1. Januar 2009 Redaktion Sozialismus
Die "Jahrhundertkrise": Stunde der politischen Linken?
Das Ende der Finanzkrise ist gegenwärtig nicht absehbar. Wie sollte es auch: Die Globalökonomie steckt in einer Jahrhundertkrise. Sie kann nicht mehr aufgehalten, sondern bestenfalls abgemildert werden. Verhindert werden könnte allerdings, dass sich aus der schweren Rezession eine langjährige Depression entwickelt.
"Dass jetzt konservative Zentralbanker die Verstaatlichung des gesamten Bankensystems diskutieren, zeigt den ganzen Irrsinn des Systems: Erst nehmen die Banken die Bürgerinnen und Bürger aus, indem sie wahnwitzige Renditen erzwingen und sich unglaubliche Gehälter leisten. Und am Ende ist der Staat gezwungen, einzugreifen, damit diese Spielsüchtigen nicht das ganze System zugrunde richten."[1] Weder die Europäische Zentralbank (EZB) noch der überwiegende Teil der politischen Klasse in Deutschland haben begriffen, dass ein massives Gegensteuern notwendig ist. Sie wollen nicht zur Kenntnis nehmen, dass sie dieses Mal nicht mehr auf die USA als Lokomotive der Weltwirtschaft setzen können, sondern selbst über eine Expansion der Nachfrage den Binnenmarkt entwickeln müssen. Viel zu lange zögerte die EZB, die Zinsen rasch und nachhaltig zu senken. Gerade die deutsche Regierung versucht sich mit einer "Politik der ruhigen Hand" zu profilieren – in der Hoffnung, die Verschuldung des öffentlichen Sektors in Grenzen halten zu können. Viel zu lange wurde aufgrund einer Inflationsrate von 3% der Zins hochgehalten, obwohl inzwischen jeder weiß, dass die Inflation bei fallenden Rohstoffpreisen auch im kommenden Jahr weiter zurückgehen wird. Anders stehen die Verhältnisse in den USA: Notenbank und Staat setzen rasch ihre Möglichkeiten ein, die Finanzkrise unter Kontrolle zu bekommen und die massive Schrumpfung der Ökonomie einzudämmen.
Der finanz- und wirtschaftspolitische Hoffnungsträger der Sozialdemokratie, Peer Steinbrück, behauptet, in dieser Krise gehe das Gefühl für die Größe der Zahlen verloren. "Erst waren wir hypnotisiert von einem Konjunkturprogramm in den USA in dreistelliger Milliardenhöhe. Dann fiel die gewaltige Zahl von einer Billion Dollar. Alle waren begeistert. Jetzt wird wieder über 600 Milliarden Dollar geredet. Und nun ist die halbe Welt fast schon enttäuscht. Und bei uns sind über 38 Milliarden Euro nur eine Nullnummer, die dann politisch und medial in abenteuerliche Dimensionen hochgejazzt wird. Das ist doch irre."[2] Aber genau so irre ist sein Kurs, erst den weiteren Krisenverlauf nach unten hin ausloten zu wollen, statt von vornherein kraftvoll gegenzusteuern.
In der Tat: Steinbrück ist nicht Brüning. "Anders als die Regierung Brüning sparen wir uns zum Beispiel nicht in den Abgrund, sondern wir steuern bewusst dagegen – und zwar international abgestimmt." Letzteres darf bestritten werden. Auch diese Krise wird von den politischen Akteuren unterschätzt. Steinbrück hat "ein Problem damit, die Inlandsnachfrage zulasten einer exzessiven Staatsverschuldung auszuweiten, ohne dass damit positive Effekte über den Konjunkturzyklus hinaus verbunden sind. Die Krise wurde maßgeblich durch eine übergroße Kreditfinanzierung in den USA verursacht." Er will diesen Fehler nicht wiederholen und trägt damit dem Problem der nun krisenverschärfenden Ausrichtung der bundesdeutschen Ökonomie auf die Exportmärkte nicht Rechnung.
