1. Januar 2001 Rolf Sieber

Die Präsidentschaftswahl in den USA

Der deutsche Schriftsteller Peter Schneider, der sich in Washington D.C. als Fellowship der Georgetown University aufhält, und sich mit Verwandtschaften, Irritationen und Klischees im deutsch-amerikanischen Verhältnis beschäffigt, trifft den Nagel auf den Kopf: »Die Wahlkampagne war die langweiligste seit Menschengedenken... Keine der in meinen Augen wichtigen Fragen kam überhaupt zur Sprache: Arm und Reich, Rassismus, Todesstrafe, Kinderarmut, Waffenkontrolle – nichts dergleichen. AI und George wirkten nicht nur wie zwei Kandidaten ein- und derselben Partei, sie schienen derselben Fraktion derselben Partei anzugehören. Nun ist aus dem langweiligsten Wahlkampf die aufregendste Sache der Welt geworden. Und darauf sind die Amerikaner, mit ihrem Sinn fürs Drama, auch mächtig stolz.« (Welt, 28.11.00) Diese bemerkenswerte Verallgemeinerung praktisch gesammelter Erfahrungen im Wahljahr 2000 in den USA stimmt mit vielen Beobachtungen und Analysen progressiver politischer Analysten aus dem In- und Ausland der USA überein.

Lassen wir die konkreten Ereignisse der Dezember-Tage des Jahres 2000 sprechen, als das endgültige Resultat zur Präsidentschaffswahl fiel: Am 12. Dezember 2000 verabschiedete das Parlament des Bundesstaates Florida mit 79 zu 41 Stimmen eine Resolution, in der die 25 Wahlmänner bzw. Wahlfrauen benannt werden, die am 18. Dezember 2000 im Wahlmännerkollegium ihre Stimme für den republikanischen Kandidaten George W. Bush abgeben sollen. Mit diesem Alleingang wollten die republikanischen Abgeordneten nach eigenen Angaben sicherstellen, dass Florida wegen eines seit über fünf Wochen andauernden Rechtsstreites um die Präsidentschaffswahl im Wahlmännerkollegium nicht übergangen wird. Mit den 25 Stimmen Floridas verfügte George W. Bush über insgesamt 271 Wahlmännerstimmen, eine Stimme mehr, als für seine Wahl zum 43. Präsidenten der USA notwendig. Der 12. Dezember war in den USA landesweit der Stichtag für die Benennung der insgesamt 538 Elektoren, die gemäß dem indirekten US-Wahlsystem den Präsidenten wählen.

Insgesamt 36 Tage lang herrschte im Bundesstaat Florida ein in der Geschichte der USA einmaliger juristischer Streit um die Stimmenauszählung bei einer amerikanischen Präsidentenwahl. Durch die Anrufung aller Gerichtsebenen Floridas (Kreisgerichte, Bezirksgericht, Oberstes Gericht) und schließlich des Obersten Gerichtshofes der USA in Washington durch Beauftragte der beiden großbürgerlichen Parteien entstand durch erbitterte Klagen und Gegenklagen, durch Berufungen und Eingaben – auch durch persönliche Klagen einzelner Wähler – ein Chaos, das erst durch Richtersprüche des Obersten Gerichtshofes beendet wurde.

Das Gore-Lager wollte in Florida angesichts des knappen Vorsprungs von Bush – weniger als 1000 Stimmen Unterschied bei sechs Millionen abgegebenen Wahlkarten – mit Hilfe einer Neuauszählung die 25 entscheidenden Wahlmänner des Bundesstaates doch noch für sich gewinnen. Das Bush-Team verfolgte die Strategie, durch das Spiel auf Zeit den mit jedem Urteil und jeder Neuauszählung schrumpfenden Vorsprung bis über die Ablauffristen zu retten. Am 9. Dezember 2000 hatten 7 von 9 Obersten Richtern für eine einstweilige Verfügung votiert, die zu einem Stopp der vor sich gehenden Handauszählungen in Florida geführt hat. Schließlich entschied der Oberste Gerichtshof der USA am späten Abend des 12. Dezember 2000 mit einem Stimmenverhältnis von 5 : 4, dass die Handauszählung strittiger Stimmen in Florida (genehmigt vom Obersten Gericht des Bundesstaates) verfassungswidrig sei.

Die Richter William Rehnquist (76, von Präsident Nixon nominiert, 1986 von Präsident Reagan zum Vorsitzenden ernannt, gilt als sehr konservativ und leitete 1999 das lmpeachmentverfahren gegen Clinton), Sandra Day 0’Connor (70, erste Frau im Obersten Gerichtshof, gilt als eine der einflußreichsten Frauen in den USA, ihre Haltung wird als gemäßigt konservativ eingeschätzt), Anton in Scalia (54, wurde 1986 von Präsident Reagan ernannt, gilt als konservativ, stimmte mehrfach gegen das Recht der Frauen auf Abtreibung und für Gebete in der Schule), Anthony Kennedy (64, von Präsident Reagan ernannt, vertritt die sog. gemäßigte Mitte und verfolgt keine bestimmte ideologische Linie) sowie Clarence Thomas (52, von Präsident Bush sen. ernannt, der einzige schwarze Richter im Gremium, gilt als konservativ, lässt sich aber schwer einschätzen) fügten mit ihrem Urteil dem Demokraten AI Gore die entscheidende Niederlage bei. Das 65-seitige Urteil, in dem auch abweichende Meinungen dokumentiert sind, besteht aus zwei inhaltlichen Teilen: Zum einen urteilen sieben der neun Richter, dass das Urteil des Obersten Gerichts von Florida, in dem dieses wenige Tage zuvor Stimmennachzählungen zugelassen hatte, gegen die Verfassung der USA verstoße. Die Auszählungen »stehen nicht im Einklang mit den Minimalprozeduren, die zum Schutz des Grundrechts des Wählers nötig sind«. Der Gleichheitsgrundsatz sei verletzt, wenn jeder Wahlkreis in Florida die Kriterien für Stimmennachzählungen selbst festlegen dürfe. Der zweite Teil des Urteilsspruchs fiel mit fünf konservativen gegen vier liberale Richterstimmen entsprechend der vorherrschenden ideologischen Grundhaltungen aus. Für verfassungskonforme Handauszählungen in Florida sei es zu spät, denn dazu bedürfe es vorher »substanzieller Arbeit«. Da jede Auszählung unter Einhaltung der Frist des 12. Dezember verfassungswidrig wäre, sei das Urteil des Obersten Gerichts von Florida – Neuauszählungen zuzulassen – aufgehoben.

Der neue Präsident der USA war noch nicht offiziell bestätigt, aber weitere und neue Kämpfe kündigten sich an. Da es im Sunshine State gesetzlich erlaubt ist, »unabhängige Nachzählungen« durchzuführen, erklärte der bekannte Bürgerrechtler Jesse Jackson noch in der Nacht vom 12. zum 13. Dezember 2000 die Notwendigkeit, das Ausmaß der unterschlagenen Stimmen unbedingt herauszufinden. In Wirklichkeit habe in Florida Vizepräsident AI Gore die meisten Stimmen erhalten. Dies werde sich noch vor der offiziellen Amtsübernahme von Bush herausstellen. In diesem Falle dürfte es stimmen, dass es sich, wie ein Journalist formulierte, um die »verrückteste Präsidentenwahl seit Menschengedenken« handele.

Das Wahljahr 2000

In den Vorwahlen (Februar bis Juni) ging es darum, welcher Präsidentschaftskandidat sich gegen seine eigenen Parteimitbewerber durchsetzt. In der Republikanischen Partei rangen vor allem der Gouverneur des Bundesstaates Texas, George W. Bush, und der Senator John McCain um die Nominierung. Bei der Demokratischen Partei kämpfte der Vizepräsident AI Gore gegen den Senator Bill Bradley. In dem teuersten Vorwahl-Kandidatenrennen innerhalb der beiden großbürgerlichen Parteien siegten bei den Republikanern George W. Bush und bei den Demokraten AI Gore.

Laut Washingtoner demoskopischem Institut »Center for Responsive Politics« (CRP), das die Spendenflüsse in der US-amerikanischen Politik überwachen soll, standen Bush im Wahljahr 2000 insgesamt 176,4 Millionen Dollar zur Verfügung. Darin enthalten sind 67,56 Millionen Dollar aus der Staatskasse. Ein Großteil der gesammelten Spenden stammt aus der Finanzwelt, der Energieindustrie sowie der Immobilien- und Versicherungsbranche. Weitere bedeutende Spenden flossen aus der Rüstungsindustrie sowie der Agrar- und Transportindustrie. Unter dem Begriff »ideologische Spenden« wird die Waffenlobby verstanden, u.a. die National Riffle Association. Die über 600.000 kleinen Spenden, die aus allen Bevölkerungsschichten kamen und im Durchschnitt 99,63 Dollar betrugen, erklärte Bush zum »wahren Rückgrat« seines Wahlkampfes. Zwei Drittel der gesamten Spendensumme kamen jedoch lt. New York Times aus dem prall gefüllten Beutel der 139 »Regents« (Spenden von über 250.000 Dollar) und der Mitglieder des 1988 gegründeten »Teams 100« (Spender von 100.000 Dollar pro Jahr, heute sind das 600 Spender).

