26. August 2010 Red. Sozialismus: Die Herausforderungen für die politischen Lager

Krisenüberwindung?

Kategorie: Ökonomie

Viele sprechen nach einem bislang imposanten Wirtschaftswachstum im Jahr 2010 von einem XL-Aufschwung in Deutschland und dem Ende der Krise – da lassen jüngste Ergebnisse einer vergleichenden Meinungsumfrage der Bertelsmann-Stiftung aufhorchen.

Angesichts der Folgen der Wirtschafts- und Verschuldungskrise plädieren neun von zehn Befragten für eine neue Wirtschaftsordnung mit stärkerer Berücksichtigung des Umweltschutzes, einem sorgsameren Umgang mit Ressourcen und sozialem Ausgleich in der Gesellschaft. Fast ebenso viele Befragte plädieren daneben auch für eine Veränderung auf individueller Ebene: 81% sprechen sich dafür aus, dass jeder seine Lebensweise dahingehend überdenken sollte, ob wirtschaftliches Denken – »Geld und Besitz zu mehren« – alles für ihn ist. Auf die so genannten Selbstheilungskräfte der Märkte bei der Lösung der Probleme, die durch die Wirtschafts- und Verschuldungskrise hervorgerufen wurden, vertraut hierzulande nur noch gut jeder Vierte.

In diesen Zustimmungswerten reflektiert sich, dass viele BundesbürgerInnen die Euphorie der Banker und des Bundeswirtschaftsministers über das neue deutsche »Wirtschaftswunder« nicht teilen. Aus der Erfahrung der letzten Jahre wissen sie, dass bei ihnen davon nicht viel ankommen wird: »Selbst bei einer anziehenden Konjunktur verbänden nur ein Drittel der Befragten noch die Hoffnung auf eine Verbesserung ihrer privaten Lebensqualität.« [1]

Auch wenn der Verlauf der »Großen Krise« in Deutschland seit dem Herbst 2008 nicht von anhaltenden oder sich gar radikalisierenden sozialen Protesten begleitet war und sich die kurzzeitig aufblitzende »Systemfrage« schon wieder »gemäßigt« auf die Frage nach der Partizipation am Aufschwung auf Seiten der abhängig Beschäftigten, Prekarisierten und sozial Ausgegrenzten verschoben hat, unterstreichen alle bisherigen Meinungsumfragen einen anhaltenden Legitimationsverlust einer »sozialen Marktwirtschaft«: Denn auch diese neueste Bertelsmann-Umfrage bestätigt den Befund des Deutschen Bankenverbandes, dass eine Mehrheit der Bevölkerung hierzulande nicht mehr davon ausgeht, dass die Gewinne aus Wertschöpfung in erster Linie zur Re-Investition, damit zu Ausbau und Sicherung wirtschaftlicher Reproduktion und Kontinuität dienen, sondern dass sie in den »schwarzen Löchern« des Finanzmarktes verschwinden. [2]


Schwarz-Gelb – Fehlstart überwunden?

Dieses Meinungsklima erklärt, warum das bürgerliche Lager trotz Aufschwungs im Umfragetief verharrt. Schwarz-Gelb wird in den kommenden Monaten alles daran setzen, diese wirtschaftliche Erholung als »unseren Aufschwung« zu verkaufen, um so das Vertrauen der Bürger in ihre Politik spätestens bis 2013 wieder zurückzugewinnen. Aber diese Politik basiert nicht auf einem selbst nach bürgerlichen Maßstäben hegemoniefähigen Projekt einer Erneuerung des Kapitalismus mit hoher gesellschaftlicher Inklusion, sondern ist bloße Konsolidierungspolitik – und dies auf sozial-ökonomisch widersprüchlicher Grundlage, wie sich bei zentralen Vorhaben der Bundesregierung zeigen lässt.

