1. November 2000 Johannes Steffen
Eiertanz statt »heißer Herbst«
Noch nie war Sozialabbau von den Gewerkschaften so billig zu haben – weil mehrheitlich ohne ernsthaften Willen zur Gegenwehr – wie unter Rot-Grün. Von einem noch vor Monaten angedrohten »heißen Herbst« in Sachen Rente sind bislang nur »Aktionstage« übrig geblieben – anfangs überwiegend als Pflichtübungen geplant, die nach außen den Eindruck der Mitgliedermobilisierung erwecken sollten, gleichzeitig aber auf eine gesellschaftspolitische »Demobilmachung« im Rentenstreit angelegt waren.
Warum auch einen Großkonflikt schüren, wo doch die Bundesregierung den Gewerkschaften in wichtigen Forderungen entgegen gekommen ist – so jedenfalls die protokollarisch verbriefte Sicht der Dinge. Diese Forderungen waren:
1. Rückkehr zur nettolohnorientierten Rentenanpassung ab 2001,
2. Einführung einer sozialen Komponente bei der Förderung der Privatvorsorge und
3. Vorrang der betrieblichen Altersversorgung vor individueller Privatvorsorge.
Einmal abgesehen davon, dass die vorzeitige Abkehr von der Inflationsanpassung wie auch die Familienkomponente bei der Förderung der Privatvorsorge Forderungen der oppositionellen Union waren, die der Kanzler und sein Arbeitsminister bereits vor der »historischen« Gewerkschaftsratssitzung Anfang September in ihr politisches Konzept übernommen hatten, bleibt festzuhalten:
Von einer Rückkehr zur nettolohnorientierten Rentenanpassung, wie sie in den Jahren 1992 bis 1999 praktiziert wurde, kann keine Rede sein. Vielmehr soll an Stelle der ursprünglich geplanten Inflationsanpassung die neue Rentenanpassungsformel bereits ein Jahr früher in Kraft treten. Dieses »Zugeständnis« an die Union fällt der Koalition um so leichter, als sich dadurch die Rentenanpassung 2001 mit voraussichtlich 2,1% kaum noch unterscheidet von der jahresdurchschnittlichen Preissteigerungsrate 2000 in Höhe von etwa 1,9%.
Was die Union bei der Förderung der Privatvorsorge unter »Familienkomponente« versteht, heißt in gewerkschaftlichen Kreisen »soziale Komponente«. Die wiederum sieht im vorliegenden Diskussionsentwurf des Arbeitsministers so aus, dass all diejenigen ArbeitnehmerInnen, die sich an die Empfehlungen der Bundesregierung halten und in entsprechendem Umfang private Vorsorge betreiben, ab dem Jahre 2008 (bei 4% Privatvorsorge-Prämie) einen Zuschuss von 300 DM/600 DM (Alleinstehende/Verheiratete) jährlich erhalten sollen; pro Kind kämen noch einmal 360 DM hinzu. Diese Sätze gelten für Geringverdiener; wer mehr verdient, kann seine Aufwendungen als zusätzlichen Sonderausgabenposten von der Steuer absetzen und erzielt damit eine absolut – vor allem aber prozentual – deutlich höhere Förderung. So erhielte z.B. der Alleinstehende mit rd. 100.000 DM Bruttoeinkommen eine um gut 500 DM höhere Förderung als die Familie mit zwei Kindern derselben Einkommensklasse.
Und auch von einem Vorrang der betrieblichen Altersversorgung kann in Riesters Förderkonzept keine Rede sein.
Auf einen Kompromiss zubewegt haben sich die Gewerkschaften, nicht die Bundesregierung. Seit der Bundesarbeitsminister am 26. September auch der Öffentlichkeit seinen Diskussionsentwurf zur Kenntnis gab, ist es noch unerfindlicher, warum Rot-Grün die soziale Rentenversicherung sturmreif schießen will; die Gründe hierfür lassen sich jedenfalls nicht aus den tatsächlichen oder vermeintlichen Problemen ableiten, vor denen die Rentenversicherung in den kommenden drei Jahrzehnten steht. Da mögen sich die Medien auch noch so oft auf ein paar muntere Plauderer in den gewerkschaftlichen Reihen – »An einer Reform führt nach Adam Riese kein Weg vorbei« – berufen: Unter Finanzierungsgesichtspunkten gibt es entgegen dem öffentlich erweckten Eindruck keinen akuten Handlungsbedarf. Nach den vom Bundesarbeitsminister vorgelegten Daten ist die soziale Rentenversicherung auch in den kommenden 30 Jahren zu für alle tragbaren Bedingungen finanzierbar. Auch wenn dies mancherorts als unmodern und altbacken gilt: Der gewerkschaftliche Protest gegen den Systemwechsel in der Alterssicherungspolitik hat neben Adam Riese alle vernünftigen Argumente auf seiner Seite.<7p>
Die Finanzierungsseite
Nach wie vor wirbt das rot-grüne »Reform«-Vorhaben mit der Behauptung, die Rente sei in Zukunft nicht mehr finanzierbar, da die Beitragsbelastung ohne die geplanten Eingriffe alleine aufgrund der demographischen Entwicklung unerträgliche Höhen erreiche; Ziel der Koalition sei daher die (Wieder-)Herstellung von Generationengerechtigkeit – und die wiederum schlage sich im rot-grünen Konzept nieder in der Entlastung der jüngeren Generation auf der Beitragsseite. Oberste Priorität hat also nach wie vor die Dämpfung des Beitragssatzanstiegs zur Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten und nicht mehr das sozialpolitische Ziel der Lebensstandardsicherung bei Invalidität und im Alter.
