21. Dezember 2012 Christina Frank: Das ver.di-Dorfladenprojekt »Drehpunkt«

Die Läden sind zu, die Schlecker-Frauen aber bleiben …

25.000 arbeitslose Frauen sind am Ende der Schlecker-Pleite im Sommer 2012 ungefedert auf dem überlaufenen, von zunehmend prekären Angeboten gekennzeichneten Arbeitsmarkt im Handel aufgeschlagen.

Regulierte Arbeitserfahrung & deregulierter Arbeitsmarkt

Die typische Schlecker-Frau bei ver.di Stuttgart ist ca. 50 Jahre alt, hat mit ihrem Einkommen bisher allein oder überwiegend für sich und ihre Angehörigen gesorgt, war langjährig beim Drogisten beschäftigt, vielfach ohne oder mit lang zurückliegender Berufsausbildung, häufig mit Migrationshintergrund, meist organisiert. Um bestehen zu können, mussten sie allein eine Filiale organisieren und alle Arbeiten bewältigen können.

Im ver.di-Bezirk Stuttgart war nach langwierigen Auseinandersetzungen mit Schlecker-Tarif bezahlt worden, auf Basis von überwiegend Zwangsteilzeitverträgen wurde dennoch niemand reich. Acht Betriebsratsgremien sorgten am Schluss für geregelte Arbeitsbedingungen, getragen von einer Gruppe von selbstbewussten Frauen, die ihre Würde gegen Übergriffe von Vorgesetzten verteidigen konnten und die an den befreienden Nutzen von solidarischem Handeln glaubten. Während der Insolvenzphase gaben viele der Stuttgarter Frauen dem Überlebenskampf in den Medien Gesicht und Stimme. Von diesen Frauen arbeiten nun viele im ver.di-Nahversorgungsprojekt mit.

Für die Beschäftigten im Handel sowie gewerkschaftlich ist die Diskussion darüber, ob der Tarif nicht unwesentlich am Niedergang von Schlecker schuld sei, eine große Herausforderung. Deshalb soll es hier darum gehen, die eigentlichen Ursachen – nämlich Misswirtschaft des Inhabers, fehlende Kompetenz der Manager und jahrzehntelange Verweigerung von Investition und Wandel – als Verursacher der Insolvenz ins rechte Licht zu setzen. Eine Gewerkschaft, die dieser Diskussion nichts entgegensetzt, verliert die Handlungsführerschaft und Gestaltungskraft. Wer als Unternehmer 40 Jahre nicht in sein Imperium – Läden sowie Personal – investiert, ist in jedem Fall dem Untergang geweiht. Die Stärke als Nahversorger – Schlecker for you, for Ort – konnte den Niedergang wegen des verpassten Wandels nicht aufhalten. Daraus muss das neue Nahversorgungskonzept lernen und Schlussfolgerungen ziehen.

Die skizzierte Diskussion um einen angeblich zu hohen, Handelsunternehmen zu stark belastenden Tarif im Handel gefährdet zudem dort die Durchsetzung eines existenzsichernden Mindestlohns und leistet denen in der Politik und bei den Händlern Vorschub, die ankündigen, jeden Mindestlohn über 7,50 Euro die Stunde gerichtlich aushebeln zu wollen. Viele Arbeitgeber verschaffen sich Vorteile am Markt über einen Wettbewerb, der den Preiskampf als Händler über immer prekärere Löhne gewinnen will. Die Auswirkungen dieser Entwicklung betrifft direkt die nun arbeitslosen ehemaligen Beschäftigten bei Schlecker und verbaut ihnen den Weg in eine existenzabsichernde neue Arbeit als Angestellte im Handel.

Sozialer Abstieg – für die Älteren zwangsläufig?

Die meisten älteren, tüchtigen Frauen erfahren nun, dass sie auf einem deregulierten Arbeitsmarkt nicht mehr gefragt sind und ihre Wünsche nach regulierter Lebens- und Arbeitsqualität unerfüllt bleiben. Was können Sie tun?

