1. Januar 2005 Wolfgang Rhode

"Du wolltest nach links, nicht nach oben"

Ich bin erfreut darüber, dass so viele bekannte Gesichter, so unterschiedliche Menschen, so altbewährte Gefährten sich zusammengefunden haben, um unseren Kollegen und Freund, um dich, lieber Jakob, zu feiern. Jürgen Peters hätte diese Ehrung gern selbst vorgenommen. Aber in diesen Tagen zählt nicht, was man gerne tun würde, sondern, was getan werden muss.

Du selbst, lieber Jakob, warst dein ganzes Leben hindurch und bist noch heute Teil dieser ruhelos weitertreibenden Bewegung. Man hat dich kürzlich gefragt, wovon du träumst, was du erhoffst für die Zukunft und du hast geantwortet: "Ich wünsche mir, dass wir bis zu meinem hundertsten Geburtstag tatsächlich den Ausblick auf eine andere Gesellschaftsordnung haben." (Sozialismus 11/04) Dann hast du eine lange Pause gemacht und hinzugefügt: "– und ich wünsche mir, dass dies keine kapitalistische Gesellschaftsordnung sein wird."

Noch bist du keine 100, sondern "erst" 90, aber auch dieses Alter ist wie ein hoher Turm, von dem du einen weiten Blick hast, tief hinein in eine Vergangenheit, die für uns Jüngere in vieler Hinsicht dunkel ist, trotz aller Lektüre, buchstäblich nicht einsehbar, lähmend im Anblick ihrer Verbrechen und strahlend in ihren seltenen, großen Momenten.

Du wurdest in Westgalizien geboren – 1915, als Europa bereits in den Abgrund des Ersten Weltkrieges gestürzt war, in jene "Initialkatastrophe", die immer deutlicher als der eigentliche Anfang endloser Leiden vor unsere Augen tritt. Wie viele Arbeiter, Gewerkschafter, Sozialisten sind auf den Schlachtfeldern geblieben? Wie viele sind in ihrem Wesen ganz "verkehrt" worden, wie Clara Zetkin einmal formuliert hat – verroht, verdummt. Wie viele Menschen wurden Opfer der Pogrome, des blinden Hasses? Deine Familie ist selbst Opfer geworden. So kamst du als Kind 1919 nach Deutschland, in dieses hungernde, zerrissene Land. Ein Land freilich auch, dessen Arbeiter im Jahr zuvor es gewagt hatten, "Nein" zu sagen zum Krieg, "Nein" zu einem System, das die Völker Europas in die Katastrophe geführt hatte.

Die Soldaten, die im November 1918 von der Front zurück marschierten, sahen sich Schildern gegenüber, auf denen stand: "Die Deutsche Sozialistische Republik grüßt Euch. Die alten Gewalten sind durch die Revolution des schaffenden Volkes gestürzt. Künftig seid Ihr Herr Eurer Geschicke." Die Schilder sind bald wieder abgebaut worden, aber in den Jahren zwischen 1919 und 1933, die du in Köln verbracht hast, formte sich dein politisches Weltbild. Du tratest in die Jugend der "Sozialistischen Arbeiterpartei" ein, jener SAP, der auch Otto Brenner und Willy Brandt angehörten, weil sie zu der grundsätzlichen Erkenntnis gelangt waren: Die SPD ist nicht reformierbar. Allen gemeinsam war die Zuversicht, dass es möglich sein würde, die Konterrevolution zurückzuweisen, den weißen Terror zu brechen, den Sozialismus zu verwirklichen. Du hast dir dieses Ziel deiner lebenslangen Arbeit als Journalist, als Diplomat, als Gewerkschafter nie ausreden lassen. "Welche große Tat", so hat Stendhal einmal gefragt, "ist im Augenblick, wo man sie unternimmt, nicht ein Extrem, eine Utopie? Erst wenn sie vollführt ist, erscheint sie dem Durchschnittsmenschen überhaupt möglich." (Rot und Schwarz, Kap. XI)

Fasziniert hat eine ganze Generation in den 1920er Jahren auf Russland geblickt, wo in ungeheurer Anstrengung der Idee die Tat folgte. Du hast zu diesem welthistorischen Versuch ein Leben lang in kritischer Solidarität gestanden. Du hast, wie viele deiner Zeitgenossen und Gefährten, die Deformation der sozialistischen Gesellschaft seit dem Ende der 20er Jahre beobachtet und einer konsequenten Kritik unterzogen. Und es hat dir keine Freude gemacht, recht zu behalten, als das System des Staatssozialismus in Osteuropa zu Beginn der 1990er Jahre an seinen inneren Widersprüchen zerbrach.

Auf solche Weise einer Idee treu zu sein, ist selten, ist für viele unbequem, ist gefährlich. Du hast, wie so viele Tapfere, das Glück an deiner Seite gehabt, in vielen Momenten, die das Ende hätten sein können. 1933 kamst du nach Haifa. In die USA hättest du keine Einreisegenehmigung bekommen. 1939 wirst du von der britischen Mandatsverwaltung verhaftet. Später arbeitest du bei Agence France Press. 1948 bist du wieder in Köln und arbeitest fünf Jahre bei der "Rheinischen Zeitung". Die Stadt, die du 15 Jahre zuvor verlassen hast, ist nun zu 70 Prozent zerstört.

