25. Oktober 2014 Susanne Hennig-Wellsow: Das rot-rot-grüne Regierungsbündnis in Thüringen geht in die Spur

Ein Anfang ist gemacht

Kategorie: Linksparteien

Einstimmig empfahl am 20. Oktober 2014 der Landesvorstand der Thüringer SPD ihren Mitgliedern, beim bevorstehenden Mitgliederentscheid für die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen mit den Parteien DIE LINKE und Bündnis 90/Die Grünen zu stimmen. Die Entscheidung ist eine klare Absage an die Thüringer CDU, mit der die SPD seit 2009 regierte.

Der Beschluss ist ein wichtiger Schritt hin zu einem rot-rot-grünen (r2g) Regierungsbündnis. Bereits am 16. Oktober hatte sich auch der Vorstand der Linkspartei ohne Gegenstimmen für Verhandlungen ausgesprochen, der Landesvorstand der Grünen votierte am 23. Oktober ebenfalls einstimmig für die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen.

Vorausgegangen waren sechs Sondierungsrunden der drei Parteien, in denen sich deutlich zeigte, dass r2g in Thüringen auch mit dem knappen Ergebnis von nur einer Stimme Mehrheit im Parlament funktionieren kann, denn der Fundus an landespolitischen Gemeinsamkeiten ist gewaltig. Bis zum 4. November entscheiden nun die Mitglieder der SPD, ob sie der Empfehlung zur Aufnahme von Koalitionsverhandlungen folgen. Damit ist eine entscheidende Hürde auf dem Weg zu einem Regierungswechsel genommen. Anfang Dezember könnte nach fast 25 Jahren die CDU-Herrschaft in Thüringen beendet, ein Politikwechsel eingeleitet und der erste Ministerpräsident der Linken in der Bundesrepublik gewählt werden.

Programmatische Gemeinsamkeiten bei landes- und kommunalpolitischen Themen, gemeinsame politische Erfahrungen und Erfolge im Parlament und auf den Straßen sowie eingespiel­te Gesprächsebenen gibt es in Thüringen schon seit Langem zwischen r2g. Die seit Jahren im Landtag vorhandene rechnerische Mehrheit links der CDU kann nun endlich Gestaltungsmacht erlangen. Auf diese Chance hat die Thüringer LINKE seit vielen Jahren hingearbeitet. Unser Landesverband hat seine Politik seit jeher daran ausgerichtet, was 2004 von der PDS als »strategisches Dreieck« beschrieben wurde: »Für sozialistische Politik nach unserem Verständnis bilden Widerstand und Protest, der Anspruch auf Mit- und Umgestaltung sowie über den Kapitalismus hinaus weisende Alternativen ein unauflösbares strategisches Dreieck.«[1]

DIE LINKE steht nun in Thüringen vor einer besonderen Verantwortung. Vieles von dem, wofür wir seit Jahrzehnten aus der Opposition im Parlament und auf den Straßen streiten, könnten wir jetzt umsetzen. Und wir stehen vor dem ersten möglichen Minis­terpräsidenten der Partei DIE LINKE – ein Ereignis, das Geschichte schreiben würde. Unsere Verantwortung ist es zu beweisen, dass auch unter schwierigen Bedingungen eine soziale, demokratische und ökologische Politik möglich ist. Wir müssen zeigen, dass Politik noch in der Lage ist, einen Kurswechsel zu vollziehen, und dass nicht allein Wirtschaftsinteressen und CDU-Filz den Freistaat regieren. DIE LINKE ist mit der Ansage in den Wahlkampf gegangen, zu regieren und den Ministerpräsidenten zu stellen. 28,2% der Wähler haben uns dafür ihre Stimme gegeben. Diesen Auftrag müssen wir umsetzen.

