1. März 2001 Richard Detje

Ein großartiges Versprechen

Am 19. März wird die Gewerkschaftslandschaft in der Bundesrepublik umgestülpt. In Berlin entsteht an diesem Tag mit der Gründung von ver.di die neue größte Einzelgewerkschaft der Welt. Der organisatorische Kraftakt – bis zuletzt umkämpft – ist ein gewerkschafts- wie gesellschaftspolitisches Fanal. Ein halbes Jahrhundert hatten die Industriegewerkschaften – allen voran die machtvollen Organisationen aus der Stahl-, Automobil- und Elektroindustrie – das Erscheinungsbild der Gewerkschaften geprägt. Die Vereinigte Dienstleistungsgewerkschaft wird dieses Erbe nicht fortsetzen; die Zeiten der großen, recht homogenen Zusammenschlüsse des fordistischen Zeitalters ist unwiederbringlich vorbei.

Doch das Neue ist in weiten Bereichen eine Terra incognita. Dienstleistung – in statistischen Handbüchern nicht mehr als eine Residualkategorie: Nicht-Landwirtschaft und Nicht-Industrie – ist ein schillernder Begriff, der vom Schuhputzer bis zum Softwarespezialisten für die erniedrigsten wie für die verheißungsvollsten Verhältnisse steht. Das Adjektiv der neuen Organisation bezeichnet die Vereinigung von fünf Einzelgewerkschaften – ob noch mehr damit zum Ausdruck gebracht werden kann, Vereinigung also nicht nur ein Organisations-, sondern ein Substanzbegriff ist, wird sich erst noch erweisen müssen.

Was also ist ver.di? Ein – seien wir nicht kleinmütig – großartiges Versprechen auf die kommende »Informations-« und »Dienstleistungsgesellschaft«, ohne Erfolgsgarantie, mit etlichen Geburtswehen versehen und erheblichen Anfeindungen ausgesetzt. Zu den Geburtswehen zählt die vielleicht folgenschwerste Korrektur: aus »structure follows strategy« wurde »organization follows money«. Mehr als Erkenntnisse über gesellschaftlichen Strukturwandel war es die Schere zwischen Mitglieder- und Beitragsverlusten auf der einen und wachsenden Organisationskosten auf der anderen Seite, die ein »weiter so« versagte. Es mag eine unangreifbare Lebenserfahrung sein, dass die Vorstellung, durch die Klärung strategischer Fragen organisationspolitische Antworten erhalten zu können, eine sorgsam gepflegte Illusion ist. Doch ändert dies nichts am Resultat, dass der neue (Gewerkschafts-)König am Tag seiner Inthronisation (politisch-strategisch) bestenfalls leicht beschürzt dasteht.

Der auf die Schiene gesetzte Organisationsexpress hat eine rote Signallaterne bereits in Sichtweise. Zum einen, weil expandierende produktionsorientierte Dienstleistungen zwischen den großen Gewerkschaftsblöcken ver.di, IG Metall und IG BCE ein hart umkämpftes Terrain sind. Die organisationspolitische Antwort auf den ökonomischen und beschäftigungspolitischen Strukturwandel ist in weiten Bereichen – z.B. auf den Feldern der Informations- und Kommunikationstechnologien – noch keine. Eine gemeinsame Strategie der Industrie- und Dienstleistungsgewerkschaften wäre also die beste Antwort auf die Restrukturierungsprozesse in der Unternehmenslandschaft. Zum anderen, weil auf die 1000-Dollar-Frage bislang noch jeder eine Antwort schuldig geblieben ist: wie nämlich der Brückenschlag zwischen dem wachsenden privaten Sektor prekärer Beschäftigungsverhältnisse und dem zur Verschlankung auf Magerkur gesetzten Öffentlichen Dienst bewerkstelligt werden kann. Selbstverständlich gibt es zwischen beiden Entwicklungstrends Zusammenhänge, aber realpolitisch ist bislang immer noch jeder für sich allein gestorben. Es ist zu hoffen, dass die organisatorische Hülle, die ver.di bietet, gemeinsame Lernprozesse anstößt. Damit ist das für die gewerkschaftliche Linke brisanteste Problem angerissen: Wie kann die Großorganisation ver.di politisch so geformt werden, dass Mitgliedernähe das handlungsleitende Prinzip ist. Oskar Negt hatte dies auf dem ersten ver.di-Kongress mit der Quadratur des Kreises verglichen – der Linken bleibt nichts anderes übrig, als genau dies zustande zu bringen. Es gilt eine flexible, (trotz großer Apparate) nicht-bürokratische Organisation aufzubauen, die in der Lage ist, das politische Mandat der Gewerkschaften in einem sich wandelnden Kapitalismus zu erneuern. Kapitalismuskritik steht für die Linke auf der Tagesordnung.

Also lasst uns die Chancen betonen: Ver.di wird eine der politischsten Organisationen werden müssen, um ihren Auftrag erfüllen zu können. Sie wird dies in Auseinandersetzung mit Niedriglohnsektor-Strategien und Konzepten eines den Sozialstaat hinter sich lassenden »aktivierenden Staates« tun müssen. Von ihr wird es entscheidend abhängen, ob die Arbeitsgesellschaft der Zukunft mehr Emanzipation und Demokratie ermöglicht.

Richard Detje ist Redakteur von Sozialismus.

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