  • So ist in der Auseinandersetzung um die Verlängerung der Laufzeiten bei den Kernkraftwerken der Ausstiegskompromiss von der Atomlobby, Mehrheiten in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und in den entsprechend regierten Bundesländern bereits vor längerer Zeit in Richtung einer Bestandsgarantie für die Atomindustrie aufgekündigt worden. Aber selbst die Brennelementesteuer, die Schwarz-Gelb an anderer Stelle als Placebo einer angeblich sozial austarierten Sparpolitik der Bevölkerung zu verkaufen sucht, ruft Proteste im Unternehmerlager hervor. Ob so das Plädoyer für eine »Brückentechnologie« als langfristiger Übergang in den Ausbau regenerativer Energie von einer Mehrheit der Bevölkerung angenommen wird, darf gerade vor dem Hintergrund der eingangs zitierten Meinungsbefunde bezweifelt werden.
  • Neben dem zögerlichen Ausstieg aus dem Bundeswehreinsatz in Afghanistan (siehe hierzu den Beitrag von Uli Cremer) steht Schwarz-Gelb insgesamt vor einer Neudimensionierung des militärischen Potenzials. Vorschläge einer Aussetzung der Wehrpflicht bis hin zur Reduzierung der Rüstungsetats sind nicht unumstritten und werden auch hier die Lobby der Rüstungsindustrie auf den Plan rufen.
  • Die schwarz-gelbe Koalition hat ein massives Spaltungs-Sparpaket auf den Weg gebracht, das vor allem die BürgerInnen trifft, die von Sozialtransfers existieren müssen oder wegen ihrer prekären Beschäftigungsverhältnisse auf ergänzende staatliche Leistungen angewiesen sind (siehe die Beiträge von Joachim Rock, Bernhard Müller und Rudolf Stumberger). Die Gesundheits»reform« ist nach dem gleichen Muster gestrickt: soziale und politische Ausgrenzung. Das bürgerliche Lager wird versuchen, mit dem Aufschwung die soziale Schieflage seiner Sparpolitik in den Hintergrund zu drängen und jegliche Kritik am Sparpaket als Gefährdung der Konsolidierungspolitik zu stigmatisieren.
  • Und selbst der Übergang auf eine Exit-Politik aus Staatsinterventionen und Konjunkturprogrammen 2009, den Schwarz-Gelb mit ihrer unsozialen Haushaltssanierungspolitik jetzt eingeleitet hat, ist innerhalb des bürgerlichen Lagers keineswegs unumstritten. Expansive Geldpolitik und niedrige Zinssätze seitens der Notenbanken markieren keine qualitativ-strukturelle Krisenlösung, deshalb behalten sich die Notenbanken und Regierungen in Japan und den USA, teilweise auch in Europa, die Vertagung einer Exit-Strategie vor und schließen für ihre Länder selbst weitere Konjunkturprogramme nicht aus.


Rot-grüner Hype?

Das Konsolidierungsvorhaben von Schwarz-Gelb steht trotz wirtschaftlicher Erholung weder ökonomisch noch hegemoniepolitisch auf einer stabilen Grundlage. Mit der Exit-Politik wird eine »Sozialdemokratisierung der CDU« Makulatur. Im Gegenzug wünscht sich in den Umfragen eine Mehrheit der Wahlbevölkerung gegenwärtig eine rot-grüne Alternative zur schwarz-gelben Austeritätspolitik. Die Grünen, die noch in Gestalt der schwarz-grünen Koalition in Hamburg die Möglichkeit einer Zivilisierung der Konservativen und damit eine progressive bürgerliche Formation mit den Grünen als treibender Kraft für die weitere politische Zukunft nicht ausgeschlossen hatten, nehmen nun eine Rechtsentwicklung in der Union wahr. Der Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bundestag, Jürgen Trittin, verweist dabei vor allem auf die Familien- und Umweltpolitik sowie auf Entwicklungen auf kommunaler Ebene. »Modernisierungsversuche der CDU unter der Vorsitzenden Angela Merkel in der Familien- und in der Umweltpolitik sind brutal gestoppt worden. Das Elterngeld wird für die Ärmsten der Armen zusammengestrichen, aber Hausfrauen sollen es weiter kriegen. Da entfernt sich die CDU von der Mitte der Gesellschaft und damit auch von den Grünen.« Auch die Aufkündigung des Ausstiegskompromisses mit der Atomindustrie »ist schon ein Ruck nach rechts... Wahrscheinlich heißt das am Ende, dass wir eine stärkere Gewichtung haben werden für rot-grüne Zusammenarbeit.« [3]

