23. November 2022 Cosimo-Damiano Quinto/Orhan Akman: Der ver.di-Digitalisierungstarifvertrag bei H&M und das politische Mandat der Gewerkschaften

Ein neues Kapitel Tarifgeschichte

Nach sechs Monaten und 14 Verhandlungsrunden haben die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) und die Modekette Hennes & Mauritz (H&M) im Oktober 2022 für 14.300 Beschäftigte in Deutschland einen Digitalisierungs­tarifvertrag vereinbart.

»Digitalisierung in deiner Hand« steht auf den ver.di-Buttons, die Beschäftigte während des Tarifkonflikts getragen haben. Eine klare politische Forderung, die Nutzung digitaler Technik nicht den Kapitalinteressen zu überlassen! Direkt über dem Slogan erhebt sich eine nach oben gestreckte Faust, die Leiterbahnen umfasst, wie sie zum Beispiel auf RFID-Chips zu finden sind. Mit dem Einsatz solcher Chips begann die Digitalisierung des Modehandels ...

Als aktive Gewerkschafter*innen betrachten wir die Tarifpolitik und das politische Mandat der Gewerkschaften als zwei Seiten ein und derselben Medaille. Dass sich die Lohnabhängigen zusammenschließen, ist nicht nur ein gewerkschaftliches, sondern auch ein politisches Ziel, gerade angesichts der wirtschaftlichen und sozialen Umwälzungen. Die solidarische Einheit der lohnabhängig Beschäftigten ist der Kern gewerkschaftlichen Handelns und zugleich politische Notwendigkeit, vor allem jetzt bei einer Inflationsrate von über zehn Prozent und zeitgleich stagnierenden Löhnen. Die Forderung nach fairer, tariflich-gebundener Bezahlung leuchtet ein.


Entstehung der Tarifforderungen

Die Voraussetzung für das Aufstellen neuer Tarifforderungen bei H&M bestand darin, dass sich die Beschäftigten des Modehandels über Betriebs-, Unternehmens- und Ländergrenzen hinweg zu ihren Erfahrungen mit der Digitalisierung austauschen konnten. Am Anfang stand 2016 der gewerkschaftliche Arbeitskreis Junge Mode. Mitglieder sind die Gesamtbetriebsratsvorsitzenden (GBR) eines neuen vertikalen Textileinzelhandels, der dadurch gekennzeichnet ist, die meist in Billiglohnländern produzierte Mode in selbst geführten Läden zu vertreiben. Geleitet wird der Arbeitskreis vom ver.di-Unternehmensbetreuer für Zara, Esprit, H&M und Primark.

In diesem Arbeitskreis teilen die Gesamtbetriebsratsvorsitzenden von Zara und Esprit ab 2016 ihre ersten Erfahrungen mit den Gesamtbetriebsratsvorsitzenden von H&M – beide Unternehmen sind damals Vorreiter der Digitalisierung. Durch sie konnten die Betriebsräte von H&M gleichsam einen Blick in die Zukunft »ihres« Unternehmens werfen.

Cosimo-Damiano Quinto hat als Mitglied der Bundestarifkommission von H&M die Verhandlungen über einen Digitalisierungstarifvertrag von März bis Oktober 2022 geführt. Orhan Akman war 2019 bis 2022 Bundesfachgruppenleiter Einzelhandel bei ver.di und bis zu seiner Abberufung ebenfalls Verhandlungsführer der Bundestarifkommission von H&M. Als ehemalige Verhandlungsführer sprechen wir in diesem Beitrag nicht im Namen von ver.di, sondern als Gewerkschaftsmitglieder. Wir danken unserer Kollegin Maren Ulbrich, die uns bei diesem Artikel mit ihren kritischen Anmerkungen und Beiträgen unterstützt hat.

Die komplette Leseprobe als pdf-Datei!

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