Dem Präsidentschaftsbewerber AI Gore standen im Wahljahr 2000 insgesamt 133,4 Millionen Dollar zur Verfügung. Darin enthalten sind etwas über 83 Millionen Dollar aus der Staatskasse. Der Großteil der von den Demokraten gesammelten Spenden stammt von den Gewerkschaften, der Unterhaltungsbranche und von Rechtsanwälten, die u.a. an den Klagen gegen die Tabakindustrie verdient haben. Gore wurde zudem von Interessengruppen unterstützt, so von Lehrerverbänden, Organisationen zum Schutz des Abtreibungsrechts und schließlich von Minderheitengruppen. Die Finanzwelt und teilweise auch die Rüstungsindustrie investierten ebenfalls in AI Gore, allerdings in einem geringeren Maße als in Bush. Einige Technologieunternehmen wie beispielsweise Loral Spacecom oder die Nahrungsmittelhersteller Slim-Fast-Food spendeten ausschließlich den Demokraten. In Gores Wahlkasse sammelte sich nicht zuletzt »soft money« von den Gewerkschaften an.

Den größten Brocken für die Bush-Kampagne steuerten die Banken und Versicherungen bei, nämlich 5,9 Millionen Dollar. Mehrere Quellen aus der Wall Street ließen wissen, dass Bush für den Aktienmarkt besser geeignet sei als sein Widersacher Gore. Vor allem die Aktien der Wertpapierhäuser, der Tabakindustrie, der Pharmafirmen und der Gesundheitskonzerne könnten durch den zweiten Bush im Weißen Haus profitieren. George W. Bush hatte sich im Vorwahlkampf dafür ausgesprochen, die von Präsident Clinton initiierte Klage der Bundesregierung gegen die Zigarettenhersteller fallen zu lassen. Sollten die Republikaner auch ins Repräsentantenhaus siegreich einziehen, könnten Tabak-Aktien nach Ansicht verschiedener Analysten zwischen 25 und 50 Prozent zulegen. Auch Großkonzerne der Branchen Erdöl, Erdgas, Bau und Chemie zeigten sich entschieden großzügiger für Bush, der sich schon als Gouverneur ein industriefreundliches Image erworben hat. Verschiedene Manager der genannten Branchen hoffen, dass Bush in Angelegenheiten des Umweltschutzes ein Auge zudrücken wird. Die texanischen Erdölbarone haben die politische Karriere von Bush seit jeher unterstützt. Nicht zuletzt die versprochenen Steuererleichterungen für die Großindustrie waren ein Grund dafür, Bush finanziell mehr zu unterstützen als seinen Gegenspieler Gore. Die Chemieindustrie beispielsweise stellte für Bush insgesamt 500.000 Dollar zur Verfügung, aber für Gore lediglich 40.000 Dollar. Von Bauunternehmen erhielt Bush 1,3 Millionen Dollar, Gore dagegen nur ein Drittel.

Als einziger Wirtschaftszweig stellte die Film-, Fernseh- und Musikbranche bis Juli 2000 für die Demokraten mehr Gelder zur Verfügung als für die Republikaner: Gore erhielt 928.000 und Bush 725.000 Dollar. Wahlkampfexperten recherchierten, dass die Branche rund 24 Millionen Dollar in den Vorwahlkampf des Jahres 2000 investierte. Lt. CRP flossen davon 61 Prozent an die Partei der Demokraten. Allein das Spenden-Dinner in der Filmhochburg Hollywood, bei dem die Kandidaten Gore und Lieberman ihren Kurswechsel angekündigt hatten, brachte die Rekordsumme von 4,2 Millionen Dollar für die Demokratische Partei ein.

Für die Spendengroßzügigkeit der US-amerikanische Unterhaltungsindustrie spielen solche Themen eine große Rolle wie Copyright-Schutz im Zeitalter des Internet, das Recht auf freie Meinungsäußerung, die Gebühren für das Kabelfernsehen und schließlich Kriterien, nach denen Filme für bestimmte Altersgruppen eingestuft werden. Filme und Musikproduktionen zählen bekanntlich zu den wichtigsten Exportgütern der USA, so dass auch die Entwicklung des künftigen Außenhandels ein wichtiges Thema für die Film-, Femseh- und Musikbranche der USA bleiben wird. Die genannte Breite der Themenpalette erklärt auch, warum die Spenden dieser Konzerne insgesamt gleichmäßiger auf die beiden Präsidentschaftsbewerber aufgeteilt wurden als in anderen Branchen.

Die Wahlkonvente der beiden großbürgerlichen Parteien hatten hauptsächlich die Sieger aus den Vorwahlen, deren ausgesuchte Vizepräsidentschaftskandidaten sowie die Wahlprogramme zu bestätigen. Die Republikaner wollten in Philadelphia ein Bild der Einheit und Geschlossenheit ihrer Partei vermitteln. Die Demokraten legten in Los Angeles besonderen Wert auf Kontinuität und Tradition.

Der bestätigte Präsidentschaftskandidat George W. Bush sollte als offen für die gesamte Anhängerschaft der Republikanischen Partei gelten. Er präsentierte sich als Motor des Wechsels im Weißen Haus und als Reformer für die Zukunft. Den konservativen Kreisen und speziell dem Militärisch-lndustriellen-Komplex versprach er die vorbehaltlose Unterstützung zur Erfüllung ihrer Forderungen nach kräftiger Erhöhung des Militärhaushalts um 25 Milliarden Dollar in den Jahren 2002 bis 2007 sowie die zügige Umsetzung des in den USA, Europa und Asien umstrittenen nationalen Raketenabwehrsystems National Missile Defense.

Die Grand Old Party, die bisher als Formation der Weißen, der Wohlhabenden und strammer Ideologen galt, sollte sich mit Hilfe des Schmusekurses eines »mitfühlenden Konservatismus« der wahlentscheidenden Mitte der Bevölkerung zuwenden und sich für Reformen vor allem auf den Gebieten der Erziehung und Sozialversicherung aussprechen. Besonderer Wert wurde darauf gelegt, dass die ethnischen Minderheiten Afroamerikaner, Latinos und Asiaten zu Wort kamen. Der erste schwarze Generalstabschef in den US-Streitkräften, Colin Powell, seit 1993 Armeegeneral im Ruhestand und seit April 1997 Vorsitzender der Regierungsinitiative »America's Promise«, vermittelte den Delegierten und Gästen des Konvents eine umfangreiche Portion Patriotismus und Stolz »auf so vieles, das gut und richtig in Amerika«, der »mächtigsten Nation auf der Erde« sei. Zugleich betonte er, dass der kritische Geist Lincolns nicht immer die Partei beseele. Armut, zerfallene Städte, Gewalt, Hoffnungslosigkeit, zwei Millionen Häftlinge, davon die Mehrheit Angehörige der Minderheiten in den USA, und Zynismus unter den Schwarzen seien anzuprangern. Einige Parteianhänger verdammten die »Affirmative Action«, die einigen tausend schwarzen Kids zu einer Ausbildung verholfen habe, und würden zugleich still halten, wenn Lobbyisten die Steuerprivilegien der reichen Amerikaner durchsetzten. Man sollte jedoch nie vergessen: »Die Welt schaut darauf, ob die Macht und der Reichtum der USA nur den Wohlhabenden und Privilegierten zu Gute kommen.«

Als seinen Vizepräsidentschaftskandidaten wählte Bush den im Washingtoner Establishment erfahrenen Politiker Richard Cheney (59) aus. Dieser bringt all das mit, was Bush fehlt, nämlich Stabilität, Intellekt, Reife und einen kolossalen Reichtum an Erfahrungen in der Politikszene von Washington. Mit 29 Jahren trat Cheney als Mitglied des Wirtschaftsgremiums »Office of Economic Opportunity« in den Dienst des Weißen Hauses ein. Knapp fünf Jahre später wurde er von Präsident Ford zum Stabschef des Weißen Hauses befördert. Im Kongress absolvierte Cheney sechs Amtsperioden als Mitglied des Repräsentantenhauses. Er galt als führender konservativer Politiker, unterstützte die Waffenherstellerlobby und lehnte konsequent Homosexuelle im Militärdienst ab. Cheney stellte sich hinter Präsident Reagans Weltraumraketenabwehrsystem »Star Wars« und eroberte sich die Sympathien der US-Rüstungsindustrie.