Notwendig ist ein massives Förderungsprogramm für öffentliche Ausgaben und Investitionen. Schon beim Vorschlag, allen BezieherInnen von Sozialtransfers ein zusätzliches Einkommen zu gewähren, zeigen sich die Schranken der politischen Kräfteverhältnisse. Eine Aufstockung der Bezüge für Hartz IV-Betroffene wäre finanziell möglich und wirtschaftspolitisch sinnvoll. Allein, nicht einmal der bescheidene Vorschlag des früheren SPD-Vorsitzenden Beck, diesen sozial ausgegrenzten BürgerInnen ein zusätzliches 13. Monatseinkommen zuzugestehen, ist in der Sozialdemokratie mehrheitsfähig. Es bleibt also wie in der Vergangenheit bei der völlig unzureichenden Logik, mit Blick auf die öffentlichen Finanzen einen Kurs der Lohn- und Einkommenszurückhaltung zu verfolgen.
Ganz ohne Realisierungschancen sind gegenwärtig (noch) Vorschläge, nach der unumgänglichen ersten Reaktion auf die gefährliche Mischung aus Finanz- und Wirtschaftskrise zu einer Beseitigung der gesellschaftlichen Grundlagen für die finanzmarktgetriebene Kapitalakkumulation überzugehen. Das Motto dieser weiterreichenden Gesellschaftsreform lautet: Das Finanzkasino schließen!
Der Staat darf, nachdem er wieder einmal Banken und andere Finanzinstitute vor dem Schlimmsten bewahrt hat, nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. "Kredite für die wirklich investierenden Unternehmen können auch Banken schaffen, die sich solcher Kasinoaktivitäten vollständig enthalten. Man sollte nicht vergessen, dass es zu Zeiten des deutschen Wirtschaftswunders noch selbstverständlich war, das Zinsgebaren der Banken streng zu kontrollieren. Auch ein Land wie China hat sein noch größeres Wirtschaftswunder bei strenger Kontrolle des Staates über Soll- und Habenzinsen geschafft. Begreifen kompetente Wirtschafts- und Finanzpolitiker nun solche Zusammenhänge wieder, ist es ein Leichtes, die eklatanten regulatorischen Lücken zu schließen. Auch die Lücken in der internationalen Finanzaufsicht sind offensichtlich. Die besten Vorschriften über die Hinterlegung von Bankaktivitäten mit Eigenkapital, wie sie beispielsweise bei der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich formuliert werden, nutzen nichts, wenn die Einschätzung von Risiken allein einer kleinen Gruppe von Ratingagenturen überlassen wird... Schließlich muss das größte Kasino – dasjenige nämlich, in dem internationale Währungen gehandelt werden – schlicht geschlossen werden."[3] Es wäre unter Rückgriff auf frühere Praktiken und Erfahrungen möglich, ein qualitativ neues Regulationssystem für den Finanzsektor zu etablieren. Im Prinzip hat diese Agenda für eine gesellschaftliche Kontrolle der Finanzmärkte auch schon einen Namen: Bretton Woods II. Allerdings nicht mit den kümmerlichen Reformen, die die Metropolen der G7 für IWF und Weltbank vorsehen, sondern in Anknüpfung an Keynes’ Programm der Neuordnung der internationalen Wirtschafts- und Währungsordnung ("Bancor").
Nicht die Inhalte der Alternativen sind unser Problem. Die Schlüsselfrage lautet: Wie schafft man die dafür erforderlichen politischen Kräfteverhältnisse. Zwar ist die Mehrheit der politischen Klasse gleichsam blitzartig von der über Jahrzehnte vertretenen Deregulierungs- und Privatisierungspolitik zu einem Staatsinterventionismus zurückgekehrt. Aber die für den Neoliberalismus charakteristische Geschichtsblindheit hat sich nicht verflüchtigt. Insofern hat der Nobelpreisträger für Wirtschaft, Paul Krugman, Recht: "Wir zahlen jetzt den Preis für unsere vorsätzlich Amnesie. Wir haben es vorgezogen, zu vergessen, was in den dreißiger Jahren passiert ist. Und weil wir uns geweigert haben, aus der Geschichte zu lernen, wiederholen wir sie jetzt."
Die Einsicht, die die Mehrheit der Bevölkerung unter dem Einfluss des Neoliberalismus vergessen hat, lautet schlicht: Unregulierte, unbeaufsichtigte Finanzmärkte versagen katastrophal. Im Zusammenspiel von neoliberal geprägter Ökonomie und Politik wurden die BürgerInnen in den zurückliegenden Jahrzehnten in der Auffassung bestärkt, dass man künftig nicht mehr allein von Lohnarbeit existieren könne und dass eine zusätzliche Sicherung der Existenz durch Finanzmarktprodukte unvermeidlich sei. "Lassen Sie ihr Geld arbeiten!" hieß die Parole, was in der Konsequenz zur Deregulierung wesentlicher sozialer Sicherungssysteme führte. So wurde das System der Alterssicherung untergraben, indem den BürgerInnen eine höhere Rendite auf ihre kapitalgedeckten Rentenansprüche versprochen wurde.
