1. Oktober 2009 Udo Klitzke

Die Linke im Abgang

Angesichts der größten Weltwirtschaftskrise seit den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts war der Bundestagswahlkampf selbst nach Eingeständnis bürgerlicher Zeitungen lasch. Die Parteien der großen Koalition haben den Wahlkampf so betrieben, dass für das System des Shareholder value kein Politikwechsel angesagt war. Getragen von einer medial verstärkten "Stimmung" und sekundiert von wirtschaftswissenschaftlichen Beratern und Think tanks, dass sich die Weltwirtschaftskrise scheinbar ihrem Ende zuneige, gelang es, das Thema mehr und mehr aus den Wahlauseinandersetzungen herauszuhalten. Was nach dem Lehman-Schock zunächst kaum jemand für möglich gehalten hatte, trat ein: "Weiter so" ist der von den bürgerlichen Parteien praktizierte Konsens.

Wie kann es sein, dass diese Krise nicht zu einem der härtesten Lagerwahlkämpfe geführt hat? Warum wurden in den Medien Themen wie die Regulierung der Finanzmärkte, Verstaatlichung, Konjunkturprogramme, Profite genauso wenig Gegenstand politischer Auseinandersetzungen wie soziale Gerechtigkeit, die Verteilung von Reichtum und Armut oder die Zukunft öffentlicher Daseinsfür- und -vorsorge?

Es ist kein Aufschrei der Bevölkerung zu vernehmen, Protest­aktionen fallen, sofern es sie überhaupt gibt, moderat aus. Dabei müsste doch gerade den abhängig Beschäftigten, den RentnerInnen und Arbeitslosen klar sein, dass die Kosten für die "Rettung" der Banken und das Konjunkturprogramm ihnen aufgebürdet werden. Die Inszenierung des Wahlkampfs ließ bereits erkennen, dass die Verursacher der Krise mit den entstandenen Kosten kaum etwas zu tun haben werden. Da die "Spieler" nicht zur Kasse gebeten werden, kann der "Casinokapitalismus" dezimiert um etliche "Kleinanleger" weiter machen.

Nachfolgend möchte ich ein paar Aspekte näher betrachten, die m.E. zu dieser Situation geführt haben. Meine zentrale These ist, dass die eindeutige Dominanz neoliberaler Politik in Wirtschaft und Gesellschaft nicht allein der Macht der herrschenden Parteien bzw. der Unternehmerverbände sowie der veröffentlichten Meinung zuzuschreiben ist. Vielmehr hat die Linke es nicht verstanden, die Chance, die ihr zunächst die Weltfinanz- und dann die Krise der Realwirtschaft boten, zu nutzen. Die Linke hat der Deutungshoheit und dem Erklärungs- sowie Analysemonopol der neoliberalen Kräfte wenig entgegengesetzt. Sie ist als ernstzunehmende, widerstreitende gegenhegemoniale Kraft kaum in Erscheinung getreten.

Kampf um die Köpfe

Die Linke – wer ist das? Die SPD erklärtermaßen nicht mehr. Die Führung der Sozialdemokratie hat sich unter dem Dreigestirn Schröder-Müntefering-Steinmeier dem Neoliberalismus zugewandt und eine auf Marktsteuerung ausgerichtete Privatisierungs- und Deregulierungspolitik betrieben. Korrekterweise verortet sich die SPD auch nicht mehr im linken Spektrum, sondern in jenem ominösen Raum der gesellschaftlichen "Mitte", in dem sich auch CDU/CSU, Grüne und Teile der FDP tummeln. Damit soll nicht in Abrede gestellt werden, dass es nach wie vor noch linke SPD-Mitglieder gibt.

Unter dem Begriff "Linke" verstehe ich sowohl die Partei "Die LINKE" als auch – mit einigen Einschränkungen – die Gewerkschaften sowie Teile der sozialen Bewegung; also jene Kräfte, denen man noch am ehesten zutrauen kann, dass sie bereit und in der Lage sein könnten, die in fast allen gesellschaftlichen Bereichen vorherrschende Politik des Neoliberalismus mit dem Ziel anzugehen, sie zumindest zurückzudrängen und so tendenziell als Gegen-Hegemonie[1] aufzutreten. Darauf, dass die Politik der SPD gerade für Gewerkschaften große Probleme aufwirft, wird noch einzugehen sein.