Spätestens seit Juli 2012 prägt die Arbeitsagentur die Welt der ehemaligen Schlecker-Frauen, soweit sie einen Anspruch auf ALG II haben, ca. 15% von ihnen mussten als Geringfügige direkt beim Jobcenter andocken. Eine mögliche Abfederung durch eine Transfergesellschaft zerplatzte, man ließ die Frauen fallen. Versprechungen der Bundesarbeitsministerin über mögliche Perspektiven außerhalb des Handels entpuppten sich als »Blabla«, zugewiesene Arbeitsangebote im Handel selbst waren und sind deprimierend. Hinzu kommt: Zunehmend wird Arbeit als Praktikum oder in Teilen unbezahlt gefordert – und wird auch von dem im Handel erfahrenen Frauen gefordert.

Der Arbeitsmarkt ist aufgrund des ungleichen Kräfteverhältnisses der Vertragspartner kein Markt mehr, denn der angebotene Preis für die Arbeit wird bei Bewerbungen in der Regel nicht mehr offengelegt. Ungesund ist auch die Struktur der Arbeitsvermittlung, denn niemals darf man einem Menschen vollständige Verfügungsgewalt über einen anderen geben, wie es die Struktur der Agentur seit den Arbeitsmarktreformen als Regelsituation vorsieht. Nach dem Insolvenzschock wurde vielen Frauen systematisch und mit bloßem Auge sichtbar »der Schneid« abgekauft. Auf Druck von ver.di wurde eine bundesweite Beschwerdestelle bei der Agentur für Arbeit eingerichtet, ein Meer an gewerkschaftlicher Sisyphusarbeit begann, um den Interessen der Frauen gegenüber der Arbeitslosenversicherung Gewicht zu verschaffen. Am Ende stand die stolze Gruppe zerstört, die Frauen vereinzelt da.

Die einzigartige Erfolgsgeschichte der Gewerkschaft über die Gestaltungs- und Regulierungskraft im Handel am Beispiel Schlecker entglitt der Gewerkschaft zunehmend, der Markt und interessierte Kreise begannen sie umzuschreiben, die Rolle der Täter und der Opfer zu pervertieren. Zu diesem Zeitpunkt habe ich meine Gewerkschaft als gelähmt erlebt.

Eine Gewerkschaft und ihre Mitglieder handeln solidarisch

Es war zu erwarten, dass die größte Insolvenz in der bisherigen Geschichte der Republik auch besonders große Not bei den Betroffenen hervorrufen würde.

Die Paul-Schobel-Stiftung in Baden-Württemberg legte einen Stiftungsfonds mit dem Ziel auf, die Not von Frauen durch private Spenden mildtätig zu lindern. Die Hilfe war bei 400 Euro pro Fall gedeckelt und es bedurfte der Verhandlungen mit der Arbeitsagentur, dass die Zahlung nicht als Einkommen auf die Leistungen der Ämter angerechnet wird. Die bundesweite Sammlung für das Projekt kam nicht so recht in Gang, viele Gewerkschaftsmitglieder erreichte die Aktion gar nicht oder sie wurden nicht aktiv angesprochen. Wieder blieben die Hoffnungen der Frauen auf solidarischen Halt und Hilfe unerfüllt, die sie bisher bei ver.di gefunden hatten.

Als Reaktion auf die Perspektivlosigkeit des Arbeitsmarktes und um auf die unerträglichen Lohn- und Rahmenbedingungen im Handel, aber auch auf den Wert der Nahversorgung  hinzuweisen, entwickelte ver.di Stuttgart mit aktiven Frauen, überwiegend früheren Betriebsrätinnen, gemeinsam das Dorfladen-Projekt, das verschiedene Aspekte hat. Zuallererst knüpft es am Kampfgeist der früheren Erfolgsgeschichte wieder an. Aus Sicht der gewerkschaftlich aktiv organisierten Frauen ist es vor allem ein Versuch, das Tal der Tränen solidarisch zu bewältigen und aus eigener und gemeinsamer Kraft Respekt, Würde und Selbstbewusstsein zurückzugewinnen. Wesentlicher Inhalt ist, so genannte Topfilialen, die bereits zu Schlecker-Zeiten Überschüsse erwirtschaftet haben, in eigener Regie durch bisherige Belegschaftsmitglieder weiterzuführen. Ursprünglich war hier der Weg über Genossenschaftsgründungen angedacht, davon blieb angesichts unkomfortabler, langer Zeitabläufe bei der Gründung und die vorgeschriebene kostenfressende Einrichtung von Aufsichtsrat, Gesellschafterversammlung, Mitgliederversammlung, Pflichtprüfung auch für kleine Läden schließlich nur das beteiligungsorientierte, genossenschaftliche Element in Form von Bürgerkapital übrig, das über »Stützlis« (Wertmünzen) eingesammelt wird. Hier geht es um eine Art Mitgliedschaft und Bindung, die den künftigen, selbstgeführten Laden nachhaltig absichern helfen soll.