Unter Präsident Bush sen. diente Cheney als Verteidigungsminister. In seine Amtszeit fielen die Invasion der USA in Panama und der Golfkrieg mit der Operation »Wüstensturm« gegen Irak. Nach Beendigung seiner Regierungstätigkeit stieg Cheney in die Privatwirtschaft ein, und zwar als Vorstandschef des Wehr- und Öltechnik-Konzerns Halliburton. Seine Jahreseinkünfte von 26 Millionen Dollar möchte er der Vizepräsidentschaft opfern mit einem Jahresgehalt von 181.400 Dollar plus 10.000 Dollar Spesen, freies Wohnen und Benutzung von Air Force Two.

Das vom Konvent der Republikaner verabschiedete Wahlprogramm enthält sowohl Zugeständnisse an den rechten Flügel der Partei, vor allem bei der Abtreibung und Homosexualität, als auch Reformversprechen auf vielen Gebieten: die größte Steuerreform in der Geschichte der USA, wobei der größte Teil der Steuersenkungen den oberen Zehntausend zugute kommen soll, Verdoppelung der Kindergeldpauschale, Unterstützung für verschreibungspflichtige Medikamente nach Einkommenshöhe, mehr Geld für Collegestipendien, Alphabetisierungsprogramme, steuerfreie Sparbücher für Bildungszwecke bis 5000 Dollar, mehr Geld für Forschungsvorhaben, Senioren zwischen Privatversicherung und Medicare wählen lassen, verstärkte Ölförderung in Alaska und Förderung des Umweltschutzes, Bildung eines speziellen Fonds für Erntesicherung und mehr Steuererleichterungen für karitative Einrichtungen und Drogenhilfe in den Bundesstaaten.

Der bestätigte Präsidentschaftskandidat AI Gore sollte für die Demokraten als Garant zur unbedingten Fortsetzung der Wirtschaftspolitik seit den vergangenen acht Jahren gelten. Konjunktureller Aufschwung auf dem Hintergrund der ausgebrochenen lnternet-Ära und die damit verbundenen Produktivitätserhöhungen sollten auch durch die nächste Regierung gefördert werden. Durch Gore würde »das Wirtschaftswunder der 90er Jahre« nahtlos fortgesetzt. Die Schulden würden bis 2012 abgeschafft, so dass die USA nach 150 Jahren wieder schuldenfrei dastehen würden. Die derzeitige Verschuldung Washingtons von etwa 3,2 Billionen Dollar soll mit Hilfe von zwei Dritteln der zu erwartenden Haushaltsüberschüsse bis zum Jahr 2010 ausradiert werden. Die Gore-Anhänger verbinden damit niedrige Zinsen und anhaltende Investitionen zur Stimulierung von Wachstum und Wettbewerb in der Wirtschaft der USA.

Gore zufolge sei die Zeit gekommen, dass die in den USA noch existierenden »Mauern der Diskriminierung« aufgrund von Rasse, Geschlecht oder sexueller Orientierung niedergerissen werden. Er ist sich der Tatsache bewusst, dass die ethnischen Minderheiten im Wahljahr 2000 eine noch größere Bedeutung erhalten als 1996, da 88 Prozent der afroamerikanischen US-Wähler und 72 Prozent der Latinos für Clinton stimmten. Heute stellen Afroamerikaner 10 Prozent und Einwanderer aus Mexiko und Mittelamerika 7 Prozent der Wähler. Diese am stärksten wachsenden Bevölkerungsgruppen mit den höchsten Wachstumsraten werden in den kommenden Präsidentenwahlen ein immer größeres Gewicht erhalten. Voraussagen belegen, dass bis 2020 die Latinos die Afroamerikaner zahlenmäßig überholen. Bis spätestens 2050 soll der Anteil der europäisch-stämmigen US-Amerikaner auf unter 50 Prozent sinken. Ein Kommentator bemerkte dazu: »Kein Zweifel: Amerikas Politik wird bunter.«

Der Dachverband der Gewerkschaften AFL-CIO mit seinen 13 Millionen Mitgliedern und die bestehenden lndustriegewerkschaften sollen landesweit über 40 Millionen Dollar in den Wahlkampf für Gore investiert haben. Auf dem Nominierungskonvent der Demokraten stammten ein Drittel der Delegierten aus den Reihen der Gewerkschaften. Gore als außenpolitisch erfahrener Politiker hat um sich ein hochkarätiges Team außenpolitischer Berater geschart. Spitzenleute wie Leon Fuerth vom Weißen Haus, Außenministerin Madeleine Albright, Pentagonchef William Cohen und Präsident Clintons Sicherheitsberater Sandy Berger zählen zum sog. »Principals Committee«. Auch der bekannte UNO-Botschafter Richard Holbrooke macht sich Hoffnungen auf einen Ministerposten. Inhaltlich orientiert Gore auf die Fortsetzung der »moderat unilateralen Außenpolitik« unter Präsident Clinton.

Das vom Konvent der Demokraten verabschiedete 10-Punkte-Programm enthält viele Wahlversprechen: Die Zahl der US-Bürger, deren Einkommen unter der Armutsgrenze liegt, soll von gegenwärtig fast zwölf auf weniger als zehn Prozent gedrückt werden. Die Einkommen der Durch schnitts-Amerikaner sollen um ein Drittel gesteigert werden. Mehr Bürger als bisher sollen eine höhere Bildung und der Kauf eines Eigenheimes ermöglicht werden. Zum Teil soll dafür eine auf einzelne Bevölkerungsgruppen ausgerichtete Steuerpolitik sorgen. Arme Familien werden nach Gores Plan spezielle Steuerkredite erhalten. Eltern sollen vom Staat Geld erhalten, wenn sie ihre Kinder in Tagesstätten oder auf das College schicken. Auch der Ausbau der Krankenversicherung – gegenwärtig haben mehr als 42 Millionen US-Bürger keinerlei Versicherungsschutz – soll mit Hilfe von Steuernachlässen erfolgen. Kosten für die Umsetzung dieses gesamten Programms über die nächsten zehn Jahre hinweg gerechnet sollen 500 Milliarden Dollar betragen. Gore setzt dabei auf eine aktive kontrollierende Rolle des Staates.

Die Wahl des Senators Joseph Isadore Lieberman (58) durch Gore als sein Vizepräsidentschaftskandidat wurde in einem Leitartikel der New York Times als der dramatischste und vielleicht geschickteste Schachzug seiner Kampagne bezeichnet. Zwölf der 100 Senatoren in den USA sind jüdischer Herkunft. Tatsächlich ist in der bisherigen Geschichte der USA noch nie ein Politiker mit jüdischem Religionsbekenntnis für dieses hohe Amt vorgeschlagen worden. Jüdische Organisationen reagierten mit Stolz auf die Nominierung eines jüdischen »running mate« für Gore.

In den Medien der USA wird Lieberman als ein Politiker eingeschätzt, der im Übermaß das besitzt, was Gore fehlt, nämlich landesweit verbreitete Glaubwürdigkeit. Er war am 3. September 1998 der erste Senator der Demokratischen Partei, der in einer Rede den in der Lewinsky-Affäre geständigen Präsidenten Clinton scharf kritisierte: »Solch ein Verhalten ist nicht nur unangemessen, es ist unmoralisch und schädlich.« Er forderte eine Bestrafung Clintons mit einer Rüge des Kongresses. Lieberman gilt als Musterbeispiel für Anstand und Integrität.

Lieberman absolvierte die Elite-Universität Yale. Als Jurist war er 17 Jahre in der Lokalpolitik des Bundesstaates Connecticut tätig, u.a. von 1983 bis 1988 als Generalstaatsanwalt. Im Jahre 1988 wurde Lieberman als Senator gewählt. In den Senatsausschüssen für Verteidigung und Umweltschutz setzte er sich mehrmals für die Interessen von Rüstungskonzernen ein. Er gilt als Verfechter von freier Grundschulwahl, Schulgebet, Freihandel, Todesstrafe, freier Entscheidung der Frauen im Falle eines Schwangerschaftsabbruchs und strengerer Waffengesetze. In den vergangenen fünf Jahren amtierte Lieberman als Vorsitzender des Parteirats der Demokratischen Partei (Democratic Leadership Council). Er soll sehr einflußreich gewesen sein.