Viele sind in diesen Jahren an den Überzeugungen ihrer Jugend irre geworden, passten sich an, machten Karriere unter Preisgabe von fast allem, wofür sie einmal gestanden hatten. Du bliebst an der Seite der arbeitenden Menschen, bei der übergroßen Mehrheit also, aber du warst nie bei den "Mehrheiten" des Parteilebens, bei der "herrschenden Richtung". Du widersprichst: aus Erfahrung, aus tiefer Kenntnis der Geschichte, aus dem Gewissen heraus – oder auch nur deshalb, weil es dir zu abgeschmackt war, was du nachbeten sollst.

Wer auf solche Weise gegen den Strom schwimmt, läuft Gefahr, einsam zu werden. Deine Liebe zu den Menschen hat das verhindert, deine Liebe für alle, die den Kampf um Würde und Gerechtigkeit ausfechten. Deine Kenntnis so vieler Sprachen hat immer neu Distanz überwunden. Deine nicht nachlassende Neugier, dein erstaunliches Gedächtnis formen ein Bild der Welt, das gesättigt ist von Tatsachen, fügen die unzähligen Bruchstücke zu einer großen Collage zusammen: Ob es die Ölarbeiter in Nigeria sind oder die Kollegen in den Minen Südafrikas, ob es die Landarbeiter in Guatemala sind oder die Opel-Arbeiter in Bochum – nichts und niemand ist für dich fern.

Mit jedem einzelnen Kampf, mit jeder neu auflebenden Bewegung wächst deine Hoffnung. Und so lebendig dieses Mit-Bangen und Mit-Fühlen ist, so entschieden ist auch Deine Ablehnung. Die Köder der Mächtigen haben dich gleichgültig gelassen. Du warst zuerst Attaché an der deutschen Botschaft in Paris und wurdest dann Chefredakteur der "Metall-Zeitung". Man beachte die Reihenfolge! Du hast dir den Kopf nicht verdrehen lassen. Du wolltest nach links, nicht nach oben. Und man hat dich nicht bereden, einspinnen und einbinden können: Eine Mauer bleibt für dich eine Mauer, ob sie nun durch Berlin gegangen ist, am Rio Grande hin, oder quer durch Palästina gebaut wird. Denn Mauern, die Menschen trennen, ausschließen und einsperren, sind in der Karte deiner Welt nicht vorgesehen. Keine Rechtfertigung, unter welchen Symbolen auch immer, wird dich umstimmen können.

Ich denke, das ist bezeichnend für dich: So lange die innerdeutsche Grenze bestand, hattest du Einreise-Sperre. Nach der letzten Verlängerung galt sie bis zum Jahr 2000. Und als die Mauer 1989 fiel, warst du drüben einer der ersten und hast die Menschen beschworen, von der Freiheit Gebrauch zu machen, die Chance zu nutzen, nun wirklich eine Gesellschaft der Freien und Gleichen aufzubauen, frei von Personenkult, frei auch von den unsichtbaren Mauern, mit denen sich die Partei umgeben hatte. Es war eine kurze Zeit, ein winziges Fenster der Hoffnung, das sich schnell wieder geschlossen hat. Aber die Erinnerung bleibt: an Alternativen, an ein Denken gegen das herrschende Dogma.

Dieses teilnehmende Hineinhorchen in die Welt, dieses Mit-Hoffen hätte auch diffus werden können, wäre nicht die Verankerung in der deutschen Gewerkschaftsbewegung, in unserer IG Metall. Von 1963 bis 1978 warst du Chefredakteur der "Metall-Zeitung". In unzähligen Berichten und Kommentaren wurdest du zum Chronisten des "Goldenen Zeitalters" der IG Metall. In dieser Zeit wuchs die Mitgliedschaft von 1,9 auf 2,7 Millionen. In den Jahren 1969 bis 1974 hatten wir zwischen 300.000 und 400.000 Neuaufnahmen pro Jahr! – darunter viele ausländische Kolleginnen und Kollegen. Gemeinsam mit Max Diamant sorgtest du dafür, dass sie "Metall" in ihrer Muttersprache bekamen. Aus Einwanderern, die sich fremd fühlten, wurden auch dadurch bald zuverlässige Metaller. Hinzu kamen die Streik- und Aussperrungs-Nachrichten, Broschüren und Bücher. Ich erinnere nur an die legendären Schwarzbücher über das "Unternehmerverhalten in der Krise" 1966/67, bearbeitet gemeinsam mit Werner Thönnessen.

"Chefredakteur" – das war bis zum jüngsten Gewerkschaftstag in Hannover 2003 ein Satzungsorgan. Was nicht alle wissen: Die Zeitung ist älter als der Verband. 1883 wurde sie gegründet, mitten in der Illegalität und Halblegalität des Sozialistengesetzes. Der Deutsche Metallarbeiter-Verband konnte erst 1891 seine Gründungsversammlung abhalten.