Wichtig ist dabei ein wirklicher Neuanfang. Dazu gehört, dass der Investitionsstau in den alten Filialen durch eine neue, ansprechende, farbliche und soziale Konzeption auch sichtbar und der alte Mief überwunden wird. Dazu setzt die Gruppe auf die Fachkompetenz eines in Nahversorgungskonzepten erfahrenen Designers und eines erfahrenen Ladenbauers. Die Gestaltung wird mit den Frauen erarbeitet und auch auf Wiedererkennung des Konzepts an verschiedenen Standorten geachtet. Alle übrigen Investitionen und auch die Frage der Ausstattung mit EDV, z.B. Kassensystemen ebenso wie mit Sortimenten u.a. werden gemeinsam erarbeitet. Wieder spielt das Handeln als Gruppe die wichtigste Rolle. Durch die Gemeinsamkeit stärken sich die Frauen gegenseitig. Einmal von einem Gruppenmitglied gemachte negative Erfahrungen können künftig für die anderen ausgeschlossen werden.

Die Läden heißen »Drehpunkt« – ein Kampfbegriff, der in Anspielung auf den Leitsong der letzten Fußball-Weltmeisterschaft signalisiert: Es ist Zeit, dass sich was dreht; Zeit, dass sich was ändert. Aus dem preisaggressiven Handel soll ein Nahversorger werden, von dem alle daran Beteiligten leben können. Gleichzeitig soll »Drehpunkt« auch an dem Begriff »Treffpunkt« anknüpfen, somit dem Bedürfnis der Bürgerinnen und Bürger nach sozialem Austausch Rechnung tragen. Die Sortimente sollen neben Drogerieartikeln das Nahversorgungsangebot am Ort vervollständigen und damit auch im Ensemble mit den übrigen Nahversorgern für die nötige Kundenfrequenz sorgen von der alle gemeinsam leben können.

»Drehpunkt« verändert den konkreten Blick auf den Handel

Mit der finanziellen und immateriellen Unterstützung der Kommunen, der Vermieter, anderer kleiner Gewerbetreibenden, die die innerörtliche Ergänzung durch eine Drogerie zur eigenen Existenzabsicherung brauchen sowie der Bürgerinnen und Bürger, die »fußläufig« einkaufen müssen oder wollen, wird das Fundament für eine erfolgreiche konkrete Win-win-Situation für den Erhalt eines lebendigen Ortskerns gelegt. Dabei sollen die Risiken einer Ladengründung auf alle an der Win-win-Situation beteiligten AkteurInnen, also nicht nur auf die Gründungsfrauen, verteilt werden.

Die Mit-Verteilung des Risikos sowie der Verantwortung einer Nahversorgungsgründung auch auf die Bürgerinnen und Bürger, die zu einem geänderten Blick auf die Lebensqualität sichernde Notwendigkeit der Nahversorgung und zur Ablehnung der prekären Arbeitsbedingungen im Handel bei Discountern und Filialisten führen soll, die sich im Übrigen ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse der Bürger auf der grünen Wiese ansiedeln, wird durch so genannte Stützlis (Wertgutscheine in Talerform, 50 oder 100 € Wert) erreicht, die als zinslose Kleinkredite über einen Treuhänderverein als nachrangiges Risikokapital in die Gründungen einfließen. Dadurch wird eine aktive Kundenbindung und Mitverantwortung aller Akteure für das Projekt und seinen nachhaltigen Bestand erreicht.

