25. September 2019 Hinrich Kuhls: Der Chaos-Brexit als Souveränitätsfalle und ökonomische Katastrophe
Die Staats- und Verfassungskrise im Vereinigten Königreich
Das hat es in der Geschichte der Europäischen Union noch nicht gegeben: Der Europäische Rat und der Präsident der EU-Kommission müssen mit dem Regierungschef eines – wenn auch im Weggang befindlichen – Mitgliedstaats verhandeln, der gleich von zwei seiner Amtsvorgänger aus der eigenen Partei des Verfassungsbruchs und der Verlogenheit geziehen wird.
John Major, als Nachfolger Margaret Thatchers von 1990 bis zur Wahl Tony Blairs 1997 britischer Premier, hat sich der Verfassungsklage gegen die Regierung Johnson wegen der überlangen Suspendierung des Parlaments angeschlossen. David Cameron, der in sein Amt als Vorsitzender der Konservativen Partei und dann als Regierungschef (2010-2016) nur deshalb gewählt worden war, weil er die Durchführung des EU-Referendums versprochen hatte, charakterisiert Johnson als Ausbund von Illoyalität und Opportunismus, der genauso wie der Brexit-Notstandsminister Gove Unwahrheit als Methode der politischen Arbeit einsetzt. Dass die harsche Kritik der Vorgänger zugleich nichts an den Popularitätswerten Johnsons ändert, unterstreicht die Anspannung in dem Land, das in der Frage des Austritts aus der EU tiefer zerstritten ist als je zuvor.
Nur wenige Wochen nach der umstrittenen Übergabe der Regierungsgewalt an Premierminister Johnson am 24. Juli ist die politische Krise, die das Vereinigte Königreich von Großbritannien und Nordirland (UK) seit dem Brexit-Referendum im Juni 2016 in Atem hält, in eine Staats- und Verfassungskrise umgeschlagen. Unmittelbar nach seiner Ernennung hatte sich Johnson beim zentralen Punkt der britischen Politik festgelegt: Das Land wird auf jeden Fall am 31. Oktober 2019 aus der Europäischen Union austreten, mit oder ohne Vertrag. Die neue britische Regierung verstärkte vom ersten Tag an die Vorbereitungen für einen No-Deal-Brexit und leitete damit eine Politik der maximalen Konfrontation ein, sowohl gegenüber der Europäischen Union als auch gegenüber allen politischen Institutionen im UK, die der rechtspopulistischen Auffassung entgegentreten, das Brexit-Votum umfasse auch ein Mandat für den disruptiven, vertragslosen Austritt aus der EU.
Entsprechend Artikel 50 des EU-Vertrags erlischt die Mitgliedschaft eines Landes zwei Jahre nach Einreichung des Austrittsgesuchs automatisch und ohne vertragliche Regelung, wenn bis dahin kein Austrittsabkommen ratifiziert worden ist. Dem Abkommen müssen das nationale Parlament des Austrittslandes und das Europäische Parlament mit einfacher Mehrheit sowie der Europäische Rat mit qualifizierter Mehrheit zustimmen. Das erste Brexit-Datum 29. März 2019 ist bisher zweimal verschoben worden, weil das britische Parlament dem Verhandlungsergebnis der Regierung May nicht zugestimmt und der Europäische Rat die britischen Anträge auf Verlängerung der Austrittsfrist jeweils einstimmig gebilligt hatte.
Die Ratifizierung war in drei Anläufen gescheitert. Der rechte Flügel der regierenden Konservativen Partei hatte das Abkommen abgelehnt, weil die nationale Souveränität des UK nicht vollständig wiederhergestellt worden sei, vor allem wegen des Nordirland-Protokolls im Austrittsvertag. Die Regelung zur Verhinderung einer Zollgrenze in Nordirland im nicht ratifizierten Austrittsabkommen sieht vor, dass im Falle des Scheiterns der Verhandlungen über die künftige UK-EU-Kooperation das gesamte UK in der Zollunion verbleibt. Damit war der britische Kompromissvorschlag Bestandteil des Vertrags geworden und nicht der EU-Vorschlag, der allein den Verbleib Nordirlands in Zollunion und Binnenmarkt vorsah.
Hinrich Kuhls lebt in Düsseldorf und arbeitet in der Sozialistischen Studiengruppe (SOST) mit. Der vorliegende Beitrag wurde am 17.9.2019 abgeschlossen. In Sozialismus.de 7-8/2019 erschien vom Autor der Beitrag: »Ein neuer Premierminister im uneinigen Königreich. Wahlkampf bei den britischen Konservativen«.