Mit dem Wahlergebnis ist aber auch klar, dass wir Partner brauchen. Ein linkes Reformbündnis gelingt nur, wenn r2g gleichberechtigt miteinander umgeht. Ein solches Bündnis kann niemals nur auf dem Standpunkt einer der Parteien fußen. Alle drei Parteien müssen sich in der Politik der Koalition wiederfinden. Das macht Kompromisse zwingend nötig. Wir waren als PDS, Linkspartei.PDS und DIE LINKE im Thüringer Landtag 24 Jahre Oppositionspartei. Wir mussten keine Kompromisse finden – das ist nicht die Aufgabe der Opposition. Doch jetzt können wir eine Koalition bilden und den Ministerpräsidenten stellen. Wir dürfen nicht den Fehler begehen und Kompromisse als etwas Schlechtes ansehen. Ohne den Kompromiss wird es keinen Politikwechsel geben. Er ist die Voraussetzung dafür, dass wir Thüringen sozialer, gerechter und lebenswerter machen. Seit vielen Jahren tragen wir in Thüringer Gemeinden, Kreisen und Städten Verantwortung – vom Ortsteilbürgermeister bis hin zur Oberbürgermeisterin in Eisenach und unseren Landrätinnen im Altenburger Land, im Ilmkreis und dem Kreis Nordhausen. Wir wissen, was Kompromissbereitschaft bedeutet – und wir wissen, wie linke Politik auch unter schwierigen Bedingungen erkennbar und wirksam ist. Viele Vereinbarungen in den anstehenden Koalitionsverhandlungen werden uns leicht fallen, weil die Unterschiede zwischen uns, der SPD und den Grünen in vielen landespolitischen Themen nicht gravierend sind. Andere Kompromisse werden uns schwerer fallen. Doch ebenso wie wir uns auf SPD und Grüne zubewegen, werden auch sie sich auf uns zubewegen. Und wir werden weiterhin in sachlichen Worten die Differenzen benennen, die unsere drei Parteien in einzelnen Fragen trennen – auch das gehört zu einem vertrauensvollen Umgang. In den Sondierungsgesprächen hat sich das – zum Beispiel in der Debatte um den Inlandsgeheimdienst, den wir, anders als SPD und Grüne, abschaffen wollen – bewährt. Am Ende haben wir abzuwägen, was wir im Kompromiss aufgeben und was wir durch ihn gewinnen – und unsere Mitglieder werden entscheiden, ob die linke Handschrift im Koalitionsvertrag ausreichend erkennbar ist.

In den sechs Sondierungsrunden haben wir sehr konkrete Verabredungen für eine künftige Landesregierung getroffen. Vorhaben, die das Leben vieler Menschen im Hier und Heute verbessern und zugleich langfristig Transformationsperspektiven eröffnen. Die folgenden Punkte sind eine Zusammenfassung wichtiger Verabredungen:[2]

Thüringen wird sozialer: Wir werden das von der CDU eingeführte Landeserziehungsgeld (»Herdprämie«) abschaffen und finanzieren mit dem eingesparten Geld ein beitragsfreies Kita-Jahr. Für die Beschäftigten im Pflege-, Kita- und Jugendbereich werden wir uns zusammen mit den Gewerkschaften für gute Löhne und Arbeitsbedingungen durch Branchentarifverträge einsetzen. Frauen- und Gleichstellungspolitik werden aufgewertet. Im Gesundheitsbereich legen wir einen Schwerpunkt auf die Infrastruktursicherung. Auch das Blindengeld werden wir, orientiert am Bundesdurchschnitt, erhöhen.

Bildung und Hochschulen: Wir werden die Gemeinschaftsschulen stärken, den Unterricht durch die Neueinstellung von 500 Lehrern pro Jahr sowie den Aufbau einer Vertretungsreserve verbessern und die Förderung der freien Schulen ausbauen. Es wird künftig keine Veranstaltungen in alleiniger Durchführung der Bundeswehr und gar keine Veranstaltungen des Verfassungsschutzes mehr an Schulen geben. Wir werden alle Hochschulstandorte erhalten und für studentische Beschäftigte an Hochschulen einen Tarifvertrag abschließen.

Demokratischer, transparenter und bürgernäher: Die Befugnisse des Geheimdienstes werden eingeschränkt und die parlamentarische Kontrolle deutlich ausgeweitet. Unter anderem werden wir das bisherige V-Leute-System beenden. Ausnahmen kann es nur im begründeten Einzelfall zur Terrorismusabwehr und nur bei Zustimmung von Innenminister, Ministerpräsident und Parlamentarischer Kontrollkommission geben. Mit einer Kennzeichnungspflicht für alle Polizisten werden wir die Polizeiarbeit transparenter gestalten. Den Personalabbau bei der Polizei wollen wir stoppen. Wir werden das aktive kommunale Wahlalter auf 16 Jahre senken und direkte Mitbestimmung auf kommunaler Ebene ausbauen. Wir werden die dringend notwendige Verwaltungs- und Gebietsreform auf den Weg bringen. Die Wasserversorgung bleibt demokratisch kontrolliert in öffentlicher Hand.

