22. März 2013 Klaus Dörre / Tine Haubner: Zum Tod von Robert Castel (27.3.1933-12.3.2013)

Ein scharfsinniger Analytiker sozialer Verwundbarkeit

Am 12. März 2013 ereilte uns die Nachricht vom Tode Robert Castels. Noch kurz zuvor hatten wir mit ihm über einen weiteren, in diesem Falle seinen vierten, Aufenthalt in Jena gesprochen. Sein Tod erfüllt uns auch deshalb mit großer Betrübnis und Trauer, weil uns mit dem großen französischen Sozialwissenschaftler eine besondere Geschichte verbindet.

Richtig bekannt wurde Robert Castel in Deutschland eigentlich erst nach seiner offiziellen akademischen Karriere. Das mag nicht zuletzt den Wechseln der Disziplinen geschuldet sein, die Robert Castels wissenschaftliche Biographie auszeichnen. Robert Castel ist im besten Sinne des Wortes ein intellektueller Grenzgänger. Am 27. März 1933 in Saint-Pierre-Quilbignon geboren, war er mit 14 Jahren Schüler der Technikschule in Brest, wo er kurz nach dem Krieg seinen Facharbeiterbrief als Maschinenschlosser erhielt. Besonderen Eindruck bei ihm hinterließ sein Mathematik-Lehrer, der, vermutlich als Kommunist, in Buchenwald interniert gewesen war. Castel sagte im persönlichen Gespräch über sich, er sei »eine Null in Mathe gewesen« und habe sich oft vor den anderen Mitschülern über die Buchenwald-Vergangenheit seines Lehrers lustig gemacht. Eines Tages habe der Lehrer ihn in sein Büro gerufen und gesagt: »Castel, du solltest etwas anderes machen, sonst bleibst du stecken, wenn du hier bleibst. Im Leben muss man Risiken eingehen und die Freiheit schätzen. Geh aufs Gymnasium und wenn du die Chance und den Mut hast, denke ich, wirst du kein Idiot sein und gut zurechtkommen.« Robert Castel befolgte den Rat. Seinen Lehrer, der wenige Jahre später starb, hat er nie wiedergesehen.

Im Gymnasium kam er zur Philosophie. 1959 habilitiert er in diesem Fach. Bis 1967 war er Assistent an der philosophischen Fakultät der Universität zu Lille. Dann holte ihn Raymond Aron an die Pariser Sorbonne. In Paris lernte Robert Castel Pierre Bourdieu kennen; auch diesem Zusammentreffen dürfte es geschuldet sein, dass er die Philosophie mehr und mehr gegen die Soziologie einzutauschen begann. Nach dem Mai 1968 arbeitete Robert Castel am Ins­titut für Soziologie der Universität Vincennes (der späteren Universität Paris 8). Während der 1970er Jahre interessierte er sich vornehmlich für die Psychoanalyse und Psychiatrie, die er aus einer soziologischen Perspektive zu kritisieren begann. Während dieser Zeit beschäftigte er sich mit den Arbeiten Michel Foucaults und näherte sich dessen genealogischer Methode an. 1980 stellte er seine Dissertationsschrift zum Themenkomplex fertig. Während dieser Zeit war er u.a. Mitbegründer der »Groupe d’analyse du social et de la sociabilité« (GRASS). Mit seinen Arbeiten zur Psychiatrie ist Robert Castel in Frankreich bekannt geworden. Er selbst vollzog währen der 1980er Jahre einen erneuten Themenwechsel. Nun interessierte er sich für den Wandel der Lohnarbeit und für die Sozialpolitik. Ab 1990 war er Forschungsdirektor der École des hautes études en sciences sociales (EHESS) und leitete dort bis 1999 das Zentrum für Studien zu sozialen Bewegungen.

Sein großes Buch »Les métamorphoses de la question sociale. Une chronique du salariat«, (deutsch: »Die Metamorphosen der sozialen Frage. Eine Chronik der Lohnarbeit«, Konstanz 2000), wurde international beachtet und auch in Deutschland zu einer wichtigen Referenz der seither rasch expandierenden Exklusions- und Prekarisierungsforschung. Konstitutiv für die neuere sozialwissenschaftliche Prekarisierungsdiskussion war die Ausbreitung niedrig entlohnter, zeitlich befristeter, ungeschützter Beschäftigungsverhältnisse, in denen sich zunehmend auch akademisch qualifizierte Arbeitskräfte wiederfanden. Diese Gruppen wurden in Italien als precariato[1] bezeichnet. In Frankreich machte die Einführung einer Wiedereingliederungsbeihilfe (Revenu minimum d’insertion[2]), von der ca. 2,5 Mio. Menschen betroffen waren, die précarité zum Gegenstand öffentlicher Debatten.