Vom Projekt profitieren auch die übrigen kleinen Nahversorger am Ort, denn wenn die Bürgerinnen und Bürger sich bewusst für die Unterstützung der Drehpunkt-Bürgerdrogerie positionieren, wandelt dies die Haltung auch den anderen Lädchen am Ort gegenüber. Der Treuhänderverein versucht ebenso wie die Paul-Schobel-Stiftung zur Lösung eines Problems auf privater Ebene Fördergelder solidarisch einzusammeln, in unserem Fall aber um die Projekte finanzieren zu können. Dabei wird auch das Versagen der für den Bürger angeblich sorgenden Strukturpolitik schmerzlich für die am Projekt interessierten Akteure spürbar.

Aus dem Widerspruch zwischen der Erfahrung der Bürgerinnen und Bürger, dass Nahversorgung dringend fehlt und dem Nahversorgungsangebot, das ver.di initiiert hat, entsteht ein Konfliktfeld, dass den Gewerkschaften und den von ihnen vertretenen Beschäftigten insoweit nützt, als der Wert der im Handel Tätigen vor Ort nunmehr anders, bewusster wahrgenommen wird. Die einzige Institution, die diese Not wahrzunehmen scheint und die auf diese Not der Menschen reagiert, ist in der öffentlichen Wahrnehmung offensichtlich die Gewerkschaft, die in die Bresche springt, während alle anderen Verantwortlichen zu versagen scheinen.

Allerdings wurde bisher über den Sinn des Projekts noch keine Übereinkunft innerhalb der Gewerkschaft erreicht, viele Gliederungen unterstützen es deshalb auch nicht aktiv und erschweren damit die Möglichkeiten der Frauen, sich zu wehren und sie erschweren eine solidarische Finanzierung über den Treuhänderverein, ohne eine Alternative aufzuzeigen.

Strukturpolitik im Sinne der Bürger – gegen Profitinteressen

Parallel dazu versucht das Projekt, die Haltung der Kommunen und der Politik insgesamt zu beeinflussen, damit diese aktiv durch Regelungen, Gesetze und Beschlüsse die Nahversorgung fördern und im Sinne des Erhalts von Lebensqualität für vom Ladensterben infizierte Orte subventionieren oder fördern. Die Gewerkschaft übernimmt hier in der Wahrnehmung mehr Verantwortung für die Grundbedürfnisse und die Lebensqualität vor Ort als die, deren durch Wahl legitimierte Aufgabe dies wäre und die hier versagen.
Die Bevölkerung wird immer älter, die Energiekosten werden immer höher – mit der Folge, dass viele Menschen die Nahversorgung dringend benötigen.

Deshalb würde ein Beschluss, ab sofort keine weiteren Drogeriepaläste vor den Toren der Orte auf der grünen Wiese mehr zu akzeptieren, sondern nur noch innerorts, auch die Drogeriefilialisten zwingen, ihr Flächen- und Warensortiment auf kleinere Angebote anzupassen oder auf Geschäfte in bestimmten Regionen ganz zu verzichten, dafür endlich einen Beitrag zu leisten, die lebendigen Ortskerne am Leben zu erhalten.

Die geforderte Strukturpolitik zur flächendeckenden Absicherung der Nahversorgung muss auch in kleinen und mittleren Orten die Nahversorgung tragen. Denn beim Niedergang eines Nahversorgers wie Schlecker steht jeder neue Aufbau eines Standorts unter einem gewissen Zeitdruck, da Kundenströme sich rasch neue Versorgungswege suchen. Auch stehen Banken beim Finanzierungsbedarf angesichts der ungewöhnlichen Rahmenbedingungen – Beteiligung durch Bürgerkapital – oft bremsend im Weg. Bemerkenswert ist zum Beispiel, dass unsere Projekte bisher nicht von den genossenschaftlichen Banken, sondern von den Kreissparkassen mitgetragen werden.