Der Schwachsinn eines "finanzmarktgetriebenen Kapitalismus" erhielt seine Ausstrahlungskraft durch den vereinfachten oder erleichterten Zugang zu Krediten (sei es für Immobilien, Autos oder Kreditkarten), durch die Deregulierung der sozialen Sicherungssysteme und durch eine die höheren Einkommen und Vermögen begünstigende Steuersenkungspolitik. Insofern läuft die Alternative zur finanzmarktgetriebenen Kapitalakkumulation eben nicht einfach nur auf die gesellschaftliche Kontrolle des Banken- und Finanzsystems hinaus, sondern unterstellt einen weitreichenden Prozess gesellschaftlicher Reformen von der sozialen Sicherheit bis hin zur Steuer- und Vermögenspolitik.
Damit wird auch erklärbar, warum der Ausbruch der Krise nicht blitzartig die Stunde der Linken sein kann: Die Hegemonie des Neoliberalismus wäre ohne den Beitrag der europäischen und bundesdeutschen Sozialdemokratie nicht möglich gewesen. Müntefering hat Recht, wenn er auf die Zerrissenheit und den Niedergang der Partei anspielt, wofür die Parteiaustritte von Oskar Lafontaine bis Wolfgang Clement nach unterschiedlichen Richtungen hin stehen. Die linke Linke hat den Neoliberalismus nicht nur innerhalb der Sozialdemokratie, sondern auch in Teilen der Gewerkschaften, der Sozialverbände und anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren bis hin zur Diakonie und hauptamtlichen Kirchenvertretern kritisiert, um die Herausbildung einer breiteren anti-neoliberalen Formation zu befördern.
Die Folgewirkungen der teilweisen Einbindung dieser Akteure in neoliberale Politik und der innerparteiliche Schaden bei der SPD beeinträchtigt immer noch ein solches politisch-emanzipatorisches Projekt. Denn soll jetzt eine weiterreichende Gesellschaftsreform eingeleitet werden, die ernst damit macht, das Finanzkasino zu schließen, bedeutet das für die Sozialdemokratie und Teile der Sozialverbände und Gewerkschaften eine wirkliche Umkehr und Rücknahme bisheriger neoliberaler Zugeständnisse.
Dieser schwierigen Neuorientierung bei Teilen eines anti-neoliberalen Blocks muss die politische Linke Rechnung tragen. Nach dem politisch-ökonomischen Fiasko des Neoliberalismus stellt sich für sie bezogen auf eine "zwischen autoritärer und partizipatorischer Demokratie"[4] zerrissenen Sozialdemokratie eine differenzierte Aufgabe: einerseits Kritik eines die Finanzmarktakteure hofierenden sozial prekären Strukturwandels, für den die regierende Sozialdemokratie Verantwortung trägt, andererseits Beförderung einer reformpolitischen Neuorientierung von Teilen der SPD.