Auf die drei Fernsehduelle im Monat Oktober wurden Gore und Bush sowie Lieberman und Cheney generalstabsmäßig vorbereitet. Tagelang mußten sie vor den TV-Auftritten Fakten büffeln und Problemdebatten abhalten, bei denen Wahlkampfmitarbeiter in die Rolle des Gegners schlüpften. Scharen von Beratern, Drehbuchautoren, Psychologen und Spezialisten für verschiedene Themengruppen übten jeden Satz, jede Geste, jeden Gesichtsausdruck mit den Kandidaten ein. Ausländische Beobachter bemerkten, dass die beiden Präsidentenbewerber so umfangreich vorbereitet, trainiert und informiert worden seien, dass sie kaum noch selbst wüßten, wer sie eigentlich sind. Gore glänzte mit Sachkenntnis, Bush mit Charme.

In den Streitgesprächen dominierten inhaltlich die bereits bekannten Standpunkte und Haltungen sowohl zu innen- als auch zu außenpolitischen Themen. Der Schlagabtausch zwischen den Vizes wurde als interessant, aber wenig aufschlussreich eingeschätzt. Inhaltlich fehlten Antworten auf solche Themen, die den Durchschnittsamerikaner besonders interessieren. Die linksliberale Zeitschrift The Nation hatte zusammen mit dem Institute for Policy Studies eine Umfrage genau dazu gestartet und herausgefunden, 91 Prozent der Amerikaner sind besorgt darüber, dass sich 44 Millionen USA-Bürger keine Krankenversicherung leisten können. 74 Prozent würden gern die immer größer werdende Schere zwischen Arm und Reich zum Wahlkampfthema machen. 83 Prozent befürworten Freihandel (wie Gore und Bush), allerdings nur, wenn er an Arbeits-, Umwelt- und Menschenrechte gekoppelt ist, selbst wenn dies im Gegensatz zu Gore und Bush mit Wirtschaftsabschwung verbunden wäre. Und 80 Prozent wünschen sich, dass auch einmal solche außenpolitischen Themen wie der Atomwaffensperrvertrag oder die Rolle der UNO öffentlich debattiert würden. Dies geschah jedoch nicht.

Unter US-amerikanischen Wahlkampfexperten ist eine weitgehende Übereinstimmung feststellbar, nämlich dass die Fernsehdebatten das Rennen um das Weiße Haus nicht entscheidend verändert haben dürften und dass kein eindeutiger Favorit für das Präsidentenamt erkennbar wurde.

Konturen künftiger Regierungsprogramme

Als zentrale Wahl kampfthemen von Bush und Gore, die auch als Grundlage für Regierungsprogramme gelten können, stellten sich heraus:

Steuern
Bush will alle Einkommenssteuertarife allmählich absenken. Der Eingangssteuersatz soll bis auf zehn Prozent gesenkt werden. Der Spitzensteuersatz werde von 40 auf 33 Prozent gesenkt. Außerdem sieht Bushs Konzept Steuererleichterungen für Familien mit Kindern und die Abschaffung von Erbschaftssteuern vor. Die Kosten seines Programms belaufen sich bis 2010 auf schätzungsweise 1,3 Billionen Dollar. Größter Nutzen soll Leuten mit über 137.000 Dollar Jahreseinkommen zukommen.
Das Konzept von Gore sieht gezielte Steuererleichterungen für Familien etwa zur schulischen Ausbildung der Kinder, zur Kinderbetreuung, zur Betreuung Pflegebedürftiger, zur Sparförderung für das Alter oder für die Krankenversicherung vor. Er will die Erbschaftssteuer bei Bauernhöfen und Geschäften mit einem Wert bis zu fünf Millionen Dollar abschaffen. Steuererhöhungen im Umfang von 130 Milliarden Dollar sind bei bestimmten Firmentransaktionen und auf Tabakprodukte vorgesehen. Die Kosten von Gores Programm werden bis 2010 auf rd. 500 Milliarden Dollar geschätzt.

Raketenabwehr
Bush befürwortet die schnelle Entwicklung eines nationalen Raketenabwehrsystems (NMD). Er setzt dabei auf die Zustimmung Russlands für eine Änderung des ABM-Vertrages aus dem Jahr 1972. Sollte dies verweigert werden, droht Bush Abrüstungsverträge aufzukündigen.
Gore will die Technologie für eine begrenzte Raketenabwehr entwickeln. Mit Russland will er eine Änderung des ABM-Vertrages verhandeln. Präsident Bill Clinton hatte im September 2000 eine Entscheidung über die umstrittene Raketenabwehr verschoben und damit seinem Nachfolger überlassen.

Außenpolitik
Bush will die US-amerikanische Beteiligung an internationalen Friedensmissionen und an sonstigen Auslandseinsätzen der US-Streitkräfte beschränken. Solche Einsätze soll es nach seinem Willen nur noch geben, wenn US-amerikanische Interessen direkt betroffen sind. Er strebt das Ende der Rolle als Weltpolizist an. Die Europäer sollen höhere Beiträge für die NATO leisten. Er befürwortet ein schärferes Vorgehen gegen die Volksrepublik China, die er als »strategischen Konkurrenten« empfindet, hält aber an der Washingtoner Doppelstrategie fest. Peking wird dabei der Anspruch auf »ein China« zuerkannt, zugleich aber Taiwan militärisch unterstützt. Auch gegenüber Russland will Bush die Interessen der USA stärker betonen. Im Nahen Osten will er Israel noch deutlicher unterstützen. Bei den Vereinten Nationen soll die Zahlung der Beiträge von Reformen zugunsten der USA abhängig gemacht werden.
Gore befürwortet eine Fortsetzung der gegenwärtigen Außenpolitik. Er strebt nach einer Ausweitung des Begriffs »nationales Sicherheitsinteresse«, etwa auf globale Umweltprobleme oder Gesundheits- und humanitäre Fragen.

Gesundheitsvorsorge
Bush setzt im Bereich der Krankenversicherung verstärkt auf private Vorsorge. Geringverdiener sollen dafür steuerlich begünstigt werden. Die Kosten seines Konzepts belaufen sich über einen Zeitraum von fünf Jahren auf 48,6 Milliarden Dollar.
Gore will vorhandene staatliche Versicherungsprogramme ausdehnen; etwa durch die Absenkung bestehender Einkommensgrenzen und Aufnahme zusätzlicher Personengruppen. Daneben sollen bisher nicht versicherte Personen steuerliche Erleichterungen erhalten, um eine Krankenversicherung abzuschließen. Die Kosten für Gores Programm werden in den nächsten zehn Jahren auf 146 Milliarden Dollar geschätzt. Daneben will er zusätzliche neun Milliarden Dollar für die Krebsforschung bereit stellen.

Abtreibung
Bush will Frauen einen Schwangerschaftsabbruch nur dann erlauben, wenn sie vergewaltigt wurden oder ihr Leben gefährdet ist.
Gore befürwortet die Entscheidungsfreiheit der Frauen.

Todesstrafe
Sowohl Bush als auch Gore befürworten die Beibehaltung der Todesstrafe.

Waffenkontrolle
Bush will das Mindestalter für den Kauf von Schusswaffen auf 21 Jahre heraufsetzen. Ein Gesetz, das beim Kauf von Schusswaffen automatisch die Lieferung von Kindersicherungen vorsieht, hält er für nicht praktikabel; Bush würde ein solches Gesetz jedoch unterzeichnen. Im übrigen vertritt er die Ansicht, dass die bestehenden Gesetze nicht voll ausgeschöpft werden.
Gore will einen Waffenschein mit Lichtbild für künftige Waffenkäufer durchsetzen. Außerdem sollen Waffenhersteller und -verkäufer verpflichtet werden, die Behörden über den Verkauf von Waffen zu informieren. Gore will Kindersicherungen zur Pflicht machen und die Überprüfung von Waffenkäufern verstärken.

Handel
Bush spricht sich für weitere Handelsabkommen aus. Vorrangig ist er an einem Freihandelsabkommen für den gesamten amerikanischen Kontinent interessiert.
Gore ist ebenfalls für den Abschluss weiterer Handelsabkommen. Er will diesen auch Umwelt-, Arbeits- und Menschenrechtsstandards hinzufügen. Auch Gore ist an einer verstärkten Kooperation der USA mit den anderen Staaten des amerikanischen Kontinents interessiert.

Wahlkampffinanzierung
Bush und Gore sprechen sich für eine Reform der Wahlkampffinanzierung aus. Bush will u.a. die Pflicht zur Veröffentlichung von Spenden ausdehnen. Gore will die Finanzierung aus Steuermitteln verstärken. Außerdem sollen Wahlkampfspots im Fernsehen kostenlos sein.

Ausbildung
Bush befürwortet höhere Investitionen im Bildungssystem und Gutscheine an einkommensschwache Familien für den Besuch privater Schulen. Kosten: 26 Milliarden Dollar.
Gore befürwortet Investitionen ins öffentliche Schulsystem, höhere Gehälter für Lehrer. Kosten: 115 Milliarden Dollar.