Die Zeitschiene zwischen Zusage der Finanzierung bis zur Überweisung des Kredits auf das Unternehmenskonto der Mini GmbH der ehemaligen Schleckerfrauen ist mit einer Zeitspanne zwischen fünf Wochen und drei Monaten unannehmbar lange ausgelegt. Bereits die Zeiträume zwischen Bestellung der Waren und der ersten Belieferung beträgt derzeit etwa sieben Wochen. Hinzu kommt eine unübersichtliche Förderlandschaft mit unübersichtlichen Förder- und Knock-out-Kriterien, die die Einrichtung einer staatlich geförderten Koordinierungsstelle für solche Projekte unbedingt notwendig machen. Die­se sollte das Wissen bündeln und den Existenzgründerinnen unbürokratisch und kostenfrei helfen und als Anlaufstelle für alle Fragen bei jedem einzelnen Schritt der Gründung Unterstützung leisten. Allein die Frage, wer wie als externer Berater ein Projekt begleiten darf und öffentliche Fördermittel in welcher Höhe und mit welcher Konzeption bekommen kann, hat im Fall des Nahversorgungsprojekts zu Konflikten mit eingefahrenen Förderstrukturen geführt. Es hat wiederrum Wochen gedauert, bis ein gemeinsamer externer Berater für unser gemeinsames Projekt durchgesetzt werden konnte.

In Baden-Württemberg und anderswo ist die von der EU geförderte Vorgründungsberatung beim Rationalisierungs- und Innovationszentrum der Deutschen Wirtschaft (RKW) angesiedelt, deren Berater leben von diesen Töpfen, neue Berater werden nicht gerne gesehen. Der Begriff Berater ist bisher nicht geschützt, die qualitative Komponente höchst unterschiedlich. In unserem Projekt musste ein externer Berater gefunden werden, der in der Begleitung von Nahversorgungskonzepten spezialisiert ist und bei überschaubaren Kosten ergebnisorientiert berät und sich für das Projekt so lange verantwortlich fühlt, bis es schwarze Zahlen schreibt und auch praktisch in der Lage ist, die Gründungen konkret und nachhaltig anzuleiten.

Auch die rechtlichen Rahmenbedin­gungen wie z.B. Fragen der Sozial­ver­sicherung sind für einzelne Existenzgründerinnen unübersichtlich und kompliziert. Ganz wesentlich ist daher die Weitergabe der Erfahrungen innerhalb der Gründerinnengruppe, die lernen muss, auftretende Probleme gemeinsam, durch Diskussionen mit anderen Gründerinnen, durch Bündnisse und Vernetzung und schließlich durch Einbeziehung der Fördergruppe in der Bürgerschaft vor Ort zu lösen. Die regelmäßige Öffentlichkeitsarbeit, der gesellschaftliche Diskurs über die Demokratisierung der Wirtschaft im Nahbereich ist ein wesentlicher notwendiger Bestandteil, um die Nahversorgung nachhaltig zu stärken und die Überlebens­chance zu erhöhen.

Neue Kommunikationswege entstehen

In der öffentlichen Wahrnehmung hat die Gewerkschaft ver.di bei der Sicherung der Nahversorgung die Handlungsführerschaft angenommen, weil andere politisch verantwortliche Akteure nicht handeln oder nicht handeln wollen. Völlig ungewöhnliche Allianzen und ungewöhnliche Formen der Zusammenarbeit entstehen. Dies hat über das Projekt hinaus Auswirkungen auf die Gesprächsbereitschaft von Kommunalpolitikern bei Fragen von Eingruppierung oder Auslegung der Tarifverträge (TVÖD) gegenüber Personal- und Betriebsräten und Gewerkschaftsvertretern aus dem ver.di-Fachbereich 7 – Städte und Gemeinden.

Noch immer gibt es allerdings Menschen, die glauben, dass es innerhalb der Gewerkschaft weiterhin ausreicht, sich auf die traditionellen Arbeitsbereiche wie z.B. regelmäßige Anwesenheit bei Gesamtbetriebsratssitzungen oder einfache Rechtsberatung zu konzentrieren, um die Interessen der Belegschaften zu vertreten. Auch die Haltung, das hier beschriebene Projekt sei nur in einem »Randbereich« der Satzung der Gewerkschaft ver.di anzusiedeln, war zu hören.

