24. Januar 2019 Dierk Hirschel: Der Niedergang der SPD und was ihn aufhalten könnte
Die Hoffnung stirbt zuletzt
Der freie Fall der SPD setzt sich fort. Nach den letzten schweren Wahlniederlagen in Bayern und Hessen stürzen die Genossen weiter ab. Nach jüngsten Umfragen will nur noch jede/r siebte Wähler*in für die ehemalige linke Volkspartei stimmen.
Für die kommenden Europa- und Bremer Bürgerschaftswahlen gibt es wenig Hoffnung auf eine Trendwende. Aus der Krise ist eine Dauerkrise geworden.
Die SPD-Chefin Andrea Nahles versucht mit aller Kraft den Niedergang zu stoppen. Dafür soll zunächst das Erscheinungsbild der Großen Koalition verbessert werden. Das wollen auch ihre konservative Amtsschwester Annegret Kramp-Karrenbauer und der neue CSU-Vorsitzende Markus Söder, denen der offen ausgetragene Asylstreit nur geschadet hat. Zudem soll das Profil der roten Regierungsmannschaft geschärft werden. Deswegen stellen die sozialdemokratischen Minister*innen ihre Gesetzesinitiativen ins Schaufenster (Sozialer Arbeitsmarkt, Qualifizierungschancengesetz, Gute-KiTa-Gesetz, Starke-Familien-Gesetz etc.).
Gleichzeitig streitet Nahles für die Erneuerung der Partei – mit Debattencamps, Diskussionsforen und Steuerungsgruppen. Anfang November letzten Jahres hat die SPD-Vorsitzende eine Grundsatzdebatte über die Zukunft des Sozialstaates losgetreten. Auf einem Debattencamp kündigte sie an, Hartz IV überwinden zu wollen und eine große Sozialstaatsreform in Angriff zu nehmen.[1] Der Sozialstaat soll künftig aus der Perspektive derjenigen gestaltet werden, die den Sozialstaat brauchen. Nahles will, dass weniger Menschen auf Grundsicherung angewiesen sind. Deshalb soll die Schutzfunktion der Arbeitslosenversicherung verbessert und ein Rechtsanspruch auf berufliche Weiterbildung geschaffen werden. Geringverdienende Beschäftigte sollen mehr Netto vom Brutto bekommen und der Mindestlohn soll steigen. Zudem soll das Wohngeld erhöht und eine eigenständige Kindergrundsicherung eingeführt werden. Mithilfe eines sozialen Arbeitsmarktes soll künftig Arbeit und nicht Arbeitslosigkeit finanziert werden. Darüber hinaus sollen das Schonvermögen erhöht und die Sanktionen entschärft werden. Das Existenzminimum darf nicht mehr infrage gestellt werden.
Das sind neue Töne. Die SPD-Chefin fordert erstmals keine kleinen Reformen im Hartz-IV-System, sondern eine Reform am System. Wenn das ernst gemeint ist, käme das einem Paradigmenwechsel sozialdemokratischer Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik gleich. Denn das bisherige Sanktionsregime, die verschärften Zumutbarkeitsregeln und die niedrigen Regelsätze machen Hartz IV zu einer wichtigen institutionellen Stütze des heimischen Niedriglohnsektors. Wer heute seinen Job verliert, dem droht nach kurzer Zeit der Sturz in den Armutskeller. Das macht ganze Belegschaften erpressbar. So wird gewerkschaftliche Verhandlungsmacht massiv geschwächt. Nur eine Reform am System kann das ändern.
Der öffentlich ausgetragene innerparteiliche Streit über Nahles sozialpolitischen Aufschlag zeigt aber beispielhaft, warum die SPD gegenwärtig nicht in der Lage ist, ihre Krise zu überwinden. Wenige Tage nach dem inhaltlichen Aufschlag der SPD-Vorsitzenden kritisierte der Chef der Bundesarbeitsagentur Detlef Scheele die Forderung nach einer Abschaffung von Hartz IV als brandgefährlich.
Dierk Hirschel ist Mitglied der SPD-Grundwertekommission und Gewerkschaftssekretär bei ver.di.
[1] Andrea Nahles: Für eine große Sozialstaatsreform, FAZ vom 17.11.2018.