Gegen Rechts: Um den Kampf gegen Rechts effektiver zu führen, wandeln wir das »Landesprogramm für Toleranz« in ein »Landesprogramm gegen Rechtsextremismus, Rassismus, Antisemitismus, Antiziganismus und Homophobie« um und stocken es um eine Million Euro auf. Die Beratungsstellen gegen Rechts werden dauerhaft institutionell abgesichert. Mit einer Enquetekommission zur Auseinandersetzung mit Rassismus und der Fortsetzung des NSU-Untersuchungsausschusses werden wir die Aufklärung über rechte Gewalt fortführen.

Humanitäre Flüchtlingspolitik: Flüchtlinge und Asylbewerber werden dezentral untergebracht und erhalten einen unbürokratischen Zugang zu medizinischer Versorgung. Wir stellen die psychosoziale Versorgung von Flüchtlingen sicher und schaffen Gutscheine und Sachleistungen in den letzten zwei Thüringer Landkreisen zugunsten von Bargeldleistungen ab.

Aufarbeitung der DDR-Geschichte: Thüringen arbeitet die DDR-Geschichte auf und unterstützt die Opfer des DDR-Unrechts. Wir wollen bei der Unterstützung von Heimkindern, denen schweres Leid und Unrecht widerfahren ist, einen großen Schritt vorankommen. Wir werden die wissenschaftliche Aufarbeitung der DDR an Hochschulen und Forschungseinrichtungen sowie dezentrale Aufarbeitungsstrukturen fördern. Wir werden die Opferberatung finanziell besserstellen und die Gedenkstätten baulich instandsetzen.

Thüringen wird ökologischer: Mindestens 5% des Waldes in Thüringen wollen wir der forstwirtschaftlichen Nutzung entziehen. Wir werden die Stiftung Naturschutz stärken und die Arbeit der Naturschutzverbände besser fördern. Zur Erreichung der Klimaschutzziele werden wir uns verbindliche Ziele stecken. Wir wollen, dass Thüringen seinen Energiebedarf mittelfristig zu 100% aus erneuerbaren Energien deckt. Dazu werden wir bis 2015 eine Energiestrategie 2040 erarbeiten, die auf dezentrale Versorgung, Effizienz sowie die Weiterentwicklung von erneuerbaren Energien und Speichertechnologien setzt. Die für Windenergie genutzte Fläche soll verdreifacht werden. Zur Beseitigung der Bergbau-Altlasten wollen wir den K+S-Konzern und den Bund einbeziehen.

Kultur & Medien: Alle Theater und Orchester erhalten eine Bestandsgarantie. Wir werden ein mittelfristiges Investitionsprogramm für Theater, Museen und Bibliotheken auflegen. Der Kulturlastenausgleich, mit dem die Ausgaben für das Thüringer Kulturerbe auf breite Schultern verteilt werden, wird fortgeführt. Wir werden die Medienvielfalt in Thüringen schützen und fördern. Dazu gehört auch die verstärkte Förderung von Bürgermedien. Mit Medienschaffenden, Institutionen und Verbänden werden wir an einem Runden Tisch über Herausforderungen für den Medienstandort Thüringen sprechen.

Netzzugang & Datenschutz: Wir werden einen strikten Datenschutz-Kurs einschlagen. Die Regel muss lauten: Nur explizit freigegebene Daten dürfen gespeichert und verwendet werden. Wir sprechen uns gegen alle Zensurversuche und Bespitzelungen im Internet aus. Wir setzen uns nachdrücklich für Netzneutralität ein und werden die Einrichtung offener WLAN-Netze unterstützen. Die Geschwindigkeit des Breitbandausbaus werden wir erhöhen.

Thüringen wird mobiler: Wir streben einen einheitlichen Verkehrsbund für Thüringen an und werden die Möglichkeit eines fahrscheinfreien ÖPNV prüfen. Wir wollen die Mitte-Deutschland-Verbindung vom zukünftigen ICE-Knotenpunkt Erfurt nach Altenburg/Gößnitz ausbauen und elektrifizieren.

Ökologische Landwirtschaft und Verbraucherschutz: Die Landwirtschaft ist ein wichtiger Arbeitgeber. Wir wollen eine Landwirtschaftsstruktur, in der sowohl die ehemaligen Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) als auch Biohöfe Platz haben. Dem ökologischen Landbau wird ein höherer Stellenwert eingeräumt. Bis 2020 sollen 10% der landwirtschaftlichen Nutzfläche ökologisch bewirtschaftet werden. Der Verbraucherzentrale werden wir eine höhere Planungssicherheit ermöglichen. Durch eine bessere Ausstattung der Kontrollbehörden wollen wir die Kontrolldichte und die Reaktionsfähigkeit in Krisen verbessern.