Schuldenabbau
Gore will mit dem Haushaltüberschuss bis zum Jahr 2012 sämtliche Schulden in Höhe von 5.500 Milliarden Dollar tilgen.

Wahlergebnisse

Man muss in der Geschichte der USA bis auf das Jahr 1888 zurückgehen, als der Demokrat Grover Cleveland zwar eine klare Mehrheit an Wählerstimmen auf sich vereinigen konnte, jedoch keine Mehrheit der Wahlmänner. Präsident wurde der durch einige einflussreiche Politiker und Finanzleute aufgebaute Republikaner Benjamin Harrison. Ähnlich erging es im Dezember 2000 dem Demokraten Al Gore. Er musste mit ansehen, wie sein Vorsprung in der Gesamtauszählung USA-weit ständig wuchs, aber seine Chancen auf die Präsidentschaft gleichzeitig schrumpften. Das amtliche Wahlergebnis vom 13. Dezember 2000 lautete: 50.158.094 Stimmen für den Demokraten AI Gore und 49.820.518 für den Republikaner George W. Bush, d.h. 337.576 Wählerstimmen trennten die beiden Kandidaten. So groß wie an diesem Tag war Gores Vorsprung noch nie, da er sich durch das 5 : 4 Urteil der Obersten Richter geschlagen geben musste. Das Ergebnis im Wahlmännergremium lautete: 271 für Bush und 267 für Gore. Daraufhin entschloss sich Gore dazu, Staatsräson über Parteilichkeit zu stellen.

Gore hielt eine Rede wie noch nie zuvor: gehaltvoll, feurig und auch mit Humor gespickt. Er gestand die Niederlage ein und zog sich mit Würde aus der aktiven Politik der unmittelbaren Gegenwart zurück. Mit dem jüngsten, ihn betreffenden Urteil der Obersten Richter stimme er nicht überein, aber er akzeptiere »die Endgültigkeit des Ergebnisses«. Dies liege »im Interesse der Einigkeit unserer Nation und der Stärke unserer Demokratie«.

In seiner Antwortrede, der sog. ersten Ansprache an die Nation, rief George W. Bush zur Versöhnung auf: »Ich hoffe, das lange Warten der letzten fünf Wochen hat das Bestreben gestärkt, die Bitternis und das Lagerdenken zu überwinden... Amerikaner teilen Hoffnungen, Ziele und Werte, die wichtiger sind als alle politischen Meinungsverschiedenheiten.« Es bleibt aber Tatsache, dass das Amt des nächsten Präsidenten geschwächt ist. Es muss unbedingt ein Geist der Zusammenarbeit mit den Demokraten in die Führungsgremien der USA einziehen. Bush vermied, von einem Sieg zu sprechen.

Bei den Kongresswahlen – alle Repräsentanten und ein Drittel der Senatoren – wurde ein ebenso knappes Ergebnis vermeldet: Im künftigen Repräsentantenhaus ein hauchdünner Vorsprung von fünf Sitzen der Republikaner; im Senat eine Pattsituation von 50 : 50, so dass bei Kampfabstimmungen die Stimme des Senatspräsidenten den Ausschlag geben wird. Und dieser wird wiederum ein Republikaner sein, nämlich der kommende Vizepräsident der USA.

In den letzten 50 Jahren war bei bedeutsamen politischen Entscheidungen immer das Spannungsverhältnis zwischen dem Präsidenten und seinem Weißen Haus und dem gespaItenen Kongress von großer politischer Bedeutung. Jetzt befinden sich alle höchsten politischen Amter – Präsident, die Vorsitzenden beider Kammern im Kongress und der Vorsitzende des Obersten Gerichts – in der Verantwortung von Politikern aus den Reihen der Republikanischen Partei. Die Zukunft wird zeigen, wie sich diese neue Konstellation auf das gesellschaftliche Leben in den USA auswirkt.

»Unser Wahlsystem ist ein Rezept zum Chaos«

Diese Schlagzeile aus der Zeitung USA Today hat sich im Wahljahr 2000 bestätigt. An Wahlsystemen waren vorzufinden vom traditionellen Bleistiftkreuz über das im Bundesstaat Florida zur zweifelhaften Berühmtheit gekommene Lochkarten stanzen bis hin zu modernen elektronischen und computergestützten Wahlmaschinen. In den 50 Bundesstaaten, in der Hauptstadt Washington D.C. und in 3141 Bezirken sind überall eigene Regeln für das Wahlsystem vorzufinden. Norman Omstein vom American Enterprise Institute unterstreicht: »Bis auf die Müllabfuhr ist kaum eine öffentliche Aufgabe so dezentralisiert wie die Wahlorganisation«.

In den USA gibt es kein Bundesgesetz, in dem das Wahlverfahren für das ganze Land einheitlich geregelt wäre. Die Wahlen fallen in die Zuständigkeit der Bundesstaaten. Selbst in den verschiedenen Wahlkreisen eines Bundesstaates können unterschiedliche Wahlmethoden zum Einsatz kommen, abhängig einzig und allein vom örtlichen Wahlleiter. In einer ganzen Reihe von Wahlkreisen des Bundesstaates Florida beispielsweise wurde ein Wahlverfahren angewandt, das noch aus der Steinzeit der Computer stammt. Dort standen in jedem Wahllokal mehrere Votomatic-Maschinen, in denen der Wähler seine Wahlentscheidung auf eine Lochkarte stanzte. Seit etwa 25 Jahren werden solche Anlagen in der professionellen Datenverarbeitung nicht mehr eingesetzt. Diese Maschinen sind höchstens noch in Museen zu bewundern. Natürlich können bei jedem technischen Verfahren Fehler auftreten, aber beim Lochkartenverfahren viel mehr als sonst. Unter anderem deswegen bestimmten absurde Szenen die nahezu chaotische Nachwahlsituation in einigen Wahlkreisen Floridas. Da stürmten Polizisten des Sheriffs von Broward County das Hurricane-Lagezentrum von Fort Lauderdale, in dem mehr als 60 Wahlhelfer damit beschäftigt waren, strittige Abstimmungskarten per Hand nachzuzählen. Mit geradezu äußerster Akribie stellten die Ordnungshüter 78 kleinste Papierschnitzelchen sicher. Das waren Ausstanzungen, die beim Wahlvorgang nicht vollständig von der Abstimmungskarte getrennt wurden und nun herabgefallen waren. Die Polizisten tüteten ihre »Beute« in Umschläge ein, die mit der Aufschrift versehen waren: »Verbrechen: Tatortfunde«. Für republikanische Politiker galt dies als hinreichender Beweis für die Absicht der Demokraten, AI Gore den Sieg nachträglich doch noch zuzuschanzen.

Die Los Angeles Times ließ in 42 über das ganze Land verstreute Bundesstaaten eine Studie über das Wahlsystem mit dem Ziel anfertigen, Unregelmäßigkeiten während der Wahlen herauszufinden. Man fand ein »schwammiges System vor, dem nur zu vertrauen ist, wenn das Kandidatenrennen nicht zu knapp ist... weil Stimmen gekauft, gestohlen, falsch gezählt, verloren, weggeschmissen oder nach Dänemark geschickt worden waren. Es weiß niemand genau, wie viele Stimmen bei amerikanischen Wahlen nicht gezählt werden.« Einige der krassesten Beispiele: In Alaska waren mehr Menschen in die Wählerlisten eingetragen als es Bewohner im wahlberechtigten Alter gab. In Texas gab es »Stimmhuren«, die Leuten einen Gefallen tun, um deren Briefwahlunterlagen zu erhalten. In einigen Fällen kauften die Stimmensammler Unterlagen oder stahlen sie aus Briefkästen. In Indiana, wo Wähler sich per E-Mail und an Führerscheinstellen registrieren lassen konnten, wimmelten die Wählerverzeichnisse von Toten, Schwerverbrechern und mehrfach Registrierten. In Wisconsin gestanden Studenten der Los Angeles Times, dass sie ihre Stimme bis zu vier Mal abgegeben hätten.

Die Los Angeles Times hob hervor, dass der hauchdünne Abstand zwischen Gore und Bush sowie das an den Wahltag anschließende juristische Gezerre in einigen Bundesstaaten und ganz besonders das im Bundesstaat Florida die Aufmerksamkeit auf ein veraltetes und dringend reformbedürftiges Wahlsystem gelenkt habe. Wahlbeobachter und Wahlanalysten in den USA sollten Vorschläge für eine möglichst tiefgreifende Reform des Wahlsystems unterbreiten, damit Kongressmitglieder bald handeln und ein Gesetz mit bestimmten Eckpunkten – gültig für das gesamte Land – einbringen und verabschieden können.

