1. Juli 2008 Redaktion Sozialismus

Die "Vergrünung der CDU"

60 Jahre nach der Währungsreform am 20. Juni 1948 – dem Startschuss des "goldenen Zeitalters" auch in dem noch kriegszerstörten Westdeutschland – befindet sich die "soziale Marktwirtschaft" in einer "schweren Legitimationskrise". Trotz Aufschwung empfinden inzwischen fast drei Viertel (73%) der Bundesbürger die wirtschaftlichen Verhältnisse im Lande als "nicht gerecht".

Gleichzeitig haben erstmals mehr Menschen von der sozialen Marktwirtschaft eine "eher schlechte" Meinung. Heute würden die meisten BürgerInnen am liebsten in einem Land leben, in dem es weder Reiche noch Arme gibt, sondern Einkommen und Vermögen gleich verteilt sind. Viele Befragte halten sogar den Sozialismus für eine gute Idee, die lediglich schlecht verwirklicht worden sei.

Dies ist nicht nur die Einschätzung der in Gewerkschaften, Sozialverbänden oder gar in der LINKEN Organisierten. Selbst die Deutsche Bischofskonferenz – in der Regel nicht die Vorhut der gesellschaftlichen Vernunft – hat sich für eine breite öffentliche Debatte über eine auf die Ausbalancierung von Wettbewerbsfähigkeit und sozialem Ausgleich bedachte Wirtschaftsweise ausgesprochen.

Für die Kritik des Neofeudalismus ist die Nachkriegskonzeption der "sozialen Marktwirtschaft" nach wie vor Bezugspunkt. Deren Versprechen war, dass sich Leistung lohne und jeder gleiche Chancen des sozialen Aufstiegs haben solle. Zeitweilig hatte es den Anschein, dass durch den Ausbau der Mitbestimmung, durch soziale Reformen und den Abbau der Bildungsbarrieren eine meritokratische Gesellschaftsordnung herstellbar sei. Doch die Versprechen werden heute "für viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht mehr eingelöst".

Meritokratie basiert im Unterschied zu anderen Gesellschaftsordnungen auf persönlicher Leistung, die zunächst vom Markt festgestellt wird, danach aber auch in allen anderen Gesellschaftssphären zur Richtschnur von Einkommen und gesellschaftlichen Positionen werden soll. Die Ungleichheit von Einkommen und Statuspositionen sollen also in der Regel das Resultat eines Leistungswettbewerbs sein. Daher wird die "soziale Marktwirtschaft" als Leistungsgesellschaft präsentiert. Nur in den vermeintlich wenigen Fällen, bei denen die individuelle Leistungsfähigkeit und der marktorientierte Leistungswettbewerb eingeschränkt sind, soll durch soziale Transfers ausgeglichen werden.

Die meritokratische Ordnung war schon in der Nachkriegszeit eine Illusion. Ihre Hartnäckigkeit hatte allerdings einen rationalen Grund: das Versprechen sozialen Aufstiegs. Dieses Versprechen ist im Verlauf insbesondere des letzten Jahrzehnts für einen Großteil der Bevölkerung nicht nur in weite Ferne gerückt, sondern demontiert worden. Die Reallöhne sind seit Mitte der 1990er Jahre kaum gestiegen, zudem arbeitet heute jeder fünfte Lohnabhängige im Niedriglohnbereich. "Für die Mehrheit der Alleinerziehenden, Langzeitarbeitslosen und Migranten bleibt sozialer Aufstieg eine Illusion" – stellt der DGB-Vorsitzende Michael Sommer in Übereinstimmung mit einem Großteil von empirischen Untersuchungen über Gesellschaftszustände und Verteilungsverhältnisse fest. Unter den Bedingungen der finanzmarktgetriebenen Kapitalakkumulation, der "Jagd nach dem kurzfristigen Profit", ist für einen beträchtlichen Teil der Lohnabhängigen die Reproduktion der Arbeitskraft nur mehr eingeschränkt gegeben und wegen der Abkoppelung der Arbeitslöhne vom Zuwachs des gesellschaftlichen Reichtums erodieren die Systeme sozialer Sicherheit.