Französische Soziologen nutzten Prekarität als Sammelkategorie, um höchst unterschiedliche soziale Phänomene zu bündeln. André Gorz münzte den Begriff auf »Randarbeitnehmer« und externe Arbeitskräfte,[3] aber auch auf die neuen Dienstbotentätigkeiten,[4] die im Zuge der Flexibilisierung von Arbeit und Beschäftigung entstanden waren. In den Arbeiten der Gruppe um Pierre Bourdieu (1997) thematisierte der Begriff u.a. die Entkollektivierung der Industriearbeiterschaft und die soziale Ausgrenzung in den französischen Vorstädten. In Deutschland blieb Prekarität als sozialwissenschaftliches Konzept zunächst unbedeutend. Seitens der konventionell-quantitativen Arbeitsmarktforschung wurde die Prekarisierungsdiskussion als randständiger Diskurs behandelt. Sofern von Prekarisierungsphänomenen überhaupt die Rede war, rubrizierte man sie unter Begriffe wie den der atypischen Beschäftigung oder der Armut.

Dazu, dass sich dies geändert hat, ja, dass Prekarität, Prekarisierung und Prekariat zu Kategorien avanciert sind, die zunehmend Eingang nicht nur in die Soziologie, sondern auch in die Alltagssprache finden, haben die Arbeiten Robert Castels maßgeblich beigetragen. Großen Einfluss auf die deutsche Soziologie hatte eine Arbeitshypothese,[5] der zufolge sich die nachfordistischen Arbeitsgesellschaften Kontinentaleuropas, wohl mit Ausnahme der skandinavischen Staaten, in Zonen unterschiedlicher Sicherheitsniveaus spalten: Zwar befinde sich die Mehrzahl der Beschäftigten in den fortgeschrittenen Kapitalismen noch immer in einer »Zone der Integration« mit Normarbeitsverhältnissen und halbwegs intakten sozialen Netzen. Darunter expandiere jedoch eine »Zone der Prekarität«, die sich sowohl durch unsichere Beschäftigung, als auch durch erodierende soziale Netze auszeichne. Am unteren Ende der Hierarchie entstehe eine »Zone der Entkoppelung«, in der sich Gruppen ohne reale Chance auf eine Integration in den ersten Arbeitsmarkt befänden. Bei diesen vermeintlich »Überzähligen«[6] der Arbeitsgesellschaft paare sich Ausschluss von regulärer Erwerbsarbeit mit relativer sozialer Isolation.

Castels Hypothese ließ einen historisch neuen Typus von Prekarität erahnen, der sich in wohlfahrtsstaatlich regulierten Kapitalismen herausgebildet hat. Ein spezifisches Merkmal dieses Typus ist, dass es sich um eine Rückkehr sozialer Unsicherheit in die nach wie vor reichen und historisch betrachtet noch immer überaus sicheren Gesellschaften des globalen Nordens handelt.[7] Mit dieser Charakterisierung grenzte sich Cas­tel sowohl von Katastrophenszenarien als auch von eng gefassten Exklusionskonzepten[8] ab, welche die soziale Frage am Beginn des 21. Jahrhunderts auf das Phänomen der Entkoppelung von regulärer Erwerbsarbeit reduzierten. Für die neue, postsozialstaatliche Ausprägung von Prekarität ist charakteristisch, dass sie sukzessive auch solche Gruppen erfasst, die zuvor zu den gesellschaftlich gesicherten zählten. Eigentlich nur ein kleiner Ausschnitt aus seiner großen Studie, hat das Castelsche Zonenmodell zahlreichen Autoren/-innen als heuristische Folie für eigene empirische Forschungen gedient. Die Relevanz dieses Analyserasters für Deutschland und andere europäische Gesellschaften wird inzwischen durch ausdifferenzierte empirische Forschungen belegt.[9]

Robert Castel hat in einer seiner letzten Veröffentlichungen selbst noch einmal Bilanz gezogen. In »La montée des incertitudes. Travail, protections, statut de L’individu« (deutsch: »Die Krise der Arbeit. Neue Unsicherheiten und die Zukunft des Individuums«, Hamburg 2011) spricht er von einer »Institutionalisierung des Prekariats«. In diesem Buch bearbeitet er auch noch einmal die große Metamorphose der Lohnarbeit, die ihn seit den 1990er Jahren beschäftigte – das Aufsprengen des fordistischen Klassenkompromisses, die Überhöhung eines – negativen – Individualismus, der sich politisch gegen kollektive soziale Sicherungen mobilisieren lässt, das Einsickern dieses individualistischen Geistes in die Arbeitswelt und die damit verbundene Niederlage der Arbeiterklasse und ihrer Organisationen.

