1. September 2006 Karl Georg Zinn

Ein "linker" Entwurf der europäischen Verfassung

Der vom französischen und vom niederländischen Souverän abgelehnte Entwurf einer europäischen Verfassung stellte bekanntlich das Produkt eines von der Exekutive handverlesenen Honoratiorenrates dar.

Die demokratische Legitimität fehlte dieser aus gleichsam oligarchischer Politikpraxis hervorgegangenen Zusammenstellung mehr oder weniger prominenter Personen mit mehrheitlich konservativer und neoliberaler Orientierung. Das Scheitern des Entwurfs in Volksabstimmungen darf als Sieg der Demokratie in Europa gewertet werden.

Aus der Sicht der Initiatoren des Verfassungsunternehmens stellt sich die Ablehnung als Betriebsunfall der europäischen Einigungspolitik dar, als Folge fehlerhaften Politikmanagements. Die infantilen Trotzreaktionen etlicher Politiker, die nach den eindeutigen Abstimmungen in Frankreich und den Niederlanden dennoch am Ratifizierungsprozess festhalten wollten, über erneute Volksabstimmungen laut nachdachten und sich ein anderes Volk wünschten, nämlich eines, das weder eine eigene Meinung hätte noch gar wagte, diese gegen die Wünsche der Obrigkeit geltend zu machen, haben eine harmlose psychologische Seite und eine recht gefährliche politische. Psychologisch ist die Aggression von Frustrierten verständlich und großzügig noch zu entschuldigen; doch politisch zeigt sich eine Unheil verheißende Respektlosigkeit von machtbesessenen Politikern gegenüber dem Souverän und demokratischen Grundprinzipien.

Vor diesem Hintergrund sind die anhaltenden Bemühungen, das Verfassungsprojekt erneut zu beleben, mit Argusaugen zu betrachten. Denn es sind zum größten Teil dieselben Leute zweifelhaften Demokratieverständnisses, die es weiter betreiben. Es kann daher nicht erwartet werden, dass ein besserer, sprich: den Erfordernissen eines demokratischen und humanitären Europa entsprechender Neu-Entwurf vorgelegt werden wird. Vermutlich dient die bereits sichtbare semantische Bemühung, nicht mehr von einer europäischen Verfassung, sondern von einem europäischen Grundgesetz oder Grundvertrag zu reden, das Projekt sozusagen der Öffentlichkeit gegenüber zu verharmlosen, allein dem Zweck, keine erneuten Volksabstimmungen zu "riskieren", sondern die Abstimmungsprozeduren auf die Organe der Europäischen Union – Rat, Parlament, Kommission – zu beschränken, die sichere konservativ-neoliberale Mehrheiten garantieren.

Eine europäische Verfassung wäre ein historisches Projekt so wie die gesamte europäische Einigung, und es wäre ein weiterer Fortschritt fort von den über Jahrhunderte verlaufenen innereuropäischen Konflikt- und Kriegskonstellationen. Ein kulturell, sozial, politisch und ökonomisch so heterogenes Gebilde wie die Europäische Union kann aber auf Dauer nur mit einer Verfassung existieren, die auf der Zustimmung der europäischen Völker beruht, also in Abstimmungen angenommen wird. Ein einzelnes Land mag "zur Not", unter besonderen geschichtlichen Umständen, auch eine brauchbare demokratische Verfassung zustande bringen, die nicht dem Souverän zur Billigung vorgelegt wird. Für Europa mit seiner kulturellen Vielfalt und den nationalen sowie regionalen, historisch bedingten, somit mental tief verwurzelten Besonderheiten wäre ein Verfassungsoktroy durch die Organe der EU demokratiewidrig.