Die "Legitimationskrise" muss insbesondere – aber auch weit darüber hinaus, wie die Entwicklung der Sozialdemokratie zeigt – dem bürgerlichen Lager Sorgen bereiten. Der wahlpolitische "Erosionsprozess" der Unionsparteien wurde manifest in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre: "Zwischen 1953 und 1983 erreichte die CDU/CSU stets Ergebnisse zwischen 44 und 50 Prozent … Danach verlor sie an Rückhalt: 1990 43,8%, 1994 41,4 Prozent, 1998 35,1 Prozent. … Damit hat die CDU/CSU bei Bundestagswahlen in den letzten 10 Jahren nie mehr die 40-Prozent-Hürde genommen und ist seit mehr als zwei Jahrzehnten nicht mehr in die früher 'üblichen# Regionen über 45 Prozent vorgestoßen." (R. Köcher, Allensbach, in: FAZ, 25.6.2008) Aus dieser Position heraus gelingt es ihr auch kurzfristig nicht, aus dem Zerfallsprozess der Sozialdemokratie wahlpolitisches Kapital zu schlagen. Gründe genug, sich über ihre Position und Rolle in der Gesellschaft und im Parteiensystem neu zu verständigen.

Zum 60. Jahrestag der Währungsreform – der Geburtsstunde der Sozialen Marktwirtschaft – verändert die CDU ihre programmatische Ausrichtung und "vergrünt" sich. Dem CDU-Bundesvorstand liegt ein Grundsatzpapier "Bewahrung der Schöpfung: Klima-, Umwelt- und Verbraucherschutz" vor, das von einer Kommission unter Leitung von Hamburgs Erstem Bürgermeister Ole von Beust erarbeitet worden ist und dem kommenden Bundesparteitag zur Beschlussfassung vorliegt. Kaum ein halbes Jahr nach Verabschiedung des Grundsatzprogramms "Freiheit und Sicherheit" nimmt die Union darin eine Neubestimmung des Verhältnisses von Ökonomie und Ökologie vor, die in der Vergangenheit völlig undenkbar gewesen wäre. "Wir haben in den siebziger und achtziger Jahren die Bewahrung der Schöpfung in unserer Politik nicht dahin gestellt, wo sie hingehört: in den Mittelpunkt." (Pofalla) Die "alten Schützengräben Wachstum gegen Nachhaltigkeit" (von Beust) taugen nicht mehr für eine moderne christdemokratische Programmatik. Deshalb bekennt sich die CDU jetzt "zum Leitbild der nachhaltigen Entwicklung, die den wirtschaftlichen und sozialen Wohlstand mit dem Schutz von Natur, Umwelt und der Lebensqualität der Verbraucher in Einklang bringt." Denn: Eine intakte Umwelt sei auch ein zentraler Wirtschaftsfaktor. Zwar hat die Integration der Ökologie in die programmatische Substanz Grenzen: Die Vorstellungen von einem Energiemix bleiben durch die Atomenergie und Kohlekraftwerke bestimmt. Gleichwohl wird eine bisher gültige Abgrenzung aufgehoben.

Die Annäherung an die programmatische Substanz der grünen Partei eröffnet neue Handlungsmöglichkeiten – dies belegt die schwarz-grüne Landesregierung in Hamburg. Aber die Eröffnung neuer politischer Machtkonstellationen ist das Resultat einer programmati­schen Transformation, die als Reaktion des bürgerlichen Lagers auf einen weit grundlegenderen Prozess zu sehen ist.

Das heutige Deutschland ist nicht mehr die alte Bundesrepublik. Durch "Vereinigung", "Einwanderung" und "Globalisierung" sieht die Unionsführung die sozialen Unterschiede, die Kluft zwischen Arm und Reich größer geworden. Und sie muss zur Kenntnis nehmen, dass sie in der jüngeren Generation auf einen Tiefpunkt in der Zustimmung abgesackt ist, wo Umweltschutz, Toleranz gegenüber anderen Kulturen und eine modernisierte Familienpolitik zu den stärker gewichteten politischen Themen gehören. Die Strategen der Unionsparteien sehen, dass ohne programmatische Veränderung in der Substanz die große bürgerliche Volkspartei ihre Mehrheits- und Hegemoniefähigkeit verliert.