Unabhängige oder dritte Parteien

Repräsentanten von insgesamt 34 dritten Parteien gelangten im Wahljahr 2000 auf Wählerlisten, die meisten nur in einigen wenigen oder nur in einem Bundesstaat. Es sind in allererster Linie strenge Gesetze in den Bundesstaaten, die es dritten Parteien erschweren, überhaupt auf die Wahlzettel zu kommen und auf diese Art und Weise von den Wählern wahrgenommen zu werden. In einflußreichen Tageszeitungen der USA wurden die Parteien jenseits der major parties als »boshafte Störfaktoren der amerikanischen Demokratie« bezeichnet. In Wirklichkeit formierte sich besonders in den letzten Jahren ein Wahl- und Aktivistenpotenzial, das von dritten Parteien zu Recht als Grundlage für ihr berechtigtes Wirken begriffen wird. Das bis jetzt zementierte Zweiparteiensystem wird außerdem durch die gegebene Wahlfinanzierung einseitig bevorzugt, denn erst ab fünf Prozent erzielter Wählerstimmen kann eine dritte Partei staatliche Wahlgelder erhalten und für sich nutzen. An drei Beispielen wollen wir zeigen, welche Forderungen bestimmter Wählerschichten gerade durch dritte Parteien unterstützt werden.

Green Party:
die progressive Kraft gegen das Zweiparteiensystem

Noch deutlicher als im Wahljahr 1996 spielte in diesem Jahr die Green Party eine bedeutsame Rolle, insbesondere durch ihren Präsidentschaftskandidaten Ralph Nader. Galt er 1996 eher noch als eine Symbolfigur für den Wahlkampf der Grünen, so demonstrierte er im Jahre 2000 seine Bereitschaft, sich besonders für die Interessen junger Leute, der Globalisierungsgegner in den USA und der Protestwähler gegen das Washingtoner Establishment mit aller Kraft einzusetzen. Sein Ziel, in mehr als 40 Bundesstaaten auf die Wahlzettel zu gelangen, hat er zwar erreicht, aber mit nur 2,7% der Wählerstimmen hat er sein Wahlziel von über fünf Prozent nicht geschafft. Dadurch können die Grünen bei den Wahlen im Jahre 2004 nicht in den Genuss staatlicher Fördermittel in Höhe von sieben Millionen Dollar gelangen. 1996 erreichten die Grünen mit dem Einsatz von 5000 Dollar für Nader 567.000 Wähler. Das war ein Prozent aller Wähler. Im Jahre 2000 waren für Ralph Nader neben 35.000 freiwilligen Wahlhelfern auch 40 fest angestellte Aktivisten mit einem Millionenetat tätig. Noch ist der Weg weit, die Partei der Grünen zu einer dritten politischen Kraft in den USA zu entwickeln, aber wichtige Meilensteine wurden erreicht. Viel wird davon abhängen, welche linken politischen Kräfte und Parteien im Jahre 2004 bereit sind, die Kandidatur Naders zu unterstützen.

Auf dem im August 2000 stattgefundenen Konvent der Green Party wurde Ralph Nader mit großer Mehrheit zum Präsidentschaftskandidaten gekürt. Als Kandidatin der Partei für den Vizepräsidenten der USA wählte Nader wiederum, wie bereits 1996, die zur Führung der Greenpeace gehörende, als Direktorin des Umweltschutzprogramms »Seventh Generation Fund« bekannt gewordene und aus indianischen Kreisen stammende Winona La Duke. Vor begeisterten 1000 Zuhörern rügte Nader die »maßlose Konzentration von Macht und Reichtum in den Händen von Wenigen« in den USA. Er kritisierte bewusst durch Großunternehmen verursachte Umweltschäden, Korruption, urbane Armut und den Niedergang von Farmen in Familienbesitz. Sein Programm umfasst zusammen mit dem Umweltschutz die Forderung nach einer allgemeinen Krankenversicherung für alle USA-Bürger, das Eintreten gegen Freihandel und die Welthandelsorganisation WTO unter der Losung »Fair Trade not Free Trade« sowie eine gründliche Reform der Parteienfinanzierung. Außenpolitisch plädierte Nader für eine weltweite Förderung der Demokratie und für eine präventive Diplomatie.

Seine Präsidentschaftskandidatur begründete Ralph Nader nicht zuletzt damit, dass die beiden Kandidaten Gore und Bush der Sache nach praktisch austauschbar seien. Die Wähler in den USA bräuchten jedoch eine Alternative: »Wenn Gore es nicht einmal schafft, den schusseligen Gouverneur von Texas mit seiner schrecklichen Politik zu besiegen, frage ich mich, wozu er überhaupt fähig ist.« In Bush sieht Nader »einen als Mensch verkleideten Großkonzern«. Gleichzeitig nimmt er Anstoß an Gores Inkonsequenz: »Seinem Betrug an den liberalen Prinzipien sind keine Grenzen gesetzt. Der einzige Unterschied zwischen den Kandidaten wird sich dann herausstellen, wenn man sieht, wer schneller vor den lndustrielobbyisten in die Knie gehen wird.«

Im Verlauf des Wahljahres 2000 tauchte in vielen politischen Kommentaren über den sog. Nader-Faktor immer wieder die These auf, dass Wählerstimmen, die bei früheren Wahlen dem Kandidaten der Demokratischen Partei zufielen, im Jahre 2000 an den Kandidaten der Grünen gehen könnten. Linke Wähler, besonders junge Umweltschützer, Aktivisten an Universitäten und Colleges, von der Demokratischen Partei enttäuschte Gewerkschafter, sozial orientierte Mitglieder der Demokratischen Partei und sympathisierende sonstige Nichtwähler könnten sich dazu entschließen, Ralph Nader ihre Stimme zu geben. Linke Anhänger der Demokratischen Partei nannten als Verfehlungen während der achtjährigen Präsidentschaft von Bill Clinton: Mindestlöhne, die viele US-Bürger unter die Armutsgrenze gebracht haben; antigewerkschaftliche Handelspolitik; Boom der Versicherungskonzerne statt Krankenversicherung für alle Staatsbürger der USA; Gefängnisse überall im Lande im Ergebnis eines vor sich gehenden »Drogenkrieges« und schließlich frauenfeindliche Sozialstaatsreform.

Zu Beginn des Wahljahres 2000 bezeichneten Mitglieder im Wahlkampfteam Gores den Kandidaten der Grünen lediglich als einen Rebellen, dem zwar ein paar Prozentpunkte an Wählerstimmen zuzutrauen seien, der aber den Ausgang der Wahlen nicht beeinflussen könne. Später wurden Zweifel an solchen Einschätzungen laut. Im Gore-Lager wurden die Befürchtungen über einen tatsächlich starken Einfluss von Nader in einigen Bundesstaaten so stark, dass sich AI Gore in einer Wahlkampfrede im Oktober dazu entschloss, den »Verbraucheradvokaten« frontal anzugreifen. Wer Nader seine Stimme gäbe, votiere »für die Ölmulties, für Umweltverschmutzung, für George W. Bush. Letzten Endes geht es nur darum, AI Gore zu besiegen.« Ob es am 7. November 2000 bei den Wahlen tatsächlich einen Nader-Faktor gegeben hat (wie und wo, in welchem Umfang) oder ob nicht andere gewichtigere Gründe das endgültige Wahlergebnis beeinflusst haben, wird eine später zu treffende Wahlanalyse zeigen.

In den 45 Bundesstaaten der USA, in denen Ralph Nader zur Wahl angetreten war, erhielt er 2.842.567 Stimmen. In den Bundesstaaten Minnesota und Colorado waren es deutlich mehr als 5 Prozent sowie in den hart umkämpften Bundesstaaten Oregon und Wisconsin über vier Prozent. Zur Anhängerschaft Naders gehörten nicht nur »Freunde der gefleckten Eule«, der »Rotbuch-Bäume« und der »springenden Lachse«, wie sich eine Reihe Naturfreunde nennen, sondern viele mit der Herrschaft großbürgerlicher Parteien unzufriedene Bürger der USA und Aktivisten linker Bewegungen.

Auf der Wahlparty der Grünen am 7. November 2000 erklärte Ralph Nader: »Wir werden die großen Parteien weiter herausfordern und uns als progressive Bewegung etablieren.... Dies ist erst der Anfang. Wir sind die am schnellsten wachsende Partei des Landes und werden in den künftigen Wahlen weiter zulegen.« Genau diese Vorstellung der Zukunft der Grünen bekräftigte der bereits zitierte deutsche Schriftsteller Peter Schneider: »Was die Kampagne des Verbraucheranwalts Ralph Nader langfristig erfolgreich machen könnte, ist das wachsende Unbehagen vieler Amerikaner, dass ihr ganzes Leben rund um die Uhr durch einige große Weltkonzerne dirigiert und bestimmt wird. Das Leben gehört nicht mehr den Menschen, sondern den großen Multis. Ich glaube, dass sich dagegen in den nächsten Jahrzehnten ein ständig wachsender Protest erheben wird. Erstmals glaube ich, könnte eine dritte Partei langfristig Aussichten auf Erfolg haben«.