Das mag in einer medialen Umwelt "funktionieren", die entpolitisiert, Resignation erzeugt (nichts anderes bedeutet der steigende Anteil von Wahlverweigerungen) und die Aufmerksamkeit der Menschen durch Events und Konsum gefangen nimmt. Es gelingt ja auch nach wie vor, Gebildeten und weniger Gebildeten weiszumachen, dass die Wiege der Demokratie im alten Griechenland stand, wobei diese eurozentristische Selbstbeweihräucherung keinen Anstoß an der attischen Sklavenhaltergesellschaft nimmt, sondern schweigend darüber hinweg geht, oder – noch schlimmer – den Gegensatz von Demokratie und Sklaverei faktisch wegleugnet.[1] Von diesem Geburtsfehler der "europäischen Demokratie" ist in solchen Zusammenhängen kaum die Rede. So wie ja auch das gegenwärtige Demokratieverständnis der Machtprominenz keinen Gegensatz zwischen Demokratie und (wachsender) Ausbeutung und Ausgrenzung zu erkennen gewillt ist. Es ist längst an der Zeit, die demokratische Qualität Europas in aller Breite zu diskutieren – in der breiten Öffentlichkeit und in thematischer Breite, d.h. unter Einschluss auch der sozialökonomischen Menschenrechte, der Entfremdung und Kommodifizierung durch den kapitalistischen Markt, der Usurpation der Politik durch ökonomische Macht, um nur einige Aspekte zu erwähnen. Die moderne Demokratie mit allgemeinem gleichen Wahlrecht und der Sozialstaat sind die beiden herausragenden gesellschaftlichen Fortschrittsleistungen des im Großen und Ganzen recht üblen 20. Jahrhunderts. Beide, Demokratie und Sozialstaat, mussten gegen den dem Kapitalismus systemimmanenten Widerstand durchgesetzt werden, und nur die besonderen historischen Umstände – etwa militärische Niederlagen, große Wirtschaftskrisen, Systemkonflikt – dürften jenem Kampf um Demokratie und Sozialstaat den Erfolg mit beschieden haben. Er bleibt reversibel. Der Sozialstaat steht längst zur Disposition, und die Demokratie.

Brauchen wir also einen "linken" Verfassungsentwurf für Europa? Die Frage ist selbstverständlich rhetorisch gemeint. Ein linker Vorschlag, was eine europäische Verfassung enthalten sollte und wie sie den demokratischen Grundprinzipien dauerhaft Geltung und Bestand geben könnte, stünde selbstverständlich in Konkurrenz zu anderen Auffassungen. Die Realisierungschance, unter den gegebenen Machtverhältnissen, genauer: der wachsenden Einflussnahme der kapitalistischen Interessen auf die Politik, einem solchen Verfassungsentwurf zur Verfassungswirklichkeit zu verhelfen, lässt sich nicht allzu optimistisch einschätzen. Aber der Blick zurück in die Geschichte zeigt, dass solche Anstrengung mobilisierende Kraft haben kann und Entwicklungen zu kanalisieren vermag. Stellen wir uns vor, die Gewerkschaften Europas und andere Organisationen aus dem Bereich der sozialen Bewegungen fänden sich zusammen und würden sich auf einen Verfassungsentwurf einigen. Völlig verschweigen könnten ihn die Massenmedien nicht, und auch die Machthaber unseres alten Kontinents wären schlecht beraten, ihn zu ignorieren, gar lächerlich zu machen. Ein Verfassungsentwurf, der von Massenorganisationen getragen wäre, hätte gegenüber jenem ersten, von einer oligarchischen Honoratiorenversammlung konzipierten Entwurf den Bonus, direkt von Teilen des europäischen Souveräns getragen zu sein.

Demokratische Verfassungen wurden bisher immer nur von einem und für ein Land erarbeitet und in Kraft gesetzt. Eine europäische Verfassung findet also kein historisches Beispiel. Nationale Verfassungsbewegungen lassen sich daher auch nicht einfach als Referenzmodell für eine europäische Verfassungsbewegung heranziehen. Die hier als demokratisch illegitim kritisierte Konstruktion des europäischen "Verfassungsrates" und der daher auch demokratisch illegitime Verlauf der Formulierung der gescheiterten europäischen Verfassung stellten ein Novum dar, und wenn Neues gewagt wird, so ist auch das Risiko größer, es falsch zu machen. Das mag als magere Entschuldigung angeführt werden, aber unentschuldbar wäre es, wenn die europäische Machtprominenz aus Fehlern nicht lernte. Leider sieht es danach aus. Dieser Tatbestand liefert ein weiteres Argument, sich der Mühe zu unterziehen und an einem "linken" Verfassungsentwurf zu arbeiten. An dieser Stelle geht es nicht um konkrete Vorschläge, wie eine demokratische europäische Verfassungsinitiative zu organisieren wäre und welche Verfassungsinhalte sich schließlich herauskristallisierten. Vielmehr steht die Frage an, ob die europäischen Völker ihre künftige Verfassung dem Wirken einer faktischen Oligarchie überlassen oder Wege beschreiten, sich selbst die Verfassung zu geben.

Karl Georg Zinn ist emeritierter Professor der Volkswirtschaftslehre der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen.

[1] Genaueres und Erhellendes findet sich selbstverständlich in der Fachliteratur, die aber ein Nischendasein führt und keine Konkurrenz für die massenwirksame Antiaufklärung der Medien bedeutet. Besonders lesenswert zum hier erörterten Thema ist die jüngst erschienene Abhandlung des italienischen Altphilologen und Historikers Luciano Canfora, Eine kurze Geschichte der Demokratie, Köln 2006.

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