5. September 2022 Hinrich Kuhls: Eine neue Premierministerin und die Zuspitzung der Krisen in Großbritannien

Die Radikalisierung der Brexit-Regierung

Die britische Regierungspartei, die Conservative and Unionist Party, hat inmitten der Legislaturperiode ihren bisherigen Leader, Boris Johnson, gefeuert und die Leitung des Kabinetts in neue Hände gelegt. Tory-Kabinett und Tory-Fraktion duldeten Johnsons Missmanagement und seine unflätigen Oberschicht-Allüren nur solange, bis seine Lügenhaftigkeit die britische Konservative Partei in Misskredit brachte. Als Brexit-Bringer war Johnson die Personifikation des englischen Nationalismus, als Lügner war er zu einer Bedrohung des Machterhalts geworden für jenen Teil der Eliten, der die politische Verwaltung der Staatsgeschäfte an der Fiktion der Überlegenheit der englischen Nation ausrichtet.

Die Dominanz des rechtspopulistisch konnotierten Nationalismus ist in der Wahlbevölkerung im größten Landesteil England nicht erodiert, auch wenn der erzwungene Abgang Johnsons und die folgenden Schlammschlachten um den Tory-Vorsitz die Zustimmungswerte für die Konservative Partei gegenüber dem Erdrutschsieg bei der Parlamentswahl im Dezember 2019 haben einbrechen lassen. Desgleichen haben sich in der Tory-Partei die nationalistischen und rechtspopulistischen Einstellungen nicht gelockert, sondern verfestigt. Insofern war seit Beginn des Auswahlverfahrens für die neue Parteispitze, dann bei den öffentlichen und parteiinternen Vorstellungsrunden und schließlich bei der Briefwahl der rund 160.000 Tory-Mitglieder offensichtlich, dass nur die Kandidatin oder der Kandidat obsiegen kann, die oder der für die Zukunft innenpolitisch und außenpolitisch eine härtere autoritäre Gangart verspricht.[1]

Zum Jahreswechsel 2021/2022 war Johnsons Lügengebäude erstmals ins Wanken geraten, als er zu vertuschen versuchte, dass er und ein Großteil seines Stabs in der Staatskanzlei zeitweise feuchtfröhlich die gesetzlichen Corona-Schutzauflagen missachtet hatten. Schon zu diesem Zeitpunkt war absehbar, dass der Wettbewerb um Johnsons Nachfolge letztlich auf Finanzminister Rishi Sunak und Außenministerin Liz Truss hinauslaufen wird.[2]

Sunak stand jetzt mit seinen Vorschlägen für einen moderaten Neoliberalismus im nationalistischen Gewand auf verlorenen Posten. Truss hingegen wird als neue Parteivorsitzende und Premierministerin die Gelegenheit wahrnehmen, ihre bisherige Inszenierung als Wiedergängerin Margret Thatchers fortzusetzen.

Ihre Verachtung für die arbeitenden Klassen, die während des parteiinternen Wahlkampfs erneut mit markanten Äußerungen publik wurde[3] und die sie mit der überwiegenden Mehrheit der gesamten Tory-Parlamentsfraktion teilt, findet sich in entsprechenden Gesetzesinitiativen zum Abbau von Arbeitsschutzrechten und zur ausgeweiteten Delegitimierung gewerkschaftlicher Organisation und Streiks wieder. Die bereits umgesetzten oder eingeleiteten Regelungen zur Einschränkung des Demonstrationsrechts, zur Rückkehr zur Polizeiwillkür, zur Deportation von Asylbewerber*innen und zur Abkehr von der Charta der Europäischen Menschenrechte wird sie nicht stoppen, sondern als notwendige Schritte für die Ausweitung autoritären Staatshandelns verteidigen. Und sie wird jene völkerrechtlich verbindlichen Vereinbarungen im Brexit-Vertrag und im EU-UK-Handels- und Kooperationsabkommen nicht einhalten, die zum Nachteil der britischen Union auf Drängen der Johnson-Regierung, der sie ununterbrochen angehörte, im Vertragswerk aufgenommen worden sind. [...]

Hinrich Kuhls arbeitet in der Sozialistischen Studiengruppe (SOST) mit.

[1] In einer repräsentativen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov erklärten 66% der Mitglieder der Konservativen Partei, Liz Truss zu wählen, während 34% für ihren Konkurrenten Rishi Sunak votierten. 57% der Mitglieder hatten zu diesem Zeitpunkt ihren Wahlbrief bereits abgesandt. Hätte auch Johnson erneut zur Wahl gestanden, wäre er mit großem Abstand wiedergewählt worden. Vgl. Adam MacDonnell: With two and a half weeks to go, Liz Truss now leads Rishi Sunak by 66% to 34% in members poll, YouGov, 19.8.2022.
[2] Vgl. hierzu meinen Beitrag in Sozialismus.de 2-2022, S. 2–7: Eine Partei ohne Scham und Mitgefühl. Die britische Konservative Partei in der Defensive.
[3] Pippa Crerar: Leaked audio reveals Liz Truss said British workers needed «more graft«, The Guardian, 17.8.2022, sowie dies.: Union heads respond angrily to Liz Truss’s claim UK workers lack «graft«, ebd.

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