Jedoch ist die Handelswelt durch die umfassende Deregulierung der Arbeits- und Rahmenbedingungen verrückt geworden, und verrückte Zeiten erfordern andere, ungewohnte gewerkschaftliche Strategien! Dem versucht unser Projekt mit seinen neuen Aktionsformen Rechnung zu tragen. Es wäre daher nicht nur wünschenswert, sondern notwendig, wenn die Vorbehalte in Teilen der Gewerkschaft und die eher ablehnende Positionierung gegenüber dieser neuen Aktionsform noch einmal überdacht werden und einer aktiven Debatte Platz machen würden.

Es muss eine öffentliche Diskussion darüber geführt werden, warum ehemalige Schlecker-Frauen Nahversorgerinnen werden wollen und es vielleicht mangels anderer menschenwürdiger Perspektive gar werden müssen. Die auf dem Arbeitsmarkt angebotenen, befristeten Zwangsteilzeitverträge bei untertariflichem Stundenlohn ermöglichen für diese Frauen kein Auskommen und insbesondere die älteren tüchtigen Frauen erhalten kaum eine Chance auf Arbeit. Nur indem wir diese Situation öffentlich erfahrbar machen und unsere Argumente in den Fokus rücken, erreicht die Gewerkschaft Verständnis und breite Unterstützung dafür, dass im Handel wieder klare Grenzen gezogen werden müssen, um würdige Arbeit zu erhalten und damit die Bezahlung und die Rahmenbedingungen stimmen. Allein mit örtlich und zeitlich begrenzten Tarifverhandlungen und selbst mit landesweiten Streikauseinandersetzungen werden wir eine gleichwertige Wahrnehmung der Probleme im Handel wegen der flexiblen Struktur im Handel anders nicht erreichen.

Die Rahmenbedingungen im Handel als Herausforderung

Die wirtschaftlich schwierige Situation des Überlebens im Handel für kleine Läden der Nahversorgung ist uns natürlich bekannt. Der Handel ist tiefgreifend im Wandel. Die Finanzkrise hat die Verteilungskämpfe zwischen den Unternehmen angeheizt. Kleine Nahversorgung in Stadtteilen oder Dörfern hat es schwer, auch wenn einzelne ehemalige Schlecker-Filialen in der Vergangenheit dort Pluspunkte darstellten. Sinkende Bevölkerungszahlen, eine veränderte, alternde Bevölkerungspyramide, die Hinwendung auch im Handel zu Dienstleistungen und wachsenden Kundenzahlen mit nur minimalen Einkommenssteigerungen bzw. Sozialeinkommen führen dazu, dass sich der Wettbewerb, der schon seit einigen Jahren im deutschen Handel tobt, in der nächsten Zeit noch verschärfen wird. Hinzu kommen die nahezu ungebrochenen Investitionen in große Handelsflächen, die in naher Zukunft außerhalb der Ortskerne Einkaufswelten für zahlungskräftige und mobile Kunden anbieten wollen.

Deshalb gewinnt die strategische Planung als Grundlage für Nahversorgungsprojekte und ein verändertes, am Bedürfnis der Menschen ausgerichtetes Auftreten der Unternehmen an Bedeutung, was auch für unser Projekt von Belang ist. Innovationen sind mehr denn je nachgefragt, neue Formate – emotional aufgeladen und am Vertrieb statt am Einkauf orientiert – versuchen, dem Preiswettbewerb auszuweichen. Wenn unsere Marke Drehpunkt »IN« ist, dann reduziert das unsere Sorgen natürlich sofort.

Kernkompetenz – Ware plus Dienstleistung, Service, Information, Beratung und »Aftersales-Services« – wird durch Fachkompetenz ergänzt und die Unternehmen werden sich, besonders durch emotionale Faktoren verstärkt, voneinander zu differenzieren versuchen. Hier mitzuhalten ist eine Herkulesaufgabe für die Dorfläden, die die Gründerinnen nur gemeinsam in der Gruppe bewältigen können.