Ein Missverständnis entsteht in Diskussionen um das Thema der hegemonialen Auseinandersetzung auch dadurch, dass einem das Wahlprogramm der LINKEN oder Beschlüsse von Gewerkschaftstagen unter die Nase gehalten werden, um zu belegen, dass die Antworten auf die drängenden Probleme der Zeit längst aufgeschrieben worden sind. In der Tat: Papier ist geduldig. Um die herrschenden Verhältnisse zu verändern, bedarf es jedoch hegemonierelevanter Aktionen. Ein "Kampf um die Köpfe", um das Bewusstsein von Menschen, erfordert andere Methoden und Mittel als die in Antragsberatungskommissionen gepflegte Lyrik. Es geht in der Auseinandersetzung um das Verständnis, die Interpretation und die Deutung der Krise, ihres Ursprungs, ihrer Natur, ihrer Entwicklung und ihrer Protagonisten sowie um die Rolle von Staat, Parteien, Verbänden und Medien. Beim Kampf um das politische, ökonomische und kulturelle Bewusstsein der Menschen im Sinne einer hegemonialen Auseinandersetzung geht es um gesellschaftliche Meinungsführerschaft. Dabei ist von besonderer Bedeutung, Teile der politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und wissenschaftlichen Gruppen für die eigene Deutung und Erklärung der Krise zu gewinnen. Dazu bedarf es gesellschaftlicher Dialoge, die im Unterschied zu den Angeboten der dem Neoliberalismus verpflichteten Parteien offen geführt werden müssen. Von entscheidender Bedeutung ist dabei, jene "Brücken" zu bauen, auf die Menschen, die selbst auf der Suche nach Deutungen und Erklärungen sind, gehen können, und tatsächlich einen Diskussionsprozess zu eröffnen, der nicht gleich durch Verkündungsrhetorik abgebrochen wird.

Brücken der Neuverständigung

Brücken und Zugänge öffneten sich durch die Krise selbst. Gerade die ersten Wochen nach dem Ausbruch der Weltfinanzkrise zeigten, dass bis weit ins bürgerliche Lager Verunsicherung um sich griff, die teilweise sogar in Angst umschlug. Von den sonst so vorlauten "Wirtschaftsweisen" war wenig zu hören. Es wunderte auch nicht, dass kaum jemand lauten Protest erhob, als die schwarz-rote Regierung bei der HRE nach Verstaatlichung rief und die eine oder andere Regulierung der Finanzmärkte forderte.

Themen wie Verstaatlichung haben sich geradezu angeboten, da man die Erfahrungen z.B. von VW und SalzgitterStahl hätte aufgreifen können. Gerade die IG Metall hätte mit ihrem Zugang zu den Vorständen und Aufsichtsräten dieser wie weiterer Konzerne eine Plattform für eine solche Auseinandersetzung schaffen können. Es wäre mit Sicherheit zunächst nur um eine Initialzündung gegangen. Wenn Konzernvorstände und Aufsichtsräte ihre positiven Erfahrungen mit staatlicher Beteiligung am Beispiel "ihrer" Konzerne gemeinsam mit Wissenschaftlern, Journalisten, Politikern, Verbandsvertretern usw. diskutiert hätten, wäre eine Brücke entstanden, über die weitere Vertreter dieser Gruppen in den Dialog eingetreten wären. Hier wären Deutungen und Erklärungen sowie Analysen und sicherlich auch Botschaften entstanden, die überzeugt hätten.

Ähnlich hätte sich verfahren lassen beim Thema "Regulierung". Auch hier ließen sich zu Beginn der Krise namhafte Persönlichkeiten ausmachen, die von der Notwendigkeit erweiterter Kontrolle und Steuerung von Märkten überzeugt waren. Sie hätte man mit auf den Weg nehmen können. Es lag geradezu in der Luft, das unsägliche Profitstreben der Hegdefonds und ihre zynische Vernichtung von Arbeitsplätzen als Plattform für eine breitenwirksame Diskussion zum Thema soziale Gerechtigkeit und Mitbestimmung zu nutzen. Die Diskussion in der Öffentlichkeit um die Gier, die zu einem erheblichen Teil an der Krise Schuld gewesen sein soll, hätte den erforderlichen Schub geben können, die Diskussion weg vom persönlichen Fehlverhalten hin zu der dringend notwendigen Systemfrage immer weiter deregulierter Märkte zu lenken.

