1. März 2000 Joachim Bischoff / Richard Detje

Dünnes Eis

Die Ergebnisse der Landtagswahl in Schleswig-Holstein haben alle Prognosen widerlegt, die Krise nicht nur der bürgerlichen Volkspartei, sondern des politischen Systems insgesamt würde weitreichende Umgruppierungsprozesse in der Parteienlandschaft nach sich ziehen.

Die Wahlbeteiligung ist mit 69% keineswegs drastisch zurückgegangen; bei Regionalwahlen im letzten Jahr – noch vor dem Parteispendenskandal – war die Enthaltung größer. Alle im Landtag vertretenen Parteien – SPD, Grüne, CDU, FDP und der SSW (die Partei der dänischen Minderheit) – interpretieren den Wahlausgang als Erfolg. Insofern liegt der Schluss nahe, dass die Korruptions- und Finanzaffären der Parteien vom Wahlvolk als lässliche Sünden eingestuft werden und das politische Geschäft so weiterlaufen kann wie zuvor. Der Eindruck der Stabilisierung des Parteiensystems wird dadurch verstärkt, dass die leichten Verschiebungen der Stimmenanteile auf Wählerwanderungen innerhalb der politischen Lager hinweisen: Den Gewinnen bei der SPD stehen Verluste bei den Grünen gegenüber; innerhalb des bürgerlichen Lagers entsprechen die Verluste bei der CDU den Gewinnen bei der FDP. Die Wahlergebnisse lassen sich mithin als eine Momentaufnahme deuten, in der weder für die Parteien noch für die Wähler die Folgen der Parteienskandale abzuschätzen sind.

Unterhalb der dünnen Oberfläche politisch-parlamentarischer Stabilität ist viel in Bewegung: Noch im Spätherbst sah die CDU als sicherer Sieger aus, während die SPD allenfalls hoffen konnte, ihren Niedergang zu begrenzen, um bei den entscheidenden Wahlen in Nordrhein-Westfalen noch eine Chance zu haben. Diese »Stimmung« ist in wenigen Monaten umgeschlagen, größere Wählergruppen haben sich neu orientiert, ohne dass ihre Kritik – sei es an der Politik der Kieler und Berliner Sozialdemokratie, sei es am CDU-Skandal – sich politisch artikulieren konnte. Wie verhalten sich künftig Wähler, die mit den bestehenden politischen Angeboten unzufrieden sind, von den Parteien aber nur ein fröhliches »Weiter so« zu hören bekommen? Das Eis, auf dem sich die »etablierten« Parteien bewegen, ist ausgesprochen dünn.

Die Grünen

Auch wenn die Grünen ihre Verluste herunterspielen, ist nicht zu übersehen, dass sich ihre politische Talfahrt fortgesetzt hat. Zu Recht verweisen Wahlforscher darauf, dass ohne das in Schleswig-Holstein erstmals mögliche Stimmensplitting (1./2.-Stimme) die Grünen den Wiedereinzug ins Parlament vermutlich nicht geschafft hätten. Der Erosionsprozess ist weder gestoppt noch umgekehrt. Für NRW bleibt weiterhin das Problem: Kann die Verschiebung des Koordinatenkreuzes innerhalb der Partei wahlpolitisch so umgesetzt werden, dass die Verluste an linken Rand durch entsprechende Zugewinne in der »politischen Mitte« kompensiert werden? Bislang zeichnet sich zwar eine deutliche Positionierung mit Blick auf die Mitte ab, aber kein entsprechender Zugewinn an Wählerstimmen.

SPD

Alle vordergründige Stabilität des Parteiensystems kann nicht verdecken, dass die Sozialdemokratie weiterhin von einer Wiederholung der hessischen Konstellation bedroht ist: Stimmenzuwächse für sie kompensieren nicht den Bedeutungsverlust der Grünen. Es bleibt für das rot-grüne Parteienbündnis entscheidend, ob eine Fortsetzung der Regierungskoalition in NRW möglich wird. Schaffen die Grünen den Wiedereinzug in den Düsseldorfer Landtag nicht, wird sich die innerparteiliche Auseinandersetzung zuspitzen und die Stabilität von Rot-grün auf Bundesebene ist dahin.

FDP

Die FDP hat von der Krise der CDU profitiert und rechnet sich einen neuen Frühling aus. Die strategische Positionsbestimmung ihres Ehrenvorsitzenden Otto Graf Lambsdorff ist nicht von der Hand zu weisen: Die Unionsparteien CDU/CSU werden sich schwer tun, eine neue programmatische und personelle Balance zu finden – dies eröffne eine politische Chance für die zweite Kraft im bürgerliche Lager.