Dem Ansinnen einer Neuauflage von Rot-Grün seitens der Grünen fehlt jedoch ein entsprechendes gesellschaftliches Projekt. Angesichts der Koinzidenz von Wirtschafts-, Finanz- und Umweltkrise profitieren die Grünen zwar von dem herausgehobenen Stellenwert von Umweltkatastrophen und Ressourcen- und Wachstumskrise im Alltagsbewusstsein, dem sie programmatisch flexibel – sei es beim Atomausstieg oder Stuttgart 21 – jederzeit Rechnung tragen können. Aber es ist von Seiten der Grünen kein Konzept eines Green New Deal erkennbar, das an die strukturellen Gründe der kapitalistischen Wirtschafts- und Finanzmarktkrise herangeht. Und auch die Entscheidung der Hamburger GAL für eine Fortsetzung der Koalition mit einer nach rechts verschobenen CDU zeigt, dass hier nicht strategisch-konzeptionell, sondern unter personalpolitischen Gesichtspunkten und machtpolitischer Kontinuität für einen Sonderweg votiert wurde. Anderswo im Land blinken die Ampeln deutlich Rot-Grün, das wird selbst in Kreisen von CDU-Politikern so gesehen. Armin Laschet, bis vor kurzem CDU-Minister und Kandidat für den Landesvorsitzenden in Nordrhein-Westfalen, konstatiert: »Im Fünf-Parteiensystem muss die CDU offen sein für Bündnisse mit allen außer der Linkspartei… Mein Eindruck ist, dass wir einen Linkstrend erleben: Rot-Grün will mit Duldung der Linkspartei Stück für Stück in den Ländern und dann 2013 auch im Bund eine linke Mehrheit herstellen. Das muss bürgerlichen Wählern der Grünen bewusst sein.«

Neueste Umfragen bestätigen, dass die Chancen für Rot-Grün in der Tat nicht schlecht stehen. Nach einer Allensbach-Umfrage könnten SPD und Grüne gegenüber der letzten Bundestagswahl mit Zuwächsen und derzeit einer Mehrheit auch ohne Einbezug der LINKEN rechnen. Wieweit dieser »Linkstrend« trägt, muss freilich auch bezogen auf die SPD mit Fragezeichen versehen werden. Diese hat zwar sukzessive etliche Korrekturen an ihrer Agenda-Politik vorgenommen (Mindestlohn, Leiharbeit, Vermögens- und Einkommenssteuer sowie aktuell Rente mit 67), zugleich jedoch erhebliche Widerstände in den eigenen Reihen und ein Glaubwürdigkeitsproblem zu verzeichnen – der Formelkompromiss bei der Rente mit 67 ist ein Ausdruck dieser Konstellation (siehe hierzu den Beitrag von Richard Detje). Nach wie vor ist seitens der Sozialdemokratie keine Konzeption für eine »neue Wirtschaftsordnung« erkennbar, die Maßnahmen gegen die soziale Spaltung verbindet mit einer Erneuerungsper­spektive für Wirtschaft und Gesellschaft. Zudem muss sich der »Kurswechsel« in den vielen Landtagswahlen des nächsten Jahres erst noch bestätigen.



Verblassen der LINKEN?