Es gab auch die Bereitschaft, endlich über das "billige" Geld zu diskutieren, das als "vagabundierendes Kapital" weltweit Anlagemöglichkeiten sucht und den "Casinobetrieb" erst so richtig in Schwung brachte. Hier war eine Basis gegeben, um über Reichtum und Armut, über Verteilungsungerechtigkeit nicht nur in den hochentwickelten kapitalistischen Staaten, sondern auch in der Welt zu diskutieren und politische Optionen der Veränderung auf den Weg zu bringen.

Selbst die Frage nach der Zukunft der politischen Ordnung kam auf die Tagesordnung, nachdem sich der Markt als alleinige Ordnung einer an nachhaltigen Zielen und am Gemeinwohl ausgerichteten Wirtschaft als nicht tragfähig erwiesen hat.

Halten wir uns diese bis weit ins bürgerliche Lager hineinreichende Verunsicherung vor Augen, wird deutlich: Dies hätte die Stunde der Linken sein müssen. Sie hätte zusammen mit anderen politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Kräften nach Umsetzungsstrategien für eine nachhaltige Antikrisenpolitik suchen müssen. Es gab die Chance, Einfluss auf die öffentliche Meinung zu gewinnen, ja in entscheidenden Augenblicken eine bedeutende Rolle im Ringen um Deutungen und Erklärungen zu erlangen und das Definitionsmonopol der Neoliberalen aufzubrechen. Selten waren in den beiden letzten Jahrzehnten die Bedingungen so günstig, den Marktbegriff kritisch zu hinterfragen. Keynes und Friedman sowie weitere Ökonomen wurden auch in Tageszeitungen auf ihre Bedeutung für die Krisenbewältigung hinterfragt.

Insgesamt stellte sich die Situation so dar, dass es das Moment von "unfreeze" gab – die Chance, etwas zu bewegen und zu verändern. Wenn die Verhältnisse auch in ihren Erklärungen und Definitionen nicht mehr festgefroren sind, dann sind sie offen für neue Deutungen und Erklärungen, die mehr Raum für soziale Gerechtigkeit lassen und auch für einen Politikwechsel.

Aufbrechen der Isolation

Es ist nicht ohne Wirkung für das Alltagsbewusstsein, wenn Tag für Tag und Jahr für Jahr nur die Botschaft des Neoliberalismus zu hören ist. Sie erscheint nicht als eine äußerst einseitige, sondern als allgemein gültige Lehre, der gegenüber andere als ewig Gestrige, Illusionisten, Unverbesserliche usw. ins gesellschaftliche Seitenaus gestellt werden. Dabei haben wir oft die Erfahrung machen können, dass Vertreter des Neo­liberalismus wirklichen Diskussionen über soziale Sachverhalte oft ausweichen. Diesen Herren gefällt es am besten, wenn sie sich ihre Linke rhetorisch basteln können: als eine Gruppe unverbesserlicher Dogmatiker. Dies gelingt ihnen dann, wenn die Linke ansonsten gesellschaftlich nur am Rand in Erscheinung tritt.

Von Linken initiierte, aber eben nicht dominierte Debatten hätten Chancen geboten, gesellschaftliche Isolation aufzubrechen, ihre Überlegungen und Deutungen darzulegen und, was genauso wichtig ist, den Dogmatismus der anderen offenzulegen. Der "one best way" (F. Taylor) ist schon in der materiellen Produktion gescheitert, hat aber, in andere Worte gekleidet, Eingang in die Politik des Neoliberalismus gefunden. An diesem Dogmatismus sich entlang zu arbeiten, von Chile (Milton Friedman) über Reaganomics, Thatcherismus bis hin zu dieser Krise im Verbund mit über dieses Konzept zweifelnden Wissenschaftlern, Medien- und Kirchenvertretern, Politikern usw., hätte eine weitere Brücke bieten können.