Besonders in seiner Genealogie und Kritik des »hypermodernen Individuums« wird seine sozialwissenschaftliche Selbstverortung noch einmal mit großer Klarheit deutlich. Die Redeweise von der Gesellschaft der Individuen verfehlt für Robert Castel den Inhalt und den Stellenwert der neuen sozialen Frage, die er als »Übergang von der Prekarität zum Prekariat« bezeichnet, »wobei das Prekariat, die, die ihm zum Opfer fallen, zur Unfähigkeit verurteilt, sich als Individuum verwirklichen zu können«. Und weiter schreibt er: »Prekarität lässt sich nicht mehr als Übergangssituation betrachten, als ein mehr oder weniger schwieriges Durchgangsstadium des Wartens auf eine ›Festanstellung‹. Man kann sich in der Prekarität einrichten. Es sind nicht mehr nur Worte, wenn man von dauerhafter Unsicherheit, dauerhafter Unregelmäßigkeit, dauerhafter Instabilität spricht. Diese Begriffe umschreiben eine Vielzahl von Situationen, in denen sich so etwas wie eine Kultur der Zufälligkeit entwickelt.«[10] Prägnanter kann man das Zentrum der sozialen Frage in den kontinentaleuropäischen Ländern kaum beschreiben. Und es liegt auf der Hand, dass, wie Robert Castel argumentiert, der Prekarisierung mit einem Grundverständnis sozialer Freiheit begegnet werden muss, dass dem negativen, gesellschaftszerstörenden Individualismus Grenzen zu setzen in der Lage ist.

Robert Castel war ein scharfsinniger, feinfühliger Analytiker sozialer Verwundbarkeit. Als Grenzgänger zwischen den Disziplinen verstand er es wie kaum ein anderer, die Vielschichtigkeit, aber auch das Lähmende und Freiheitszerstörende prekärer Verhältnisse präzise zu beschreiben und so zu kritisieren. Um, wie er es einmal bei einer Jenaer Tagung gesagt hat, den Kopf über den Fahrradlenker zu heben und über das unmittelbar Gegebene hinauszuschauen, hielt er es für unabdingbar, eine historisch vergleichende Soziologie zu betreiben und die Metamorphosen der sozialen Fragen chronologisch zu betrachten – ein Anspruch, der (nicht nur) für die deutsche Prekarisierungsforschung erst noch einzulösen ist.

Mit Robert Castel haben wir nicht nur einen herausragende Wissenschaftler und Zeitdiagnostiker, sondern auch einen Lehrer und guten Freund verloren. Am wohlsten fühlte er sich in Jena im Kreis von jungen Studierenden, die intensiv und kontrovers mit ihm diskutierten. Gleich, ob der Genderbias seiner Überlegungen kritisiert oder seine pessimistischen Aussagen zur kollektiven Handlungsfähigkeit des Prekariats moniert wurden – stets blieb er der unprätentiöse, geduldige, kluge Diskussionspartner, von dessen Beiträgen sich schließlich alle bereichert fühlten. So wie wir ihn kennen gelernt haben – als einen engagierten, ja leidenschaftlichen Humanisten –, hat er auch seine eigene Biographie bearbeitet. Als Robert Cas­tel sich im Rahmen einer Konferenz in Jena aufhielt, war es sein besonderer Wunsch, die Gedenkstätte des Konzentrationslagers Buchenwald zu besuchen. An den Namen seines Mathematik-Lehrers konnte er sich nicht mehr erinnern, er nannte ihn kurz »Buchenwald« (siehe dazu auch das nachstehende Interview). Der »Weg des Blutes«, den die KZ-Häftlinge anlegen mussten, hat Robert Castel während seines Besuchs besonders beeindruckt. Der Tag seines Besuchs, so Robert Castel später, sei schön und friedlich gewesen. Er habe eine Bratwurst gegessen und ein gutes Bier getrunken. Eine Idylle und ein merkwürdiger Kontrast zu jenem Grauen, das unveränderbar über der Gedenkstätte liegt.

Im Anschluss an seinen Buchenwaldbesuch reiste Robert Castel umgehend nach Frankreich zurück, um bei der damaligen Präsidentschaftswahl seine Stimme abgeben zu können. Der Wahldiskurs habe ihn erschreckt, so schrieb er später, denn es habe häufig geheißen, man müsse die Vergangenheit überwinden. Die große Angst heute sei, als überholt zu gelten. Das sei verständlich, aber auch gefährlich. In diesem Zusammenhang bedankt und entschuldigt sich Cas­tel bei seinem ehemaligen Mathematik-Lehrer und er verweist auf die vielen Gesichter der Diskriminierung, von denen heute Migranten, aber auch Arbeitslose oder Obdachlose betroffen sind. Die Verwundbaren zu schützen, das war ein Anliegen Robert Castels, auch über die Wissenschaft hinaus.