Folglich müsse in einer Zeit, in der der Klimawandel "Realität" geworden sei, Klimaschutz zu einem "Kernziel" der Union werden. "Deutschland soll bis zum Jahr 2020 den effizientesten Kraftwerkpark der Welt haben." Energieverschwendung müsse vermieden, die bestehenden Kraftwerke modernisiert, die Nutzung erneuerbarer Energieträger stärker gefördert und die Verkehrsmittel dem Klimaschutzziel angepasst werden. Neben einer am Kohlendioxid-Ausstoß orientierten KFZ-Steuer fordert die CDU ein Vierteljahrhundert nach der Einführung des Dienstfahrrads für Volksvertreter durch die Grünen: "Das Fahrrad spielt als umweltfreundliches Verkehrsmittel eine Schlüsselrolle." Das heißt: "konsequent für die Stärkung des Radverkehrs".

Zu Recht weist die CDU auf die "schwarze Wurzel" der Grünen hin: Den in den 1970er Jahren aus der Union ausgetretenen konservativen Bundestagsabgeordneten und Mitgründer der Grünen, Herbert Gruhl, betrachtet die Partei heute als "geistigen Vater und Gründer der Ökologiebewegung". Richtig daran ist: Themen wie Ökologie und Naturschutz sind durchaus konservative Anliegen, in kirchlichen Kreisen nennt man das "Bewahrung der Schöpfung". Eine um ihre Mehrheitsfähigkeit bangende Christdemokratie sieht sich daher gut beraten, sich künftig breiter aufzustellen: "Zur Volkspartei gehören heute nicht nur Wirtschaft, Soziales und Sicherheit, sondern auch die Ökologie." Sogar in der CSU ist bei aller formalen Distanz ein gestiegenes Interesse an den Grünen zu beobachten.

Auch die Programmdebatte in den Unionsparteien ordnet sich so ein in den Umbruch der bundesdeutschen Parteienlandschaft – der in anderen Kostümen auch in vielen europäischen Nachbarstaaten festzustellen ist. Ein großer Teil des Wahlvolks hat sich von der parteipolitischen Willensbildung verabschiedet. Aber auch bei denen, die ihre Staatsbürgerrechte noch aktiv wahrnehmen, registrieren die bürgerlichen Parteien geringeren Rückhalt, sodass selbst in deren Vorständen von einer Tendenz zur strukturellen Hegemonieunfähigkeit ausgegangen wird.

Allerdings bleibt die Weiterentwicklung der politischen Programmatik des bürgerlichen Lagers auf bestimmte Bereiche beschränkt und droht z.B. in Hamburg an den (z.T. selbst verantworteten) Schranken der öffentlichen Finanzen zu scheitern. Sie ist zudem innerhalb der Union und ihres zivilgesellschaftlichen Umfelds heftig umstritten. So ist die CDU für den Kölner Erzbischof Joachim Kardinal Meisner nicht mehr die bevorzugte Partei katholischer Wähler. "Die Wahlentscheidung muss natürlich jeder mit seinem Gewissen vereinbaren. Allerdings muss ich leider sagen, dass die CDU sich bei christlich denkenden Menschen zunehmend selbst entwurzelt." Selbst in Bayern sei die Welt für die katholische Kirche keineswegs mehr in Ordnung. "Seit ich ein bisschen die Szenerie in Bayern kenne, bin ich ernüchtert. Das barocke Gehäuse täuscht über manche Hohlheit hinweg."

Auch bei den konkreten Reformprojekten sieht sich die "modernisierte" CDU mit Widerstand aus den eigenen Reihen konfrontiert. So formiert sich in Hamburg massiver Protest von Seiten der Eltern, der bis weit in die Union reicht, gegen die Einführung der sechsjährigen Primarschule. Eine Volksinitiative "Wir wollen lernen" macht Front gegen die Abschaffung der Klassen 5 und 6 an den Gymnasien und erfreut sich tatkräftiger Unterstützung von Seiten des Deutschen Philologenverbandes. Gleichermaßen wird die "Vergrünung der Union" auf Bundesebene politische Widerstände freisetzen.