Das "Drama" von Hessen ist, dass letzteres in der SPD sowohl von den rechten Flügeln der Partei wie von ihren Vertretern in der Bundesregierung abgeblockt wurde. Mehr noch: Das "Drama" der SPD besteht darin, dass sie sich in einer Zeit neoliberal profilierte, in der sich die Christdemokraten mehrheitlich liberal modernisierten und damit die Schnittstellen zu den sozialstrukturell im bürgerlichen Milieu etablierten Grünen vergrößerten. Peter/Vester bilanzieren: Während sich in der SPD "eine konservative Interessenkoalition durchgesetzt" hat, hat in der Union "nach 2005 der moderne Flügel der Einsicht Geltung verschafft, dass auch ihre eigene bürgerliche Klientel eine moderne Familien-, Geschlechter-, Ökologie-, Bürgerrechts- und Ausländerpolitik braucht. Die CDU/CSU in Hamburg, Hessen und Bayern wandte sich nach dem Scheitern von Neuauflagen autoritärer Politik ihrer ergrünten Stammklientel oder gar Bündnissen mit den linksbürgerlichen ›Grünen‹ zu."[5]
Die SPD "ist von extremer Zerrissenheit geprägt. Dies war Anfang des Jahres anders. Im Januar nahmen lediglich 35% der Bevölkerung die SPD als zerstrittene Formation wahr. Nach der Hessen-Wahl breitete sich dieser Eindruck geradezu epidemisch in der gesamten Republik aus: Anfang Februar empfanden 43% der Bevölkerung die SPD als zerstritten, Anfang März bereits 60%. Seither ist es der Partei nicht gelungen, diesen Eindruck zu korrigieren... Die SPD-Führung steht vor der Aufgabe, Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen, die Partei nach den inneren Zerreißproben wieder zu einen und die Entfremdung von den eigenen Anhängern aufzuhalten, unter der die Partei leidet, seit sie sich in der rot-grünen Koalition zu Sozialstaatsreformen gezwungen sah. Die Hälfte der Bevölkerung hat den Eindruck, dass sich die SPD programmatisch immer mehr von ihrer Anhängerschaft entfernt. Dies wäre für die SPD nicht beunruhigend, wenn nicht auch die eigene Anhängerschaft in hohem Maße diesen Befund teilte. 38% der Anhänger der SPD halten ihn für zutreffend, 33% widersprechen, 29% enthalten sich der Stimme."[6]
Die europäische Sozialdemokratie muss sich entweder als Partei der Regulierung des Kapitalismus politisch neu erfinden oder sie wird wegen der Entwicklung ihrer inneren Widersprüche qualvoll und in langwierigen Selbstzerstörungsprozessen als politischer Faktor noch mehr an Bedeutung verlieren als im letzten Jahrzehnt.
DIE LINKE sollte ihre Selbst- und Siegesgewissheit zurückdrängen, wenn schon auf diese politische Untugend nicht ganz verzichtet werden kann. Dies umso mehr, als Teile der Partei sich angesichts der Jahrhundertkrise erneut in einer unreflektierten Verstaatlichungsrhetorik, die die veränderten gesellschaftlichen Bedingungen des Finanzmarktkapitalismus und die Erfahrungen mit dem Niedergang des Realsozialismus vollständig ignoriert, zu verlieren drohen.
Es ist für DIE LINKE allerdings wesentlich leichter als für die SPD, "sich im eigenen Anhängerkreis als Anwalt der kleinen Leute und Speerspitze sozialer Gerechtigkeit darzustellen. 59% der Anhänger der SPD, aber 82% der Anhänger der Linken sehen ihre jeweilige Partei als Anwalt ›des kleinen Mannes‹, 52% der Anhänger der SPD und 79% der Anhänger der Linken als Kämpfer für soziale Gerechtigkeit... Die Siegessicherheit der Anhänger der Linken steht in auffallendem Gegensatz zur Stimmungslage der SPD-Anhänger. 89% der Anhänger der Linken nehmen an, dass ihre Partei künftig an Bedeutung gewinnen wird, dagegen tut dies nur knapp jeder zweite SPD-Anhänger."[7]
Allerdings: Nicht DIE LINKE, sondern nur ein breites gesellschaftliche Bündnis von verschiedenen sozialen und politischen Kräften kann in einem historischen Block die Kraft für eine Politik des Aufräumens mit dem durch das Fiasko des Neoliberalismus angerichteten gesellschaftlichen und politischen Schaden entwickeln. Die für das Frühjahr angekündigten Aktionen – von lokalen Initiativen vor Ort über den Attac-Kapitalismus-Kongress Anfang März bis hin zur geplanten Großdemo Ende März – könnten der Auftakt für eine solche nachhaltige Veränderung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse sein.
[1] Heiner Flassbeck, Die Panik im Finanzkasino und ihre Folgen, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 11/2008, S. 39.
[2] Peer Steinbrück, Interview Welt online, 20.12.2008.
[3] Flassbeck, a.a.O., S. 38.
[4] Vgl. Horst Peter/Michael Vester, Das "neoliberale Modell Deutschland" der SPD-Führung ist in der Krise, in: SPW 8/2008, S. 51-56.
[5] Ebd., S. 52.
[6] Renate Köcher, Nach dem Sündenfall. In:FAZ, 17.12.2008, S. 5.
[7] Ebd.