Was das vermeintliche Horrorszenario einer »durch die Decke schießenden Beitragsbelastung« im Falle des Ausbleibens der »Reform« angeht, liefert Riesters Diskussionsentwurf erhellende Daten (vgl. Übersicht 1): Während die Rückkehr zur bisherigen Nettolohnanpassung der Renten – was gleichbedeutend wäre mit einer Stabilisierung des Rentenniveaus bei rd. 69% und damit noch der Aufrechterhaltung des Ziels der Lebensstandardsicherung – den Beitragssatz im Jahre 2030 auf »untragbare« 23,6% treiben würde, will Rot-Grün dessen Anstieg auf »generationengerechte« 21,9% begrenzen – bei einem dann auf rd. 61% gesunkenen Rentenniveau (Zugang 2030). Eine Beitragssatzdifferenz von 1,7%-Punkten im Jahre 2030 – bei paritätischer Finanzierung also jeweils 0,85 Prozentpunkte für Arbeitgeber und Arbeitnehmer – soll demnach als Begründung für einen radikalen Systemwechsel in der Alterssicherungspolitik herhalten? Dieser Belastungsanstieg soll für die jüngere Generation nicht tragbar sein – obwohl die Jüngeren nach Riesters eigenen Berechnungen ab dem Jahre 2025 voraussichtlich nur noch 2,0% (statt der heutigen 6,5%) zur Arbeitslosenversicherung aufbringen sollen? Absurder kann die Begründung eines vermeintlich akuten finanziellen Handlungsbedarfs in der Rentenversicherung nicht ausfallen.
Zur Abdeckung der Sicherungslücke, die sich infolge der drastischen Senkung des Rentenniveaus auftut, empfiehlt die Koalition allen ArbeitnehmerInnen, zusätzliche private Vorsorge zu treiben. Ab dem Jahre 2001 sollen sie 0,5% ihres versicherungspflichtigen Bruttoentgelts – steigend auf 4,0% im Jahre 2008 – für eine private Alterssicherung auf die Seite legen. Werden hierbei die gesetzlich vorgesehenen Bedingungen erfüllt, gibt es staatliche Fördermittel, deren Gesamtvolumen sich im Jahre 2008 auf fast 20 Mrd. belaufen soll. Nur der Vergleichbarkeit halber: Würden diese rd. 20 Mrd. DM zusätzlich in die Rentenkasse fließen, so könnte der dortige Beitragssatz nach heutigen Werten um gut einen Prozentpunkt gesenkt werden.
Ergebnis des angestrebten Systemwechsels ist: Die paritätische Finanzierung einer lebensstandardsichernden Leistung im Alter wird ab kommendem Jahr endgültig der Vergangenheit angehören. Damit sieht die Entlastung auf der Beitragsseite so aus, dass die Arbeitnehmer, falls sie auf lebensstandardsichernde Leistungen im Alter nicht verzichten wollen, den nach geltendem Recht erst im Jahre 2030 erwarteten – von Rot-Grün aber als »untragbar« eingestuften – Belastungssatz von fast 12% (9,4% Beitrag plus 2,5% Prämie) Riesters Plänen zufolge bereits ab dem Jahre 2005, also ein Vierteljahrhundert früher, zu zahlen haben.
Weil es so unglaublich ist, noch mal ganz langsam: Die Koalition hält einen paritätisch finanzierten Beitragssatz zur Rentenversicherung von 23,6% (2030) für untragbar; deshalb sollen die ArbeitnehmerInnen dadurch entlastet werden, dass sie im Jahre 2030 nicht »unfinanzierbare« 11,8%, sondern nur »tragbare« 14,95% aufbringen müssen!
