1. November 2004 Jan Peters

Die Unverwüstlichkeit des "treuen Rebellen"

Irgendwie fällt es mir schwer zu akzeptieren, dass Jürgen Kuczynski nicht selbst zu seinem 100. Geburtstag am 17. September 2004 mit einigen Bonmots und originellen Analysen auftritt – und natürlich mit einem selbstverfassten druckfrischen Buch in der Hand. Als ich, Angehöriger seiner zweiten Schülergeneration und drei Jahrzehnte Mitarbeiter seiner Schöpfung, des Akademieinstituts für Wirtschaftsgeschichte, 1994 vor den Kollegen des Instituts aus Anlass seines 90. Geburtstages den Versuch einer würdigenden Ansprache unternahm, schien mir eine gedenkende Rede ein Jahrzehnt später unvorstellbar.

Doch drei Jahre später lebte Jürgen Kuczynski nicht mehr – dieser scheinbar auf Dauer gestellte Gelehrte, diese unverwüstliche, DDR-eigene Institution. Weitere Arbeitstage nach der Nacht zum 6. August 1997 blieben ihm versagt.

Jürgen Kuczynski (oder "JK", wie wir ihn nannten) wäre am 17.9.2004 hundert Jahre alt geworden. Wie also heute seiner gedenken? Etwa sein wissenschaftliches Œvre vorstellen? Nein, da bin ich in der angenehmen Position, dass niemand von mir erwarten kann, die Gesamtheit von Kuczynskis ebenso unfassbarem wie unerfassbarem Lebenswerk analytisch zu präsentieren. Natürlich ließe sich einfach auf sein umfangreiches autobiografisches Schrifttum verweisen, das Auskunft über Leben und Werk dieses Polyhistors des 20. Jahrhunderts gibt, jedoch bleibt das Fehlen einer Gesamtwürdigung aus anderer Feder als seiner eigenen doch bedauerlich.

Mit Einmaligkeit bleibt wertender Umgang vermutlich immer heikel. Immerhin lagen zwischen Kuczynskis erstem Buch, das er im Alter von 22 Jahren herausgab, und seinem letzten, das nach seinem Tode erschien, über 100 Bücher und 4.500 Artikel. Und zu seiner bewegten politischen Biografie gehören Gewerkschafts-Aufbaujahre in Amerika, illegale Arbeit in Nazi-Deutschland, Exilzeit in Großbritannien, Rückkehr in die Ostzone, Akademie- und Universitätsarbeit, Ausbau der Wirtschaftsgeschichtsforschung in der DDR, Hilfe für manchen ins Unrecht Gesetzten und vieles andere, das mehr wert ist als eine einfache Aufzählung. Alles das, auch der den Oberen unheimliche Habitus dieses Bildungsmarxisten, seine Weltläufigkeit und sein Humor, auch seine Schwächen und fraglichen Einlassungen auf einzelne Herren der DDR-Spitze müssen hier unkommentiert bleiben.

Alternativ könnte man vielleicht die vielen vergnüglichen Kuczynski-Geschichten (von ihm und über ihn) aneinander reihen. Auch sie wären eine analytische Annäherung wert, und er hätte gewiss nichts dagegen gehabt, denn er war ein guter Geschichtenerzähler. Aber von allem anderen abgesehen, würde das jeden Zeitrahmen sprengen. Ich wähle also einen anderen Befreiungs-Kniff, um dem Dilemma der Unerfassbarkeit des gesamten Jürgen Kuczynski zu entgehen.

Es sei mir erlaubt, einen Blick auf einige seiner hinterlassenen Erbstücke zu werfen. Dabei denke ich nicht an solche mit ausschließlicher Vorbildfunktion. Die fünf Erbstücke, die ich herausgegriffen habe, handeln von den Eigenschaften eines Gelehrten von Rang. Ich meine, sie lassen sich auch heute abfragen, obwohl JK natürlich nicht auf die BRD, sondern auf eine fortbestehende DDR hingelebt hat. Das Eigene an Kuczynskis Verhakelt-Sein von Weitsicht und Kurzsichtigkeit, von hintertüriger Schläue und breitseitigem Mut, von Schnellschüssen und tiefsinnigen Analysen, ja auch das Nebeneinander von fraglichen Kompromissen und beispiellosem Bekennermut bildet auch unter heutigen Verhältnissen ein Erbe, das man so oder so sehen kann, über das unter allen Umständen aber nachzudenken sich lohnt.