Die Linken selbst hätten mit entscheiden können, wo der Ort ist, an dem der Kampf um die Deutungs- und Erklärungshegemonie ausgetragen wird, um sich einzumischen in die Auseinandersetzung über die Hoheit der öffentlich gesprochenen Worte, durchaus auch über die "Lufthoheit am Stammtisch". Das hätte auch die Chance geboten, den dirigistischen und auch sanktionierenden Einfluss der herrschenden neoliberalen Konzepte in Politik, Wissenschaft und Wirtschaft breitenwirksam aufzudecken und den Bruch zu dokumentieren, den sie mit der humanistischen Tradition vollziehen und auch mit jener, die in Karl Poppers "Offener Gesellschaft" ihre Begründung findet. Ein weiterer entscheidender Punkt der Auseinandersetzung hätte auch den Bruch aufzeigen können, der in der bisher mit Konsens getragenen Tradition liegt, dass Gemeinwohlinteressen Vorrang vor einzelbetrieblichen Wirtschaftsinteressen bzw. persönlicher Karriere, Einkommen, Profit usw. haben müssen.

Natürlich greifen die Medien Verfehlungen gegenüber diesem Konsens begierig auf. Aber sie belassen es in der Regel bei der Darstellung persönlichen Fehlverhaltens oder schieben es in die Kiste "Neiddiskussion", arbeiten es jedoch nicht als Ausdruck eines die Gesellschaft dominierenden neoliberalen Konzepts auf. Die Linke müsste gerade dieses Thema der Verletzung von in der Gesellschaft breit geteilter Normen viel stärker anpacken. Je weiter sich die Indienstnahme der Menschen durch neoliberale Politik realisiert, desto schwieriger wird es sein, deren Hegemonie nicht nur zurückzudrängen, sondern gar zu brechen, da sie im Alltag als das Normale erscheint.

Angesichts der beschriebenen Situation wundert es nicht, dass die Wirtschaftskrise wenig am Lob des freien vs. dem staatlich regulierten Unternehmertums kratzen konnte. Die Krise nimmt einmal mehr die Erscheinungsform eines – wenn auch heftigen – Betriebsunfalls an. Der Kapitalismus bleibt unangetastet und erscheint weiterhin als die einzig mögliche Gesellschaftsform.

Gewerkschaftliche Erfahrungen

Warum hat die Linke die sich in der Krise bietenden Chancen so wenig genutzt? Eine Voraussetzung für hegemoniales Auftreten wäre gewesen, dass sich die politischen RepräsentantInnen in Partei, Gewerkschaften und sozialen Bewegungen sowie Protagonisten in Kultur und Wissenschaft gemeinsam und mit großer Entschlossenheit der Auseinandersetzung gestellt hätten. M.E. hätte es nur der Initiative einer Institution, eines Verbandes, vielleicht auch nur eines Hauptprotagonisten bedurft, um das erforderlichen Bündnis zu kreieren.

Den Kampf gegen die herrschende Deutungsmacht aufzunehmen geht ferner nur, wenn man klare Zielvorstellungen und Strategien entwickelt. Es geht vorrangig nicht um einen Maximalkonsens, sondern zunächst um Positionen, die im Streit um Meinungsführerschaft einen Terraingewinn versprechen, entsprechend dem Gedanken, dass sich in solchen Situationen nur durchsetzen kann, wer in den entscheidenden Momenten entschlossen und geschlossen auftritt. Das hätte gezeigt: Hier organisiert sich eine gemeinsame Kraft.

Die erlebte Machtlosigkeit des Protests erklärt sich aus dem entgegengesetzten Verhalten der Linken, ihrer Zersplitterung, z.T. Verzettelung in verschiedene Einzelaktionen. Diese signalisieren – ob gewollt oder ungewollt –,dass der Protest selbst nicht als eine grundsätzliche Auseinandersetzung verstanden wird, geführt von einer geeinten Kraft. Damit hat die Linke die Chance vergeben, Akteure in Wissenschaft und Wirtschaft, Kunst und Kultur, Medien und Politik einzubeziehen. Der dringend erforderliche gesellschaftliche Dialog konnte so nicht organisiert werden.