Nicht zum »Linkstrend« passen ferner die anhaltenden Versuche, DIE LINKE aus einem gesellschaftlichen Reformbündnis auszugrenzen und zu marginalisieren. DIE LINKE selbst liefert dazu allerdings gegenwärtig mit ihren parteiinternen Auseinandersetzungen um manipulierte Wahllisten und die Bezahlung ihres Spitzenpersonals diverse Vorwände. Die Ursachen einer drohenden Marginalisierung der LINKEN im politischen Feld sind allerdings vielfältiger: Die Vertretung sozialer Interessen der Transferökonomie in den neuen Bundesländern in Kombination mit dem rebellischen Potenzial der Hartz IV-Proteste und gewerkschaftlichen Kämpfen gegen die Absenkung des Werts der Arbeitskraft wurde zu einer politisch dezidierten »Wahlalternative« verschmolzen. Dies war bis zur Bundestagswahl im Herbst 2009 erfolgreich und konnte zu einer Konzeption des Politikwechsels verdichtet werden. Es gelang jedoch nicht, den Verlauf der Wirtschaftskrise, vor allem die Sonderentwicklung in Deutschland und die daraus resultierenden Verschiebungen im politischen Feld (Renaissance von Rot-Grün), in Deutungsangeboten für die Mitgliedschaft und potenziellen LINKEN-WählerInnen zu kommunizieren. Hier macht sich geltend, dass die wiederholten Aufforderungen des früheren Vorsitzenden Oskar Lafontaine an seine Partei, sich ein Verständnis des Finanzmarktkapitalismus anzueignen, um daraus strategische Orientierungen für den Umgang mit dem bürgerlichen Lager und einer »geläuterten« Sozialdemokratie zu erhalten, innerparteilich nicht aufgegriffen wurden. So droht auch die Programmdebatte ins Leere zu laufen, und es ist fraglich, ob DIE LINKE in den Landtagswahlen im Jahr 2011 und den sich abzeichnenden politischen Rochaden von Schwarz-Gelb oder Rot-Grün der Forderung nach einem Politikwechsel eine eigenständige Kontur geben kann.


»Gerecht geht anders«

Angesichts nach wie vor krisenhafter weltwirtschaftlicher Rahmenbedingungen ist offen, wie nachhaltig die wirtschaftliche Erholung in Deutschland ausfallen wird. Das berechtigte Aufbegehren gegen die Politik von Schwarz-Gelb bündelte sich in zivilgesellschaftlichen und gewerkschaftlichen Protesten, angefangen von der Bewegung »Wir zahlen nicht für eure Krise« im Frühjahr 2009 und den Kundgebungen in Stuttgart und Berlin im Juni 2010, die im Herbst in weiteren Protest­aktionen unter dem Motto »Gerecht geht anders« in breiter Trägerschaft fortgesetzt werden. Damit bildet sich unterhalb des professionellen politischen Feldes eine breite Sensibilität gegen die massive soziale Asymmetrie heraus. Dies fördert die Handlungsfähigkeit der betroffenen sozialen Akteure und ihre Kompetenz, Übergangsforderungen zu einem Politikwechsel hin zu einer solidarischen Ökonomie zu bündeln und zunächst unabhängig von den parteipolitischen Positionierungen einzufordern. Die Zukunftsfähigkeit von Rot-Grün und insbesondere der LINKEN wird sich daran entscheiden, ob und wie es ihnen gelingt, gegenüber einer kurzfristigen ökonomischen Erholung sensibel für die tieferliegenden sozialen Ungerechtigkeiten zu bleiben, sich von diesem Protestpotenzial für die eigene Arbeit inspirieren zu lassen und so die politische Repräsentanz von Lohnarbeit, Prekarisierung und Ausgrenzung – unabdingbarer Bestandteil einer zivilgesellschaftlich verankerten und zugleich politikfähigen Mosaik-Linken – befördern zu können.

[1] Bertelsmann Stiftung, Umfrage: Bürger wollen kein Wachstum um jeden Preis, Pressemeldung, Gütersloh, 19.08.2010.
[2] Bankenverband (2009): Deutschland im Wahl- und Krisenjahr. Ergebnisse repräsentativer Meinungsumfragen im Auftrag des Bundesverbands deutscher Banken, November, Berlin.
[3] Trittin im Gespräch mit der FAZ vom 16.8., S. 2.

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