Die Leistungsseite
Bei der Senkung des Leistungsniveaus der sozialen Rentenversicherung stützt sich Riesters Konzept nach wie vor auf die folgenden zwei Instrumente:
Im Rahmen des neuen Rentenanpassungsverfahrens findet die immer noch behauptete Rückkehr zur Nettoanpassung gerade nicht statt. Maßgeblich für die jährliche Anpassung der Renten sollen alleine die Änderung der durchschnittlichen Bruttoentgelte, des Rentenbeitragssatzes und des Kapitalvorsorgebeitrags sein. Damit werden einerseits Entlastungen im Lohn- und Einkommensteuerbereich bei den Renten nicht mehr berücksichtigt. Das betrifft vor allem die dreistufige Steuerreform 2001/2003/2005 sowie alle künftigen, alleine der »kalten« Progression wegen erforderlichen Korrekturen des ESt-Tarifs. Auch die von der Bundesregierung erwartete Senkung des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung wird nicht mehr an die Rentner weiter gegeben. Auf der anderen Seite aber soll die Belastung durch den von 2001 bis 2008 kontinuierlich steigenden Kapitalvorsorgebeitrag in der neuen Formel in vollem Umfang anpassungsmindernd berücksichtigt werden. Damit sinkt das Nettostandardrentenniveau bis zum Ende des Jahrzehnts von heute 70,7% auf rd. 65% – und zwar für alle heutigen und bis einschließlich 2010 neu zugehenden Renten.
Im Wege des Einbaus eines so genannten Ausgleichsfaktors in die neue Rentenformel soll der Wert der individuellen Rentenanwartschaften für Rentenneuzugänge ab dem Jahre 2011 – jährlich um 0,3 Prozentpunkte steigend auf 6% für Rentenneuzugänge des Jahres 2030 – gekürzt werden. Als Folge wird das Nettostandardrentenniveau für den Rentenzugang des Jahres 2030 – also für die heute 35jährigen – bei nur noch rd. 61% liegen.
Nun sollte man meinen, dass der – verglichen mit der Variante »Beibehaltung geltenden Rechts« – überproportionalen Belastung der Arbeitnehmer eine entsprechend hohe Gesamtleistung im Alter gegenübersteht. Weit gefehlt! Riesters Diskussionsentwurf stellt dem Rentenzugang des Jahres 2030 (Standardrentner) eine monatliche Gesamtversorgung aus gesetzlicher Rente plus privater Vorsorge in Höhe von 5.030,58 DM (brutto) in Aussicht. Das sind knapp 20 DM, mehr als derselbe Standardrentner bei Aufrechterhaltung der paritätischen Finanzierung und eines lebensstandardsichernden Leistungsniveaus alleine aus der sozialen Rentenversicherung zu erwarten hätte (vgl. Übersicht 2) – so jedenfalls Berechnungen des VDR auf Basis der Riesterschen Annahmen zur ökonomischen und demographischen Entwicklung in den nächsten 30 Jahren. Für die um monatlich 20 DM höhere Gesamtversorgung soll unser 35jähriger Durchschnittsverdiener in den noch vor ihm liegenden 30 Jahren allerdings eine – verglichen mit dem Szenario nach geltendem Recht – zusätzliche Bruttobelastung (also ohne Berücksichtigung der staatlichen Fördermittel) von ca. 80.000 DM tragen.
Wie gesagt: aus dem System der gesetzlichen Rentenversicherung heraus lässt sich das Koalitionsvorhaben nicht begründen oder erklären. Wollen die Arbeitnehmerorganisationen für die Zukunft nicht jedweden gesellschaftspolitischen Gestaltungsanspruch aufgeben und damit Gefahr laufen, weiter an Vertrauen und Zuspruch zu verlieren, dann dürften die gewerkschaftlichen Aktionstage des vergangenen Monats nur ein Auftakt gewesen sein; nicht wenige allerdings würden sie lieber als Abschlussveranstaltungen verstanden wissen. Für einen zunehmenden Teil der Mitgliedschaft jedenfalls wird der Umgang mit der »Rentenfrage« immer mehr zu einem gewerkschaftsinternen Problem. Denn der vermeintlich »neue« Verteilungskonflikt zwischen Alt und Jung entpuppt sich bei näherem Hinsehen sehr schnell als zeitgenössische Variante der alten Verteilungsfrage, die sich erfahrungsgemäß nicht wegmodernisieren lässt.
Johannes Steffen ist Referent für Sozialpolitik bei der Arbeiterkammer Bremen und Autor des Buches »Der Renten-Klau«, VSA-Verlag, Hamburg 2000.