Nun also: Fünf ausgewählte Erbteile. Nummer eins: Die Kraft zur wissenschaftlichen Eigenständigkeit und der Mut zum Festhalten an Einsichten ohne Rücksicht auf politische Vorgaben, ob direkter oder indirekter Art. Zum Beispiel: In der DDR wähnten wir uns, prinzipiell für Entfaltung, Veränderung und Demokratie zu stehen. In Wirklichkeit aber bevorzugten wir in dem, was wir sozialistische Praxis nannten, eine holzschnittartige Wiederholungs- und Abschottungsroutine, denn sie schien für die unter allerlei Druck stehende DDR sicherer. Der tief "parteiverbundene" JK nahm deshalb widerwillig ein wenig Zentralismus und Starrheit hin, die Selbsttäuschung über das ständige "Aufwärts" oder errungene Gut-Sein aber nicht. Mit den Jahren ging er immer härter gegen diese Täuschung an, und er verfügte über den Anstand, solche Positionen durchzuhalten.

Eine "entwickelte" sozialistische Gesellschaft, so habe ich ihn immer noch im Ohr, müsse ihr Entwickelt-Sein aus realitätsbezogenem Wagnis beziehen. Und darüber müsse man, zumindest in einer wissenschaftlichen Einrichtung, offen reden. Zahlreich sind die Beispiele für entsprechend widerborstige Thesen Kuczynskis, allesamt erwachsen aus seiner geradezu genussvoll-unartigen Hingabe an eine hohe Kultur des wissenschaftlichen Streits, die ihm als unabdingbar galt. Standfestigkeit war nicht nur seinem wissenschaftlichen Habitus immanent, sondern auch die Folge von kritischer Beobachtung. Denn den DDR-Historikern (vielleicht hatte er auch die Ökonomen im Sinn) fehle im Grunde der "wütende Trieb, sich die ganze historische Realität anzueignen".

Selbstverständlich machte auch er Zugeständnisse, nicht aber (oder höchst selten) an sinnwidrige vormundschaftliche Vorgaben. Die aus Karriere- oder Eitelkeitspositionen resultierende Jagd nach folgsamen Forschungsvorhaben langweilte ihn und gedieh nicht an seinem Institut. Dagegen kannte jeder JKs Freude an herausfordernder und explizit ungezogener Kritik. Er war neugierig wie ein Kind auf erkenntnistreibende Widersprüche und auf Meinungsbildungen in anderen Fachbereichen. Auch wenn ihm ein gewisses Maß an Eitelkeit nicht abgesprochen werden kann, so habe ich nie erlebt, dass er als Ökonom nicht auch darauf brannte zu erfahren, was die politische Ökonomie von Fachleuten anderer Disziplinen lernen könnte. Indes verlasse ich hiermit das für mich etwas zu dünne Eis "JK und die ökonomische Theorie und Praxis", denn dazu können sich sehr viel Kompetentere, sicher auch kritisch, äußern.

Hier ist also vom Verhalten zur Streitkultur und zu den möglichen Folgen ihrer rückhaltlosen Umsetzung die Rede, und das heißt vor allem: Mut im Umgang mit der Macht. Er lebte uns das vor, indem er viel Prügel in Kauf nahm. Mitunter ließ man bekanntlich ganze Armeen aufmarschieren, um gegen seine Auffassungen etwa über die Arbeiterhaltung im Ersten Weltkrieg oder über die Rolle der Volksmassen in der Geschichte zu Felde ziehen zu lassen. Seine Partei ließ ihn damals abstrafen, und das hat ihn getroffen.

