michael Vassiliadis, ins Spiel gebrachte "balancierte Kapitalismus" erscheint mir als Zielperspektive weiterführend. Solche Gewerkschaften stehen für weitreichende Initiativen der Befreiung in der Arbeit, erweiterte Demokratierechte in Betrieb und Wirtschaft, gegen die Diskreditierung des Sozialen, für ein egalitäres gesellschaftliches Grundverständnis und für ein Wohlfahrtsmodell, das auf umfassender sozialer Inklusion, sozialer Gerechtigkeit und gesellschaftlicher Solidarität gründet.

* * *

Noch gilt, dass die Krise die marktradikale Ideologie nur objektiv widerlegt hat; noch ist sie in ihrer Orientierungsfunktion keineswegs überwunden. Noch kann ihr die elitäre, massenfeindliche Umdefinition der Werte eine zweite Luft verschaffen. Doch die realen Krisenerfahrungen stützen die Glaubwürdigkeit der Gewerkschaften auch in der breiten Bevölkerung. Dabei gilt: Der Kampf um die Normen ist das Eine. Er wird wirkungsvoller, wenn er in einer glaubwürdigen kollektiven Handlungsperspektive mündet. Ein machbares Gegenkonzept liegt dafür allerdings noch nicht auf dem Tisch.

Michael Schumann ist Präsident des Soziologischen Forschungsinstituts Göttingen (SOFI). Überarbeiteter Beitrag auf dem Internationalen Symposium von Hans-Böckler-Stiftung, Etui und Universität Hamburg über: Gewerkschaften zwischen Prekarität und Casino-Kapitalismus. "'Jenseits der Beschlusslage' nach 20 Jahren – revisited", am 5./6. Februar 2010 in Hamburg.

[1] Jürgen Hoffmann/Reiner Hoffmann/Ulrich Mückenberger/Dietrich Lange (Hrsg.): Jenseits der Beschlusslage. Gewerkschaft als Zukunftswerkstatt. Köln 1990.
[2] Renate Köcher: Der Statusfatalismus der Unterschicht, in: FAZ vom 16.12.2009.
[3] "Keine Aussicht auf eine Repolitisierung in Zeiten der Krise." Claus Offe im Gespräch mit Gunter Hofmann und Wilhelm Heitmeyer, in: Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.): Deutsche Zustände. Folge 8. Berlin 2010, S. 283ff.

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