Die IG Metall z.B. hätte auf eigene Erfahrungen aus den 1980er Jahren zurückgreifen können, als es ihr mit Kongressen, Tagungen, Workshops, an denen Vertreter fast aller gesellschaftlicher Gruppen teilnahmen, gelang, breiten Zugang in die Zivilgesellschaft zu finden und an Hochschulen Bündnispartner zu finden, mit denen sie Forschungsrichtungen und -schwerpunkte beeinflussen konnte. Sie war tonangebend in Fragen der Arbeitswelt und der sozialen Gerechtigkeit, sie prägte die politische Diskussion in der Gesellschaft und im Betrieb. Im erfolgreichen Kampf für die 35-Stunden-Arbeitswoche stellte sie für eine gewisse Zeit ihre hegemoniale Kraft unter Beweis, indem sie zum Teil bis weit ins bürgerliche Lager hinein Unterstützung für die Notwendigkeit der Umverteilung von Arbeit und ein neues gesellschaftliches Zeitregime fand.

Die bewusste Anwendung der Erkenntnis, dass (gesellschaftliche) Kommunikation eine Produktivkraft ist, war dabei unerlässlich. In dieser Kommunikation entstanden crossfunktionale Netzwerke mit Akteuren aller gesellschaftlichen Gruppen, die Kommunikation zu einer umsetzungsstarken Macht werden ließen. Das lässt sich freilich nicht erreichen mit den üblichen Verkündungsveranstaltungen, sondern nur in dialogorientierten Foren. Gefordert ist Teilhabe, Partizipation, Beteiligung von den in Frage kommenden Akteuren an dem gesamten Entwicklungsprozess gegenmächtiger, hegemonialer Konzepte.

Mir scheint, dass die Partei Die LINKE auch aufgrund ihrer Geschichte eine Öffnung hin zu einem gesellschaftlichen Dialog nicht als dringend gebotene Strategie begreift. Dies gilt m.E. von der Kreis- bis zur Bundesebene. Wenn sie noch nicht einmal die Mitglieder breitenwirksam in die politische Arbeit einbezieht, wie soll dann über diesen Kreis hinaus mit Vertretern der wirtschaftlichen, politischen, kulturellen Gruppen der gesellschaftliche Dialog gelingen? Über die Kader zu verkünden, was der Kader so denkt und will, ist einfaches Handwerk. Beteiligungsorientierte Politik bedeutet nicht – wie basisorientiert oft missverstanden wird –, dass Entscheidungsstrukturen obsolet werden; sie schaffen erst die Voraussetzung für eine Hegemonialstrategie. Aus meiner Sicht ist die Entwicklung und Umsetzung einer solchen Strategie Voraussetzung für eine mögliche Regierungsbeteiligung, um nicht zum "Spielball" veröffentlichter (neoliberaler) Meinung oder der in den Ministerien etablierten Beamten usw. zu werden. Aus diesem Grunde vertrete ich auch nicht die Auffassung, dass Teilhabe an Regierungsmacht hegemoniale Probleme lösen hilft.

Die Gewerkschaften befinden sich in einer freiwillig gewählten "Gefangenschaft" mit der SPD. Deshalb unterbleibt grundsätzliche Kritik an der seit einem Jahrzehnt betriebenen Regierungspolitik. Man befürchtet, damit nur größeren Zuspruch für die LINKE zu organisieren und die SPD zu schwächen. Damit sind aber zugleich die Chancen, als gegenmächtige Gesellschaftskraft zu agieren, minimiert. Zumal die Gewerkschaften auch auf einen Dialog mit Teilen der CDU setzen, um die schlimmsten neoliberalen Greuel abzuwenden. Die über 20-jährige Regierungsverantwortung neoliberaler Kräfte zeigt aber, dass ihr permanenter Machtzuwachs bis hinein in die Alltagskultur der Menschen eine solche Rechnung nicht aufgehen lässt. Auch geraten die Gewerkschaften immer mehr in einen Widerspruch zwischen ihrer Tagespolitik und ihren programmatischen Forderungen. Dies wiederum trägt zu Politikverdrossenheit und weiterer Entpolitisierung bei.