Man darf fragen, ob Standhaftigkeit dieser Art nicht auch in der Gesellschaft, in der wir jetzt leben, (insbesondere auch an ihren Universitäten und Forschungsstätten) am Platze wäre. Wie fühlt man sich, wenn man bei einer Kritik an der bundesdeutschen Gesellschaft stehen bleibt, die einige Ausbesserungsarbeiten, etwa in Gestalt von Reformen, aufs Korn nimmt, zu strukturellen Mängeln im Modernisierungswandel aber schweigt? In seinem letzten Memoiren-Band warf sich Kuczynski vor, ein System zwar kritisiert, aber grundsätzlich bejaht zu haben, anstatt das System infrage zu stellen, ohne dessen "gute Punkte" zu übersehen. Müsste man bei einem solchen Ansatz nicht auch heute über die systemische Realität z.B. von verdeckten Steuerungsmechanismen und Abhängigkeitsnetzen, über die stille Entfaltung neuer Formen von Vormundschaftlichkeit auf den dunklen Wegen der Gehaltsklassen und festen Stellen reflektieren? Und wäre man dann nicht auch rasch bei der Verantwortung für die junge Wissenschaftlergeneration angelangt, die ständig neue Strategien im Kampf um Universitätskarrieren entwickelt, mit dem Mut zur Wahrhaftigkeit aber womöglich weniger im Sinn hat, weil sie da eher ihren Lehrern folgt? Die Frage sei einem Kuczynski-Schüler erlaubt, der das Ringen seines Meisters um die Verknüpfung von wissenschaftlichem Anstand und parteilicher Treue zumindest verfolgen, wenn auch nicht immer durchschauen konnte.

Ein schwieriges Erbstück, Nummer zwei, bildet Kuczynskis Umgang mit Gläubigkeit und Zweifeln. JK trug die Fahne des mehrdeutigen Optimismus. "Ein linientreuer Dissident", "Ein treuer Rebell", "Ein realistischer Optimist", oder vielleicht "Ein kritischer Gläubiger" – alle solche Selbst- und Fremdzuschreibungen sind Merkmale seiner schwierigen Wahrhaftigkeit, seiner Konflikte zwischen dem "Glauben an die Sache" und seiner wissenschaftlichen Redlichkeit. Sozialisiert im Geiste weltoffener Bildungsbürgerlichkeit, vollzog er, wie er in seinem ersten Büchlein schrieb, den Weg "Zurück zu Marx", jedoch sah er im Unterschied zu so vielen anderen (und wohl erst im Verlaufe seiner Lebenserfahrungen) im Marxismus eine Wissenskultur, die sich unbedingt offen hielt für Vormarxistisches, aber auch für manches andere, das sich den Anschein von Nachmarxistischem oder Vielleicht-Marxistischem geben mochte.

Je älter er wurde, so scheint es mir, hielt er Zweifel für ebenso zulässig wie pure Gläubigkeit für falsch. Mit dem bequemen Einfordern des "Glaubens an die Wahrheit des Marxismus" gab er sich schließlich nicht mehr zufrieden, Parteitreue jedoch hielt er bis zum Schluss hoch. Diese Grundsatzhaltung ließ ihn mitunter recht schmerzhaft den Gegensatz zwischen bedingungsloser Parteiverbundenheit und Wissenschaftlichkeit spüren. Am Ende befähigten ihn seine Bildung und Lebenserfahrung dann doch, trotz aller Parteitreue und Empfänglichkeit für Lob der DDR-Öffentlichkeit zum produktiven Umgang mit dem genannten Gegensatz, der sich unentwegt in sein Leben drängte. Er hielt an fundamentalen Positionen seines "Glaubenswissens" fest, artikulierte Zweifel an der Unterordnung des Marxismus unter politische Willkür, blieb aber zugleich tief in die Loyalität gegenüber seiner Partei verstrickt. Vielleicht hatte er auch zu viele nachträgliche Eingeständnisse pseudomarxistischer Fälschungen und theoretische Erschütterungen erfahren, um mitunter stärker glauben als wissen zu wollen – vermutlich ein schweres Problem von Kommunisten seiner Generation überhaupt.

Das Verhältnis zwischen Glauben und Zweifel bleibt mir, verdeutlicht durch Jürgen Kuczynskis Lebensweg, durchaus im Undeutlichen. Wenn Wissenschaft einige glaubensgeprägte Dimensionen nicht ausschließt, dann dürfte sie auch Selbstzweifel zulassen. Das aber gehört zu den Verhaltensweisen eines Wissenschaftlers, die ich in der BRD nicht weniger vermisse als in der DDR. JKs widerspruchsvolle Position ist mir in diesem Punkt lieber, in der ich ein nach wie vor gültiges Erbstück sehe. Und was ist seine Vorstellung, nur "intelligente Fehler und kleine Richtigkeiten" produziert zu haben, anderes als die Legitimierung des Zweifels, jedenfalls auf dem Feld von Wissenschaft und Politik?