Lieber Robert, wir werden Dich vermissen!

Literatur
(eine ausführliche Literaturliste kann hier heruntergeladen werden)

Baethge, Martin/Bartelheimer, Peter/Fuchs, Tatjana/Kratzer, Nick/Wilkens, Ingrid (2005): Berichterstattung zur sozioökonomischen Entwicklung in Deutschland. Arbeit und Lebensweisen. Erster Bericht, Wiesbaden.
Brinkmann, Ulrich/Dörre, Klaus/Röbenack, Silke/Kraemer, Klaus/Speidel, Frederic (2006): Prekäre Arbeit. Ursachen, Ausmaß, soziale Folgen und subjektive Verarbeitungsformen unsicherer Beschäftigungsverhältnisse, Bonn.
Bude, Heinz/Willisch, Andreas (Hrsg.) (2006): Das Problem der Exklusion. Ausgegrenzte, Entbehrliche, Überflüssige, Hamburg.
Busch, Michael/Jeskow, Jan/Stutz, Rüdiger (Hrsg.) (2010): Zwischen Prekarisierung und Protest. Die Lebenslagen und Generationsbilder von Jugendlichen in Ost und West, Bielefeld.
Castel, Robert (2000): Die Metamorphosen der sozialen Frage. Eine Chronik der Lohnarbeit, Konstanz.
Castel, Robert (2005): Die Stärkung des Sozialen. Leben im neuen Wohlfahrtsstaat, Hamburg.
Castel, Robert (2011): Die Krise der Arbeit. Neue Unsicherheiten und die Zukunft des Individuums, Hamburg.
Castel, Robert/Dörre, Klaus (Hrsg.) (2009): Prekarität, Abstieg, Ausgrenzung. Die soziale Frage am Beginn des 21. Jahrhunderts, Frankfurt am Main/New York.
Gorz, André (1989): Kritik der ökonomischen Vernunft, Berlin.
Kronauer, Martin (2006): »Exklusion« als Kategorie einer kritischen Gesellschaftsanalyse. Vorschläge für eine anstehende Debatte, in: Bude/Willisch 2006: 27-45.
Manske, Alexandra/Pühl, Katharina (Hrsg.) (2010): Prekarisierung zwischen Anomie und Normalisierung. Geschlechtertheoretische Bestimmungen, Münster.
Marx, Karl (1973): Das Kapital. Band 1. Der Produktionsprozeß des Kapitals [1867], in: MEW 23, Berlin.
Pelizzari, Alessandro (2009): Dynamiken der Prekarisierung. Atypische Erwerbsverhältnisse und milieuspezifische Unsicherheitsbewältigung, Konstanz.
Roth, Karl-Heinz (2010): Die globale Krise. Globale Krise – Globale Proletarisierung – Gegenperspektiven, Hamburg.
Sander, Nadine (2012): Das akademische Prekariat. Leben zwischen Frist und Plan, Konstanz.
Scherschel, Karin/Streckeisen, Peter/Krenn, Manfred (2012): Neue Prekarität: Die Folgen aktivierender Arbeitsmarktpolitik – europäische Länder im Vergleich, Frankfurt am Main/New York.
Schultheis, Franz/Herold, Stefan (2010): Précarité und Prekarität. Zur Thematisierung der sozialen Frage des 21. Jahrhunderts im deutsch-französischen Vergleich, in: Busch u.a. 2010: 243-274.
Schultheis, Franz/Schulz, Kristina (Hrsg.) (2005): Gesellschaft mit begrenzter Haftung. Zumutungen und Leiden im deutschen Alltag, Konstanz.

Klaus Dörre ist Professor für Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie an der FSU Jena; Tine Haubner ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am DFG-Kolleg Postwachstumsgesellschaften der FSU Jena.

[1] Bologna 1977, zit. n. K.-H. Roth 2010, 155.
[2] F. Schultheis/S. Herold 2010, 244.
[3] A. Gorz 1989, 100-102.
[4] Ebd., 200.
[5] R. Castels 2000, 360f.
[6] K. Marx 1973, 660.
[7] R. Castel 2005.
[8] Kritisch: M. Kronauer 2006.
[9] Zur deutschen Diskussion vgl.: M. Baethge u. a. 2005, U. Brinkmann u. a. 2006; H. Bude/A. Willisch 2006; M. Busch u. a. 2010, R. Castel/K. Dörre 2009, F. Schultheis/K. Schulz 2005; H. Holst u. a. 2009; A. Pelizzari 2009, A. Manske/K. Pühl 2010; K. Scherschel u.a. 2012, N. Sander 2012.
[10] Castel 2011, S. 358.

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