Für die Gewerkschaften ist die Situation bedrohlich, da seit einigen Jahren schon die ehemals vorherrschende emotionale, aber auch geistig-politische und kulturelle Bindung unter den abhängig Beschäftigten schwindet. Zu einem erheblichen Teil ist dies ihrem politischen Konzept der "Verbetrieblichung"[2] gewerkschaftlicher Arbeit geschuldet. Die gesellschaftspolitische Vorrangstellung wird dadurch unterminiert. Der Prozess des Bindungsverlustes dürfte sich so noch beschleunigen. Politische Arbeit aus dem Fokus betrieblicher Bedingungen gestaltet, setzt die einzelbetrieblichen Konkurrenzbedingungen im Umfeld neoliberal definierter Marktbedingungen als Filter vor die Gesellschaftsanalyse und als Korrektiv für betriebliche Gestaltungspolitik. Das Scheitern einer "emanzipatorischen" Tarifpolitik, die nicht nur wachsende Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtums sondern auch Umverteilung zum Ziel hatte, liegt m.E. zu einem erheblichen Teil in dieser Verbetrieblichung begründet. Die aus diesem Konzept abgeleitete Ökonomisierung begründet sich völlig anders als jene, die die gesellschaftliche Entwicklung und das ökonomische Potenzial der Gesellschaft zur Grundlage hat. Die an einzelbetrieblichen Interessen ansetzende gewerkschaftliche Betriebspolitik (i.e. Verbetrieblichung) gerät in zunehmenden Sog neoliberaler Politikkonzepte, wenn zugleich gesellschaftspolitische Gegenkonzepte gar nicht oder nur unzureichend angeboten werden. Wenn gesellschaftliche Zusammenhänge im Kontext des Neoliberalismus erklärt, gedeutet und interpretiert werden, wie sollen sich dann gegenmächtige einzelbetriebliche Politikansätze entwickeln und durchsetzen? Wo doch hier Auge in Auge und direkt von Mund zu Ohr zwischen betrieblichem Vorgesetzten, Betriebsrat und Beschäftigtem sowie Management gearbeitet wird. Aus diesem Dilemma kann nur ein Befreiungsschlag führen, der gewerkschaftliche Betriebspolitik im Verbund mit einer alle wesentlichen Bereiche umfassenden gewerkschaftlichen bzw. linken Hegemonialstrategie in die Auseinandersetzung bringt.

Weil bei einem Blick auf die Situation die Mängel der Linken, den "Ton angeben zu wollen", so evident sind, kann ich zu Recht davon sprechen, dass sie sich im Abgang befindet. Ihre Schwäche wird zu einer noch weiteren Durchsetzung neoliberaler Politik in allen Gesellschaftsbereichen führen.

Allerdings werden die abhängig Beschäftigten, RentnerInnen, Arbeitslose auf Dauer nicht bereit sein, sich den für sie immer schlechter werdenden sozialen und ökonomischen Bedingungen widerstandslos zu unterwerfen. Nur, wer wird der Akteur sein, der ihren Widerstand aufgreift, organisiert und als Machtfaktor wirksam werden lässt?

Udo Klitzke war 1. Bevollmächtigter der IG Metall, Verwaltungsstelle Braunschweig.

[1] Der Begriff Hegemonie wird hier im Sinne des Alltagssprachgebrauchs benutzt, also im Sinne von Vorherrschaft. Dies umfasst sowohl die ideologische Seite wie auch die materielle. Vorherrschaft einer Organisation, einer Institution, eines Verbandes in politischen, kulturellen, wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Belangen.
[2] Verbetrieblichung und Betriebsorientierung sind insofern entgegengesetzt, als Verbetrieblichung Gegenstandsbereiche betrieblicher Interessenvertretung aus dem Focus des Einzelbetriebes aufgreift, während Betriebsorientierung dies aus der Sicht von Allgemeinheit tut, um dann die Übertragung auf den Einzelbetrieb zu realisieren.

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