Erbteil Nummer drei. Die moderne Wissenschaftsgeschichte könnte wohl mit Gewinn JKs Umgang mit der Materie "Lehrer und Meister, Schüler und Nachwuchs" unter die Lupe nehmen. Eine genaue Prüfung seines Wirkens als Lehrer fällt überraschend aus. Denn im Umfeld dieses Geistesmächtigen erhob sich der so genannte Nachwuchs nur selten zu außergewöhnlicher Höhe. Des Meisters querlaufende Denkweise hat zwar viele angeregt, ließ sich aber nicht kopieren. Eine Erklärung dafür bildet sicher jener schwere Fehler, den Schüler immer dann machen, wenn sie sich am überragenden Lehrer messen – und bald danach resignieren. Kuczynskis vorbildlich disziplinierter Arbeitstag mag bedrückte Gewissen, bei den Mitarbeitern aber nicht unbedingt bedruckte Seiten evoziert haben. Ist der Schluss richtig, dass Geisteswissenschaftler sich im Schatten der Großen wohl fühlen, dort aber weniger als unter einigermaßen Gleichgroßen gedeihen? Oder hat ein Fach wie die Wirtschaftsgeschichte (nach JK ja der "empirische Zweig am Baum der Wirtschaftswissenschaften") eher diejenigen angezogen, die sich mit solider Statistik wohler fühlten und deshalb ihrem Chef auf seiner Jagd nach neuen Theorien, zumal in fachfremden Revieren, nicht folgen mochten? Kuczynski ging eigentlich feinfühlig mit diesem Problem um, es hat ihn wahrscheinlich belastet, aber er war ihm gegenüber etwas hilflos. Ich sehe keine Antwort auf JKs höhere Nachwuchspädagogik, eine Verhaltensempfehlung zu diesem Erbstück bedarf wohl doch des gründlichen Überdenkens.

Ein viertes Erbteil. Zum weiterhin gültigen Kuczynski-Erbe gehörte die Elastizität seiner Arbeitsweise. Er beherrschte selbst viele Arbeitsmethoden, wusste aber auch die unterschiedlichen Arbeitsarten von Kollegen und Mitarbeitern für seine Schriften nutzbar zu machen. Rechtswissenschaftler, Germanisten, Volkskundler, Soziologen, Demografen, manche Naturwissenschaftler und viele andere Fachkollegen gehörten zu seinen Austauschpartnern. "Kärrner" standen bei ihm hoch im Kurs, quellengestütztes statistisches Arbeiten war ihm bestens vertraut, aber zeitaufwendige Archivforschung entwickelte sich für JK naturgemäß zu einem Problem. (Darum mochte mancher, der die Quellen genauer kannte, sich gelegentlich zu Einzelergebnissen des Anregers JK kritisch verhalten.) Da nichts unter seinem Namen erschien, was er nicht selbst erarbeitet hatte und da er zugleich um die Berührung und Verbindung von Ökonomie und Geschichte mit so vielen anderen Disziplinen wusste, führte er eine Kuczynski-spezifische Form von kooperativer Elastizität ein. In seinen Büchern erschienen öfters Zusatzkapitel von Kollegen, deren Expertenwissen er sinnvoll verwertete – eine anzuempfehlende Methode, die aber auch eine gewisse Gelassenheit des Souveräns voraussetzt. Ein anderes Kapitel bildete JKs Bindung an seinen "Glücksfall", wie er Ehefrau Marguerite nannte. Sie könnte vielleicht auch damit zu erklären sein, dass er ihre Genauigkeit und Solidität (besonders bei editorischen Arbeiten), als Gegengewicht zu seinem mitunter überbordenden Ideenfluss dringend brauchte.

Solange JK über die Kraft verfügte, um solide Bodenhaftung mit zündenden Einfällen zu verbinden, hat er eben das getan, von der Gewerkschaftsstatistik in Amerika über die "Lage der Arbeiter" bis zu späteren Beschreibungen von Krisenzyklen. Offenbar passte er rechtzeitig seine Arbeitsweisen an Lebensbedingungen und Lebensalter an: Kräftezehrende Kärrnerarbeit mit gewagten Erprobungen seines theoretischen Könnens am Anfang, zunehmend Analytisches in den Reifejahren, retrospektive Selbstvergewisserung im Alter. Das wirft Fragen auf: Welche Rolle spielen Lebenszyklus, Herausforderungen der Gesellschaft, äußere Lebensumstände und Akkumulation von Weisheit in der Arbeit herausragender (oder auch weniger herausragender) Gelehrter? Auch das ist ein Erbteil zum Vergleichen und Bedenken.