Auch CDU und CSU reagieren auf einen chronisch gewordenen Mitglieder- und Machtverlust. Aber weder mit einer Versöhnung von Ökologie und Ökonomie noch mit dem Versuch, sozialem Aufstieg durch ein verschlanktes Bildungssystem eine neue Perspektive zu verpassen, lässt sich die Verschärfung des Gegensatzes von leistungslosem Reichtum und Armut überwinden. Die meritokratische Illusion besteht darin, dass Einkommen und gesellschaftliche Position im Kern auf im Produktionsprozess und den am Markt erbrachten persönlichen Leistungen basieren, nicht auf ständischer Zugehörigkeit, Erbschaft oder Zufall. Die meritokratische Gesellschaftskonzeption lebt von Leistungswettbewerb und der Chance des Aufstiegs – verkörpert von einer breiten und durchlässigen Mittelschicht. Heute gibt es verfestigte Armut in den unteren sozialen Schichten und eine gesellschaftliche Mitte, die sich vom sozialen Abstieg bedroht sieht. Diese Konstellation löst tiefgreifende Erosionsprozesse im Parteiensystem aus. Die so genannte Linkswendung oder Vergrünung der CDU bietet keine tragfähige Antwort auf dieses Schlüsselproblem.

Die Verschärfung der sozialen Spaltung kann nur durch einen gesellschaftspolitischen Kurswechsel zurückgedrängt werden. Solange die ungehinderte Übertragung von Großvermögen von einer Generation auf die nächste festgeschrieben wird, kann zu Recht von einer "Feudalisierung" gesprochen werden. Die Erbschafts- und Schenkungssteuer auf hohe Vermögen ist ebenso wie die wirksame Besteuerung der Vermögen von den bürgerlichen Parteien und der Sozialdemokratie ausgehebelt worden. Leistungslose Vermögenseinkommen prägen heute die gesamtgesellschaftliche Verteilungskonstellation, während die sozialen Ausgleichskassen ausgetrocknet wurden. Nicht gewinnorientierte Eigentums- und Unternehmensformen wie etwa Genossenschaften sind seit längerem kein Faktor im Wirtschaftsprozess.

Die mittlerweile ein Jahr alte LINKE mag zwar innerorganisatorisch viele Defizite aufweisen; solange sie konsequent an der Idee eines entschiedenen Politikwechsels in der Verteilungs- und Gesellschaftspolitik festhält, wird sie sich weiter konsolidieren können. Gerne verweisen Sozialdemokraten und bürgerliche Politiker darauf, dass vielen Pragmatikern in der LINKEN mittlerweile auch nicht mehr wohl sei bei dem "linken Populismus" des Vorsitzenden Oskar Lafontaine. Der frühere SPD-Vorsitzende Matthias Platzeck sieht allerorten Frust aufkommen. Scharfsinnig hat er beobachtet, dass viele Genossinnen und Genossen der LINKEN auf dem jüngstem Parteitag in der Ecke gesessen, Bier getrunken und sich über Lafontaine geärgert hätten. "Den vernünftigen, reformorientierten Kräften in dieser Partei biete ich daher an: Geht rüber und kommt zu uns! Macht mit uns vernünftige, praxis- und lebensorientierte Politik abseits aller Wolkenkuckucksheime! Das ist die Alternative zu Stillstand, Rückschritt, Reaktion, Mief und Lafontaines Demagogie." (Interview im Tagesspiegel vom 1.6.2008)

Die Politik der LINKEN hat eine für die etablierten Parteien bedenkliche Breitenwirkung erlangt. Angesichts der Zustimmung, die die LINKE gegenwärtig erfährt, fällt es der Sozialdemokratie und den bürgerlichen Parteien immer schwerer, eine Fortsetzung der Umverteilung von unten nach oben und damit einen erneuten Wahlbetrug in Szene zu setzen. Mit massiven Steuersenkungen und der Anpassung der sozialen Sicherungssysteme an die Wettbewerbsbedingungen der finanzmarktgetriebenen Kapitalakkumulation ist es zwar gelungen, die Konkurrenzfähigkeit des bundesdeutschen Kapitals zu verbessern – allerdings um den Preis manifester Bedrohungen mit sozialem Absturz. Daher die rhetorischen Bemühungen um eine Versöhnung von Ökonomie und Ökologie und um die Wiederherstellung einer "Aufstiegskultur". Es fehlt jedoch der Mut und der politische Wille, die immer neuen Ansprüche von Kapital und Vermögensbesitzern mit den berechtigten Ansprüchen und Bedürfnissen in der Bevölkerung zu konfrontieren. Daher die Zerrissenheit der Sozialdemokratie und die Modernisierungsbestrebungen im Lager der Union. Interessant wird sein, ob es der CDU damit – nach Hamburg und möglicherweise nach Neuwahlen in Hessen, falls es für Union und FDP alleine nicht reichen sollte – gelingen kann, die Grünen in den Bürgerblock zu integrieren.

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