Wirtschaft und Arbeit: Unsere Wirtschafts- und Arbeitspolitik orientiert sich am Dreiklang von sozialer Gerechtigkeit, Ökonomie und Ökologie. Wir wollen bis 2016 das Thüringer Vergabegesetz evaluieren und gegebenenfalls novellieren, um sicherzustellen, dass die Vergabe öffentlicher Aufträge an die Einhaltung sozialer Kriterien gebunden ist. Das Landesarbeitsmarktprogramm werden wir im bisherigen Umfang weiter finanzieren. Zur Förderung von Langzeitarbeitslosen werden wir gemeinwohlorientiere Beschäftigung finanzieren.

Wohnen und Klimaschutz: Wir wollen eine Mietpreisbremse einführen. Den kommunalen und genossenschaftlichen Wohnungsbau werden wir fördern, unter anderem durch die Befreiung von der Grunderwerbssteuer bei Fusionen und möglicherweise auch durch eine Entlastung bei den Altschulden. Pro Jahr sollen 2% der Gebäude energetisch saniert werden, landeseigene Gebäude sollen klimaneutral werden.

Haushalt: Wir stehen zum Ziel eines ausgeglichenen Haushalts und wollen keine neuen Schulden aufnehmen. Erste haushaltspolitische Maßnahme wird ein Kassensturz sein, der uns ermöglicht, Spielräume zu definieren. Wir haben uns auf prioritäre Leitprojekte – starke Kommunen, Gute Bildung, Gute Arbeit sowie Energiewende und Klimaschutz – geeinigt, in denen wir Mehrausgaben nicht ausschließen. Sie sollen aus Umschichtungen im Haushalt und Mehreinnahmen finanziert werden.


Modell für den Bund?

Natürlich ist die mögliche Wahl eines Ministerpräsidenten der Partei DIE LINKE in Thüringen durch SPD und Grüne eine Erweiterung der politischen Optionen und eine erfolgreiche Koalition wäre für eine zukünftige linke Bundesregierung förderlich. Doch kann r2g in Thüringen ein Modell für den Bund sein? Damit ein linkes Reformprojekt auf Bundesebene zustande kommen und erfolgreich sein kann, braucht es mindestens fünf Bedingungen:

  1. eine rechnerische Mehrheit für r2g im Parlament,
  2. eingespielte Kommunikationswege zwischen den potenziellen Partnern,
  3. gemeinsame Erfahrungen politischer Erfolge im Parlament und auf der Straße von r2g und politischen Partnern in Gewerkschaften, Verbänden und sozialen Bewegungen,
  4. eine ideelle Grundlage für ein Bündnis und
  5. ein ausreichend großes Paket an diskutierten Gemeinsamkeiten für den politischen Alltag und transformatorischen Projekten.

Ich denke, nicht nur DIE LINKE muss bundesweit an diesen Punkten noch ein gutes Stück arbeiten. Doch ich bin sicher: Ein Erfolg in Thüringen kann dazu beitragen. Ich halte es hier mit Tom Strohschneider, der zu einer möglichen Signalwirkung auf die Debatte im Bund schrieb: »Wenn Bodo Ramelow als Regierungschef, wenn die Thüringer Landespartei und die Abgeordneten, wenn auch eine linke Öffentlichkeit und außerparlamentarische Bewegungen sowie Gewerkschaften nun die Chance dazu erhielten, gemeinsam und wo es nötig ist auch im konstruktiven Streit miteinander zu zeigen, dass es linksreformerisch wirklich anders geht, wäre das ein wichtiger Beitrag im Sinne der politischen Erneuerungsfähigkeit für das gesamte Land. Darin liegt eine große Verantwortung, darin liegt aber auch eine große Möglichkeit, überhaupt wieder über Alternativen jenseits der Merkel-Dominanz in diesem Land zu sprechen. Auch das steckt im Fell des rot-rot-grünen Bären von Thüringen. Aber wie gesagt: Noch ist es nicht verteilt.«[3]

Susanne Hennig-Wellsow ist Vorsitzende der Partei DIE LINKE Thüringen, Verhandlungsführerin ihrer Partei in den Gesprächen für r2g und Abgeordnete im Thüringer Landtag.

[1] Für eine starke PDS: Sozial, mit aller Kraft! Als sozialistische Partei 2006 in den Deutschen Bundestag, 30. und 31. Oktober 2004, Potsdam.
[2] Ausführlich unter: Sondierungsgespräche der Parteien DIE LINKE, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in Thüringen – Zusammenfassung der Ergebnisse, 23.10.2014.
[3] Tom Strohschneider: Nachholende Normalisierung, in: neues deutschland vom 21.10.2014.

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