Weitere Trends im Handel wie »Nutzen statt Besitzen«, oder E-Commerce stellen auch für die Nahversorgung eine Herausforderung dar. Sie ist aber bewältigbar. Dass man sie lösen kann, zeigt zum Beispiel das Unternehmen »Emmas Enkel« in Düsseldorf, bei denen der Einkauf über Apps online erfolgen kann. »Emmas Enkel« hat unserem Nahversorgungsprojekt Unterstützung mit dem notwendigen Know-how angeboten. Überhaupt wird das Thema Kooperation die nächsten Jahre Handel und auch Vertrieb beherrschen und muss auch von den »Drehpunkten« als Nahversorgungsprojekt gelernt werden. Deshalb wäre es auch wichtig, dass wir den Begriff »Drehpunkt« für die Sparte »Drogerie plus« selbst zu einer Marke entwickeln können. Jeder emotionale Weg muss genutzt werden, die Verbraucher zu erreichen.

Im Einzelhandel bleibt alles anders – Umgang mit Insolvenzen

Bereits während der Phase der Schlecker-Insolvenz forderte ver.di Stutt­gart einen Plan B für den Fall, dass die Suche nach Investoren insgesamt oder zum Teil ergebnislos oder unbefriedigend bliebe. Unser Vorschlag war, die Zukunft von Filialen an eine Form von Beschäftigtenbeteiligung am Unternehmen zu knüpfen. Bereits im Februar 2012 erschien in der Süddeutschen Zeitung hierzu ein Bericht unter der Überschrift »Schlecker eG« und bezog sich auf eine Beschäftigtenversammlung im Gewerkschaftshaus Stuttgart, in der die Forderung der Schlecker-Frauen nach Überführung von Filialen in eine Genossenschaft gemeinsam mit dem damaligen ver.di Geschäftsführer Bernd Riexinger diskutiert worden war.

Natürlich werden Mitglieder in dem einen oder anderen Fall darauf verzichten, ihre Rechte und ihre Besitzstände geltend zu machen, daran können wir sie nicht hindern. Aber ver.di Stuttgart vertritt grundsätzlich die Haltung, dass die Gewerkschaft und ihre Kampfkraft benötigt wird, wenn es darum geht, um Rechte und Besitzstände gerade aktiv zu kämpfen. Diese Haltung haben wir auch in der Frage vertreten, ob man alle, auch die für die Nahversorgung notwendigen Topstandorte der ehemaligen Schleckerkette aufgibt oder wir um Veränderungen und politische Entscheidungen pro Nahversorgung kämpfen.

In diesem Zusammenhang werden wir auch immer wieder gefragt, ob die Kette Dayli, die als ehemals Schlecker Österreich, Italien und Polen nun auch Standorte in Deutschland besitzen möchte, Einfluss auf unsere Planungen nehmen kann. Dayli in Österreich sieht aus wie ehemals Schlecker in Deutschland in der Endphase, und die Aussagen über künftige Nahversorgungsplanungen der Finanziers für Deutschland kommen unstrukturiert und oberflächlich daher. Schaut man auf die Internetseite der Finanziers (TAP09) findet man ein Renditeversprechen von 20% plus Zinsen, als ginge es nicht um Nahversorgung, sondern um eine Rendite aus Geschäften bei der Deutschen Bank. Als kluger Schachzug wird in Österreich gewertet, dass sich zuletzt mit 50% ein Glückspieltycoon bei Dayli eingekauft hat, der sich möglicherweise über Mietverträge als Nahversorger in Städten und Gemeinden bessere Ladenräume für Glücksspielflächen in zentraler Lage verspricht. Insofern wird es niemanden verwundern, dass wir bei den in der Öffentlichkeit ausgelobten Rahmenbedingungen als »Drehpunkt«-Bewegung keine Seriosität oder Nachhaltigkeit bei der Planung dieses Konkurrenten erkennen können.

Christina Frank ist Gewerkschaftssekretärin von ver.di Stuttgart.

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