Reform Party:
aus der liberalen Sammlungsbewegung wurde ein rechtsextremes Sammlungsbecken

Im Wahljahr 2000 trat die 1995 gegründete Reform Party mit zwei Präsidentschaftskandidaten an. Dies war das Resultat tiefer Spaltungen, die sich in den letzten Jahren innerhalb der Partei vollzogen haben. 1997 traten mehrere hunderte Parteiaktivisten aufgrund großer Unzufriedenheit mit dem autoritären Führungsstil des Gründers der Partei, Ross Perot (Multimilliardär aus Texas und Präsidentschaftskandidat in den Jahren 1992 und 1996), aus der Partei aus und schlossen sich den Grünen an. 1998 verließen die um den Gouverneur von Minnesota, Jesse Ventura, gescharten Mitglieder die Partei mit dem Argument, dass die Reform Party hoffnungslos funktionsunfähig geworden sei. Ventura rief zur Unterstützung von Ralph Nader auf. Schließlich kam es im August 2000 auf dem Konvent der Reform Partei zur endgültigen Spaltung. Ein Teil der Delegierten zog aus Protest gegen Pat Buchanan aus dem Tagungsraum aus und wählte einen eigenen Kandidaten, nämlich den Nuklearphysiker John Hagelin, der 1992 und 1996 als Vorsitzender der Natural Law Party als Präsidentschaftskandidat kläglich gescheitert war. Als seinen Vize wählte er Nat Goldhaber (wie Lieberman US-Bürger jüdischer Herkunft). Die verbliebenen zwei Drittel der Delegierten bekannten sich zu Pat Buchanan als Präsidentschaftskandidaten der Reform Party. Aufgrund des Wahlergebnisses von 1996 (rd. acht Millionen Wählerstimmen) standen der Reform Party staatlich gestützte Wahlkampfgelder von 12,6 Millionen Dollar zu. Beide genannten Kandidaten klagten um diese finanziellen Zuschüsse, die schließlich von der Bundeswahlkommission an Buchanan vergeben wurden.

Der erzkonservative Politiker Pat Buchanan aus den Reihen der Republikanischen Partei hatte im Herbst 1999 seine Partei im Zorn verlassen. Er entschloß sich, die Nominierung der Reform Party an sich zu reißen und die einst liberale Sammlungsbewegung auf seinen rechtsextremen politischen Kurs einzuschwören, was ihm schließlich auf dem Konvent gelang. Der einstige Redenschreiber von Präsident Nixon, Chef des Kommunikationsbüros im Weißen Haus unter Präsident Reagan und in den USA landesweit bekannter Fernsehkolumnist ist dafür bekannt, Anti-Globalismus und Isolationismus mit rassistischer Demagogie sowie Frauen- und Schwulenfeindlichkeit zu verbinden. In seinem jüngst erschienenen Buch hat sich Pat Buchanan zu Fehleinschätzungen des Zweiten Weltkrieges verstiegen. Er argumentierte, dass die »vitalen Interessen« der USA nie von Hitler bedroht worden seien. Nach »Mein Kampf« hätte der territoriale Expansionswahn Hitlers nur im Osten gelegen. Präsident Roosevelt hätte Hitler und Stalin ihren Krieg allein ausfechten lassen sollen. Ohne die Beistandsverpflichtung Großbritanniens und Frankreichs gegenüber Polen, so Buchanan wörtlich, »hätte es womöglich kein Dünkirchen, kein Vichy, keine Vernichtung der Juden« gegeben.

»America first« steht für Buchanan als Losung gegen den Freihandel, aktuell insbesondere gegen den Handelsvertrag zwischen den USA und der Volksrepublik China, gegen die Gewährung besonderer Förderung der ethnischen Minderheiten in den USA, gegen die freie Entscheidung der Frauen für Abtreibung, gegen zunehmende Einwanderungen und gegen die »Israeli-Lobby«. Auf dem Parteikonvent schlug Buchanan als Vizepräsidentin die 62jährige Afroamerikanerin Ezola Forster vor, die sich im Bundesstaat Kalifornien gegen lmmigrantenzuwachs engagiert, für die Konföderiertenfahne als Symbol der Sklavenhalter im Süden der USA eintritt und als Mitglied in der konspirativen »John-Birch-Society« tätig ist. Forster sollte ein hohes Stimmenpotenzial in den farbigen Bevölkerungsgruppen erschließen helfen. Das Wahlergebnis vom 7. November 2000 mit 448.474 Wählerstimmen bzw. 0,43 Prozent für Buchanan/Forster zeigt deutlich, dass Buchanan bei der Wählerschaft der USA nie als ein echter Repräsentant der Reform Party angekommen ist. Der Partei, sollte sie bis 2004 überleben, stehen dann keine Millionen Wahlkampfgelder zur Verfügung. Das in politischen Kommentaren vorausgesagte Ende der Reform Party könnte tatsächlich eintreten.

Socialist Party:
Vergesellschaftung und Entmachtung des big business

Die Socialist Party wurde im Wahljahr 2000 durch den Präsidentschaftskandidaten David McReynolds vertreten. Der heute 72-Jährige in New York wirkende Sozialist weigerte sich Anfang der 50er Jahre, am Koreakrieg teilzunehmen. Von 1960 bis 1999 arbeitete er als Organisator bei der pazifistischen »War Resisters League«. McReynolds machte 1980 als erster offen auftretender homosexueller Präsidentschaftskandidat für die Socialist Party Schlagzeilen. Er wurde im Laufe seiner politischen Karriere mehr als ein Dutzend Mal wegen Teilnahme an Friedens-, Bürgerrechts- und Gewerkschaftsdemonstrationen festgenommen. Für die Vizepräsidentschaft wählte er die Hausfrau Mary Cal HoIlis aus. Beide hatten für den Wahlkampf ganze 40.000 Dollar zur Verfügung. Sie wurden von etwas mehr als tausend Mitgliedern ihrer Partei unterstützt. Ihnen ging es in der Hauptsache darum, eine Bewegung aufbauen zu helfen, die die Linken aus ihren Verstecken herausholt, um wieder aktiv zu werden. Schließlich sollte die Legitimität der sozialistischen Idee für die USA bekräftigt werden: »Unser Symbol ist die rote Nelke, und zu unseren besten Zeiten bekamen wir fast eine Million Wählerstimmen.«

In ihren Wahlkampfreden nannten McReynolds/Hollis als Ziele ihrer sozialistischen Partei: Die Umwandlung des Kapitalismus in eine demokratische sozialistische Gesellschaft. Die Überführung solcher Konzerne wie IBM und Microsoft in sozialistisch geführte Betriebe. Die Entmachtung des Militärisch-lndustriellen Komplexes in den USA, der die gesamte Welt mit Waffen versorgt. Für die arbeitende Bevölkerung ein zu zahlendes Maximalgehalt um das Zehnfache des gegenwärtigen Mindestlohnes. Die Formierung einer antikapitalistischen Bewegung mit einem großen Entwicklungspotenzial.

Die Socialist Party war zur Wahl 2000 nur in sieben Bundesstaaten zugelassen worden. David McReynolds Hoffnung, wenigstens 4000 bis 5000 Wählerstimmen zu erhalten, ist weit übertroffen worden. In fast allen Fragen stimmten die Sozialisten mit Ralph Nader überein. Zwei wesentliche Unterschiede blieben jedoch bestehen: Nader ist kein Sozialist, was dieser immer wieder betonte. Und zweitens unterschätze Nader das gegebene politische System in den USA; denn selbst für die kleinste Reform seien Massen- und bedeutende Wahlbewegungen erforderlich.

Wahlkampffinanzierung in den USA

1974 unterschrieb Präsident Gerald Ford das vom Kongress verabschiedete und bis heute geltende Parteispendengesetz. Ausgelöst hatte der Journalist Brit Hume zwei Jahre vorher eine heiße Diskussion speziell zur Wahlkampffinanzierung. Ihm war ein internes Memorandum eines Telekommunikationskonzerns zugeleitet worden, in dem dieses Unternehmen 400.000 Dollar zur Finanzierung des republikanischen Parteikonvents versprach, aber dafür als Gegenleistung ein Entgegenkommen der Regierung in einem anstehenden Kartellverfahren gegen das Unternehmen erwarte. Dieser Finanzierungsskandal erschütterte das Vertrauen vieler US-Bürger derart, dass sich Repräsentanten der beiden groß bürgerlicher Parteien zusammenrauften, um auf gesetzlichem Wege den Einfluss des Big Business zu verringern.