Schließlich ein fünftes Erbstück, das nur scheinbar rein Äußerliches betrifft: Die Kunst des Schreibens. Ökonom, Historiker und Wirtschaftshistoriker, das war JK wohl hauptsächlich. Eine besondere Liebe verband ihn mit der "schönen Literatur", wie er zu sagen pflegte. JK schrieb eine flüssige Feder und vollzog scheinbar mühelos den Schritt von faktendichter Tabellenanalyse zu eher literarischen Alltagsbeschreibungen. Provozierend gab er schon in der frühen DDR zu verstehen, dass die Nachwelt dermaleinst, beim Studieren der Geschichte dieses Ländchens, mehr über dessen Wirklichkeit durch die "schöne Literatur" denn durch die Zeithistoriker der DDR erfahren würde. Mancher Historiker, vielleicht auch Ökonom, mag sich über solche Provokationen geärgert haben, obwohl sie doch nichts anderes als die Einsicht darstellten, dass eine kultivierte sozialwissenschaftliche Feder der Realität näherrückt als ein hölzern-gestanzter Stil, auch wenn dieser scheinbar von totaler Richtigkeit handelt.

Hier tat sich dem eleganten Schreiber allerdings der alte Widerspruch auf, denn das Starre und Formgerechte war die Sprache der Partei, mit der er nie brechen wollte. Und ein kultivierter Schreibstil als Erkenntnismittel gehörte nun wirklich nicht zur geistigen Ausrüstung der DDR-Führung.

JK war souverän genug, um seinen Rang als Wissenschaftler nicht durch schriftliches oder mündliches Gelehrten-Gehabe auf sich aufmerksam machen zu müssen. Somit erweist sich auch der Schreibstil Kuczynskis als ein aktuelles Erbe-Problem. Sollten wir als Beobachter der Wissenschaftssprache uns nicht darauf besinnen können, dass verwickelte bis verworrene Ausdrucksweisen nicht unbedingt für Tiefe stehen, dass man zwar immer, auch auf neue Richtungen, neugierig, aber im Stil nicht unbedingt "modern" sein muss? Eine hochgestochene Wissenschaftssprache will mir in den Sozial- und Geisteswissenschaften zunehmend verzichtbar erscheinen, nicht aber ein Schreibstil, der moderne oder Mode-Richtungen verständlich zu verarbeiten versteht. Ganz gewiss hätte JK einem meiner kürzlich in Potsdam emeritierten Kollegen zugestimmt, der unter dem Eindruck der vielen kurzlebigen Modetrends und "turns", besonders in der Geschichtswissenschaft, in seine Abschiedsrede den Merksatz einfließen ließ: "Es muss einem alten Mann erlaubt sein, auch geradeaus zu gehen."

So viel zu einigen Aspekten des Kuczynski-Erbes von, wie mir scheint, gegenwärtiger Relevanz. Zum Schluss noch die nahe liegende Frage: Wie bewältigt ein 85jähriger, der als institutionelles Lebenswerk ein Akademie-Institut für Wirtschaftsgeschichte mit zeitweilig über 50 Mitarbeitern auf die Beine gestellt und der damit die DDR zum internationalen Vorzeigeland für wirtschaftshistorische Forschung gemacht hat, die kalte Vernichtung dieses Werks? Wohlgemerkt, eines positiv evaluierten Instituts, dessen Weiterbestehen in vielen Stellungnahmen aus dem Ausland gefordert oder empfohlen worden war. Abgesehen vom fraglichen Wert des Evaluationsbefundes von 1991: Wie wird ein solcher Mann damit fertig, während zugleich über ihn jene Charakterhelden herfallen, deren Bekennermut zu DDR-Zeiten nicht in der Spitze des kleinen Fingers von Kuczynski Platz gefunden hätte? Wahrscheinlich hat die Unverwüstlichkeit des "treuen Rebellen" mit der Erfahrung eines langen Lebens zu tun, das so manche Wenden schon erlebt hatte und deshalb, trotz allem, weiteren entgegensah.

Jan Peters hat lange Zeit als Professor am Institut für Wirtschaftsgeschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR mit Jürgen Kuczynski zusammengearbeitet. Nach 1990 war er an der Universität Potsdam tätig. Bei seinem Beitrag handelt es sich um die leicht bearbeitete Fassung eines am 16. September 2004 in der Klasse Sozial- und Geisteswissenschaften der Leibniz-Sozietät gehaltenen Vortrags.

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