Du warst dir dieser großen Tradition bewusst und du hattest in Otto Brenner einen Vorsitzenden, der bei aller Unterschiedlichkeit der Erfahrungen und des Temperaments die Tendenz deines Denkens und Handelns teilte. Ihm war klar, dass es die "Marktwirtschaft" in Wirklichkeit nicht gab, sondern einen Dschungel von Preisabsprachen, Kartellen und Fusionen, die so ziemlich das Gegenteil dessen bewirkten, was die Propaganda als "Marktwirtschaft" feierte.

Aus dieser Erkenntnis heraus hat er sein Verständnis von Mitbestimmung entwickelt: "Mitbestimmung in der Wirtschaft ist als Ergänzung der politischen Demokratie und als Angriff auf die unternehmerische Autokratie zu definieren. Sie ist vom Ansatz her radikaldemokratisch und antikapitalistisch." So nachzulesen im Protokoll der 4. Internationalen Arbeitstagung "Qualität des Lebens" in Oberhausen 1972.

Wer die Jahrgänge der "Metall-Zeitung" durchblättert, für die du, lieber Jakob, verantwortlich zeichnest, der wird schnell bemerken, auf wie kluge Weise hier die gewerkschaftliche Tagesarbeit mit der politische Orientierung verbunden ist, wie die aktuelle Wirtschafts- und Sozialpolitik vor dem Hintergrund historischer Erfahrungen interpretiert wird. Fritz Opel gab dir dabei wertvolle Unterstützung. Vor 1933 hatte er der KPO angehört und in den 1950er Jahren bei Wolfgang Abendroth promoviert.

Ob Kampf gegen die Militarisierung, gegen atomare Bewaffnung, gegen die Notstandsgesetze oder die Aushöhlung der Mitbestimmung: diese Bewegungen mögen nicht oder nur zum Teil an ihr Ziel gekommen sein – sie wurden zu Beispielen des politischen Lernens aus der Aktion heraus. In gewisser Weise gilt das auch für den Kampf um die Verkürzung der Arbeitszeit, den du Jahrzehnte hindurch begleitet hast.

Was wäre unsere IG Metall heute ohne die großartige Bewegung für die Humanisierung der Arbeitswelt? Was wären wir ohne das Ringen um mehr persönliche Freiheit? Seither gibt es tarifvertraglich garantierte Pausen, die unseren Kolleginnen und Kollegen die Möglichkeit geben, "nach einer Stunde Arbeit einmal aufzusehen" – wie Franz Steinkühler das kürzlich so einprägsam formuliert hat. Das mögen manche für nicht so wichtig halten, aber das war und ist die Nagelprobe auf unsere Glaubwürdigkeit.

Allem Gerede vom angeblichen "Niedergang" der Gewerkschaften zum Trotz gilt noch immer, was Friedrich Engels 1875 an August Bebel geschrieben hat: Die Gewerkschaft "ist die eigentliche Klassenorganisation des Proletariats, in der es seine täglichen Kämpfe mit dem Kapital durchficht, in der es sich schult und die heutzutage bei der schlimmsten Reaktion ... platterdings nicht mehr kaputtzumachen ist" (MEW Bd. 19, S. 6) Die letzten Wochen und Monate haben es bewiesen: Wer sich auf ein vermeintliches "Co-Managment" einlässt, wer in einer Serie von Erpressungen nur noch den tagesaktuellen Kompromiss sucht – der gerät in eine Abwärtsspirale ohne Ende.

Wir brauchen das ganzheitliche Bild des Menschen, wir brauchen einen zureichenden Begriff von Würde und Recht. Wir müssen den Mut aufbringen, unsere Forderungen unverfälscht und unverkürzt einer Welt entgegen zu halten, die sich anschickt, alles zu zerstören, was Generationen von Gewerkschaftern erkämpft haben.

Manche unserer Gegner sind schnell bei der Hand, die Tarifverträge, das Betriebsverfassungsgesetz, die Mitbestimmung und dergleichen als "Irrtümer der Geschichte" zu verbrennen. Solche Tiraden können uns nicht beeindrucken. Es wird sich ja herausstellen, wer die stärkere Sache vertritt.

Ich bin zuversichtlich, dass sich eines nicht allzu fernen Tages die Menschen an den Kopf greifen werden, wie man auf die Idee kommen konnte, das Schicksal ganzer Völker an die eine dürre Messzahl des Profits zu knüpfen. Vielleicht braucht es bis zu dieser Einsicht noch ein paar Jahre mehr als die nächsten zehn, aber ich bin sicher: Dieser Tag wird kommen!

Du, lieber Jakob, hast wie nur wenige auf diesen Tag hingearbeitet. Dafür möchte ich dir ganz persönlich und im Namen des Vorstandes der IG Metall recht herzlich danken.

Wolfgang Rhode ist Mitglied des geschaftsführenden Vorstands der IG Metall. Bei dem Beitrag handelt es sich um die Rede anlässlich einer Veranstaltung zu Ehren von Jakob Monetas 90. Geburtstag am 13.11.2004 in Oberjosbach.

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