Das 74er Parteispendengesetz sicherte beiden Parteien jeweils 5,5 Millionen Dollar zur Finanzierung ihrer alle vier Jahre stattfindenden Parteikonvente zu. Im Jahre 2000 ist dieser Zuschuss auf 13,5 Millionen Dollar angewachsen. Die Organisationskomitees der Republikaner in Philadelphia und der Demokraten in Los Angeles hatten in der Tat mehr als 100 Millionen Dollar an direkten Zuwendungen aus der Wirtschaft zur Verfügung. Sprecher beider Parteien versicherten, dass Zuschüsse von privaten Geldgebern ein fester Bestandteil moderner Politik seien. »Besondere Bevorzugungen der Sponsoren erwüchsen daraus jedoch nicht.«

Die in den USA für das Wahlkampfjahr 1996 aufgewendeten 2,7 Milliarden Dollar galten bis dahin als die teuersten Ausgaben für den Kampf um die Macht. Es bewahrheitete sich die Aussage des einst mächtigen Senators »Tip« O'Neill: »Geld ist in Amerika die Muttermilch der Politik.« Sein Parteifreund Robert Bird wurde noch deutlicher: »Ideen? Prinzipien? Programme? Nein. Geld allein ist der große Herrscher und Beweger der amerikanischen Politik.« Präsident Bill Clinton hatte sich mit Leidenschaft dem Geldverdienen mit der Macht verschrieben: Ein atemberaubendes Jogging mit dem Präsidenten war für 10.000 Dollar zu kaufen. Für 20.000 Dollar konnte man mit ihm Kaffee trinken. Ein Dinner kostete 100.000 Dollar. Eine Golfparty mit Clinton war für den gleichen Preis zu haben wie eine Nacht in Lincolns Schlafzimmer im Weißen Haus. Und ab 150.000 Dollar waren Botschafterposten zu kaufen. Es wird geschätzt, dass der nach acht Jahren scheidende Clinton seiner Partei auf diese Art und Weise mehrere Milliarden Dollar eingebracht hat.

Der republikanische Senator McCain und sein demokratischer Kollege Russ Feingold hatten im Wahljahr 1996 Gesetzesvorschläge zu einer Reform der Wahlfinanzierung und vor allem zum Kampf gegen die »Soft-Money« eingebracht: »Wir laufen Gefahr, dass Amerika sein wichtigstes Geburtsrecht verliert, wonach jede Stimme der Bürger gleiches Gewicht hat. Das trifft nicht mehr zu. Wir befinden uns statt dessen auf dem Wege zu einer Geschäfts-Demokratie.« Mit ihren Vorschlägen liefen die beiden Senatoren gegen eine Mauer des Widerstandes. Ein Verbot, Wahlgelder zu spenden, wäre gleich ein Verstoß gegen die Verfassung, die die Redefreiheit der US-Bürger garantiere. Auch im Wahljahr 2000 war von einer ganzen Reihe US-Politikern, insbesondere von Senator McCain, die Forderung nach einer Reform der Wahlfinanzierung vertreten worden. Bill Bradley, bei der Nominierung des Präsidentschaftskandidaten der Demokraten gegen AI Gore unterlegen, schätzte die Aussichten auf eine Reform des Parteispendenwesens in den USA ganz nüchtern ein: »Wir werden zu keiner Reform gelangen, solange nicht drei Bedingungen erfüllt sind. Erstens: Es muss eine Basisbewegung gegen das bestehende Unwesen geben; die Leute müssen erkennen, dass sie am Ende draufzahlen. Zweitens: Die Wortführer von Wirtschaft, Bildung und Religion müssen sich zusammentun und allen klarmachen, dass das bestehende System nicht im Interesse der Bürger ist. Drittens: Wir brauchen einen Präsidenten, der seine Machtposition zugunsten einer Reform einsetzt. Gelingt das nicht, wird unsere Demokratie untergraben.«

Die im Parteispendengesetz festgelegten Obergrenzen für Spenden, die direkt an einen Kandidaten gehen (1.000 Dollar von einem US-Bürger und 5.000 Dollar von einer Firma) bzw. Zahlungen an Parteien und Unterstützungskomitees in Höhe von 25 000 Dollar, die ihrerseits Wahlkampfspenden an bestimmte Kandidaten verteilen, wurden in den letzten Jahren großzügig umgangen, indem harte Wahlkampfdollar (»Hard-Money«) zu weichem Geld (»Soft-Money«) deklariert werden. 1988 hatte der Schatzmeister des demokratischen Präsidentschaftskandidaten Michael Dukakis herausgefunden, dass für Spenden, die der »Stärkung von Parteien« oder »allgemeinen politischen Anzeigen« dienen, keine Obergrenzen gelten, einzige Auflage, in Anzeigen und TV-Spots müssen direkte Aufforderungen wie »Wähle Kandidat X« unterbleiben.

Dieser Gummiparagraph verhalf sowohl den Demokraten als auch den Republikanern zu Einnahmen in schwindelerregender Höhe: 1992 addierten sich die Soft-Money-Zuwendungen auf 86,2 Millionen Dollar, 1996 waren es immerhin schon 262 Millionen, und für die Wahlkampffinanzierung im Jahre2000 durch »weiche Gelder« erwartete die private Aufsichtsorganisation »Common Cause« ein Überschreiten der Marke von 750 Millionen Dollar.

Die jüngste Variante trickreicher, den offiziellen Gesetzen entgegenlaufender Formen der Wahlkampffinanzierung trägt den unverfänglichen Namen 527, benannt nach einem Paragraphen aus der Steuergesetzgebung. Die vor diesem Hintergrund gegründeten gemeinnützigen Organisationen müssen keine Rechenschaft mehr ablegen, weder bei der Bundes-Wahlkommission noch bei den Steuerbehörden. Diese Tarnorganisationen haben sich als ideale Waschanlagen für Spenden von Lobbyistenverbänden, Konzernen und Gewerkschaften erwiesen. Die sog. »Stealth-Gelder« kommen zudem von Gruppen, die sich verdächtig-unverdächtige Namen geben wie »Amerikaner für wirtschaftliches Wachstum«, »Bürger für Reformen« oder »Koalition zum Schutz von Amerika«. Selbst Experten auf dem Gebiet der Parteienfinanzierung geben zu, dass die bereits vorhandenen und noch zunehmenden Geldströme in der Politik nicht mehr zu kontrollieren sind.

Die Bundes-Wahlkommission sagte für das Jahr 2000 voraus, dass US-Politiker wahrscheinlich ca. drei Milliarden Dollar für Umfragen, Beraterteams, Fernsehspots und Werbebroschüren ausgeben werden. Diese astronomische Summe stellt die Ausgaben im Präsidentschaftswahljahr 1996 weit in den Schatten. Finanzgruppen, Banken, Versicherungen, große Industriekonzerne der unterschiedlichsten Branchen und die Gewerkschaften führten die Spendenlisten für beide großbürgerlichen Parteien an. Sie spielten sozusagen auf beiden Klavieren. Bei der Republikanischen Partei werden Spender in Höhe von 100.000 Dollar in die Gruppe der »Pioniere« aufgenommen bzw. erhalten einen Platz im »Business Leadership Trust«. Für 200.000 Dollar ist die Aufnahme in die Luxusklasse »Republikanische Regenten« gesichert. Bei der Demokratischen Partei gehören Spender von einer halben Million Dollar zum »Chairman's Circle«, womit zugleich auf dem Parteikonvent in Los Angeles ein entsprechender Platz in der VIP-Lounge verbunden war. Die großzügigsten Spender von mehr als einer Million Dollar gelten als »Platin-Sponsoren«. In Philadelphia genossen bei der Republikanischen Partei diesen Status solche Konzerne wie Microsoft, Lockheed, Boeing, McDonnell Douglas, General Motors, das Kurierunternehmen UPS, die Fluggesellschaft US Airways sowie eine Reihe sehr reicher Einzelunternehmer.

Die Fachzeitschrift Congressional Quarterly Weekly fasste das Ergebnis einer Studie zur Wahlkampftinanzierung in den USA mit den Worten zusammen: »Zugang kaufen, heißt Einfluss kaufen« und zitierte den berüchtigt gewordenen Spendenjäger der Demokratischen Partei, Johnny Chung: »Mit dem Weißen Haus ist es wie mit der U-Bahn. Man muss Geld reinstecken, damit sich die Türen öffnen.«

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