CDU

Unter der Regierung Kohl waren die Unionsparteien mehr und mehr zu einer neoliberalen Deregulierungspolitik übergegangen und hatten dadurch an Integrationskraft bei Lohnabhängigen, jungen Familien und Teilen des Mittelstandes eingebüßt. Die »Überwindung der Krise der Union« heißt zunächst einmal Neuordnung der innerparteilichen Macht- und Kräfteverhältnisse, was zwangsläufig mit einem Auswechseln des Führungspersonals verknüpft ist. Es geht aber auch um eine programmatische Neubestimmung, wenn die sozialdemokratische Hegemonie in absehbarer Zeit abgelöst werden soll. In der Familien- wie in der Bildungspolitik hat die CDU bereits Korrekturen eingeleitet, um sich von dem Image zu verabschieden, ausschließlich auf eine Förderung der überlieferten Kleinfamilienstrukturen fixiert zu sein. Die Auseinandersetzung über eine Reform der sozialen Sicherung und einen Entwicklungspfad für den expandierenden Gesundheitsbereich ist noch offen. Gleichermaßen ungeklärt ist die außen- und sicherheitspolitische Konzeption, vor allem unter dem Aspekt, welchen Umfang eine europäische Staatlichkeit gegenüber der Hegemonialmacht USA erhalten soll.

Das Führungspersonal der Unionsparteien wird nicht nur vom eigenen politischen Ehrgeiz getrieben, wie dies häufig dargestellt wird, sondern es geht vor allem darum, wie die Union als große Volkspartei und integrierende Kraft des bürgerlichen Lagers erhalten werden kann. Gerade der politische Wechsel in Österreich zu einer Koalition von ÖVP und den rechtspopulistischen Freiheitlichen hat die Zielsetzung unterstrichen, dass die Union ihre politische Rolle nur weiterspielen kann, wenn sie sowohl die demokratische Rechte und die bürgerliche Mitte, aber auch Teile der »christlichen Arbeitnehmerschaft« einbindet. Der unter Kohl erfolgte Niedergang der sozialen Kompetenz der Christdemokraten und die Okkupation der Konzeption einer »sozialen Marktwirtschaft« durch die SPD ist nicht durch einfache personalpolitische Manöver rückgängig zu machen.

Sicherlich ist die personalpolitische Lösung für den Parteivorsitz der CDU eine wichtige Frage. Aber die zur politischen Alternative hochgeschriebene Auseinandersetzung zwischen Volker Rühe und Angela Merkel sollte nicht den Blick dafür verstellen, dass es auch um eine politische Korrektur der Positionsbestimmung des CDU-Landesverbandes Schleswig-Holstein ging. Volker Rühe bleibt zwar nicht als Oppositionsführer in Kiel, aber er will offensichtlich als Landesvorsitzender die erfolgreiche Korrektur gegenüber einer Verlagerung des Schwerpunktes nach rechts außen absichern.

PDS

Bei einer Regionalwahl, die lauter selbsternannte Gewinner kennt, sollte der einzige Verlierer nicht unerwähnt bleiben. Die PDS ist in Schleswig-Holstein erstmals angetreten und hat mit einem Ergebnis von unter 2% keinen Achtungserfolg eingefahren. Es handelt sich auch nicht um eine regionalpolitische Besonderheit nach dem Motto, in Schleswig-Holstein sind die Entwicklungsbedingungen für eine sozialistische Partei besonders schlecht. Auch wenn die Parteiführung der PDS einen mit den anderen Parteien vergleichbaren Hang zur Beschönigung der politischen Entwicklung erkennen lässt, kommt man um die These nicht herum: Zehn Jahre nach einem gewiss nicht sonderlich erfolgreich und sozial verträglich abgelaufenen Vereinigungsprozess ist die PDS in den alten Bundesländern nach wie vor eine Splitterpartei. Die Versicherungen der Parteiführung (Gysi, Bisky, Bartsch), man werde sich durch diese Misserfolge im Westen nicht entmutigen lassen und den Aufbauprozess einer bundesweiten sozialistischen Partei fortsetzen, haben sicherlich die richtige Seite, dass die PDS als ostdeutsche Regionalpartei auf Dauer keine Zukunft hat. Aber die Argumente, der »tiefsitzende Antikommunismus« und die Behinderung des politischen Engagements im kapitalistischen Westen seien für die Unterentwicklung verantwortlich, verlieren mehr und mehr an Überzeugungskraft. Selbstverständlich hat die PDS im Westen zu wenig Mitglieder und damit eine zu geringe gesellschaftliche Verankerung in den für eine moderne sozialistische Partei wesentlichen Bereichen der Gesellschaft. Aber statt darauf zu setzen, dass dieses Handikap mit der Zeit von selbst verschwindet, könnte man auch einmal versuchen, die programmatischen und organisatorischen Konzeptionen des »Westaufbaus« zu überprüfen.

Joachim Bischoff und Richard Detje sind Redakteure von Sozialismus.

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