1. Januar 2008 Redaktion Sozialismus

Ein schönes neues Jahr?

Der SPD-Vorsitzende Beck macht auf Optimismus: Die Entwicklung seiner Partei seit dem Hamburger Parteitag vom Oktober 2007 sei positiv.

Noch sprechen die Fakten eine andere Sprache: Auch im Jahr 2007 hatte die SPD bis Ende November einen Mitgliederschwund von 20.000 zu verkraften. 1990 hatten die Sozialdemokraten noch mehr als 940.000 Mitglieder, die CDU fast 780.000. Ende November 2007 zählten die Sozialdemokraten noch 541.353 und die Christdemokraten 539.052 Mitglieder. Bei der SPD verläuft der Abwärtstrend schneller als bei der CDU.

In den aktuellen Meinungsumfragen schwankt die SPD um die 30-Prozent-Marke. Gleichwohl sieht der Parteivorsitzende die SPD "gut aufgestellt, kampfeswillig und kampfesbereit". Diese optimistische Sichtweise bezieht Beck in erster Linie aus dem Umstand, dass es der SPD nach langen Widerständen des Koalitionspartners doch noch gelungen sei, einen gesetzlichen Mindestlohn für die Briefzusteller durchzusetzen. Das bestärkt auch die Hoffnung der Sozialdemokratie, durch weitere Profilierung in der Regierung ihre Wahlchancen in den kommenden zwei Jahren verbessern zu können.

Parteichef Beck bekräftigte das Ziel, auch bei der Zeit- und Leiharbeit Lohnuntergrenzen einzuführen. Es sei notwendig, durch Mindestlöhne "Armut trotz Arbeit" zu verhindern. Er gehe grundsätzlich davon aus, dass die große Koalition bis zur Bundestagswahl im Herbst 2009 ihre Arbeit weiterführe. Die Sozialdemokratie ist durch die Politik des Mindestlohns, der Erhöhung des Arbeitslosengeldes I und mit der Aussetzung der Zwangsverrentung für ältere Erwerbslose aus der politischen Blockade der Agenda 2010 herausgekommen. Mehr und mehr führende SPD-Politiker wie z.B. Finanzminister Steinbrück sprechen sich mittlerweile für die Einführung eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns aus. Eine solche Mindestregelung sei übersichtlicher als die verschiedenen Branchenregelungen. Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) hat sich für Mindestlöhne in der Pflegebranche ausgesprochen. Sie finde es "beschämend", dass Menschen, die in der Pflege hart arbeiteten, im Schnitt nur knapp über 1.000 Euro verdienten. Besonders für Kirchen müsse der Mindestlohn selbstverständlich sein.

Auch die taktische Überlegung der hessischen SPD ordnet sich hier ein, für die anstehenden Landtagswahlen eine Unterschriftenkampagne zu Mindestlöhnen zu starten. Auch wenn dies letztlich ein Akt symbolischer Politik sein wird – werden doch gesetzliche Regelungen von Mindestlöhnen auf Bundesebene durchgesetzt –, so bietet eine solche Unterschriftenkampagne zumindest die Möglichkeit, die eigene Klientel zu aktivieren und das eigene politische Profil zu verändern.

Erhard Eppler, Hüter des sozialdemokratischen Schatzes in Theorie- und Strategiefragen, verbindet die Debatte um den Mindestlohn schon weitsichtig mit der Frage nach dem Stellenwert der "Konkurrenz" in einer modernen kapitalistischen Gesellschaft: "Es wird Zeit, über Wert und Funktion des Wettbewerbs nachzudenken... Es ist eine Ideologie, die den Wettbewerb aus einem von mehreren Instrumenten der Wirtschaftspolitik zum Maßstab, ja zum Ziel wirtschaftlichen Handelns macht...Vor dreißig Jahren hätte kein Politiker, auch keiner der Union, darüber geklagt, dass Mindestlöhne den Wettbewerb hemmen. Einmal, weil praktisch jede Arbeit so entlohnt wurde, dass man davon leben konnte. Zum anderen galt noch: Ein Wettbewerb, der nur durch Hungerlöhne möglich wird, passt nicht in die soziale Marktwirtschaft. Wo Wettbewerb nicht mit anderen als sozialverträglichen Mitteln gelingt, darf er, soll er unterbleiben. Der Wettbewerb wurde als Mittel geschätzt. Aber er war kein Gott, dem Menschenopfer zustanden. Unser Grundgesetz beginnt nicht mit den Sätzen: 'Wettbewerb ist das Staatsziel der Bundesrepublik Deutschland.'" (TAZ, 12.12.2007)

Wenn die realexistierende Sozialdemokratie sich über den Mindestlohn und die Ausgestaltung der sozialen Sicherheit für die eigentumslose Mehrheit der Bevölkerung aus den Fallstricken der neoliberalen Ideologie herauswindet, kann das für das politische Kräfteverhältnis und die politische Kultur nur positive Auswirkungen haben. Die Trauer einiger Protagonisten der Partei DIE LINKE. über die Veränderung der Sozialdemokratie ist zu verschmerzen.

Die FAZ weiß um den begrenzten politischen Effekt einer Mindestlohnkampagne der Sozialdemokratie. Mit einer solchen "Mindestlohnwahl ... schwimmt nun die SPD mit dem in Umfragen erkannten Strom." Aber mehr auch nicht. Damit ist die fortgeschrittene Delegitimierung der kapitalistischen Gesellschaft bei der großen Mehrheit der Bevölkerung noch nicht zurückgedrängt. Und das ist die eigentliche Herausforderung für den Großteil der politischen Klasse und die wirtschaftliche Elite.

Dies wird sich auch als die eigentliche Achillesferse der SPD-Politik der nächsten Monate erweisen: Ist ihre Neujustierung und die Befreiung von der Agenda 2010 erfolgreich? SPD-Chef Beck und seine Führungscrew haben ein einfaches Szenario: Die Nachbesserungen und Korrekturen an der Agenda-Politik zeigen Wirkung, der wirtschaftliche Aufschwung stabilisiert sich, und bis zur Bundestagswahl 2009 geht es vor allem darum, die segensreichen Wirkungen der Konjunktur auch zu den "einfachen Leuten" zu bringen – unter lauter Begleitmusik symbolischer Geißelung von Managergehältern. Diese sozialdemokratische Konzeption dürfte sich schon zu Beginn von 2008 als reichlich illusionär herausstellen. Die massiven Wertberichtigungen bei Finanz­instituten und die Beinahe-Bankpleiten der Deutschen Industriebank (IKB) und der Landesbank Sachsen signalisieren eine Trendwende. Etliche Indikatoren sprechen dafür, sich nicht nur auf eine Verlangsamung des Aufschwungstempos einzustellen, sondern auch mit weitergehenden verstärkenden Effekten der Kredit- und Immobilienmärkte und der schwächelnden US-Ökonomie auf einen Abwärtstrend des Konjunkturzyklus zu rechnen. Dann werden Beck und die Sozialdemokratie ihre optimistische Tagesordnung vom Jahresbeginn überprüfen müssen und sehen, dass es mit ­einer einfachen Ausdehnung gesetzlicher Mindestlöhne von Branche zu Branche nicht getan sein wird.

Unterbelichtet bleiben in einem eher optimistischen Szenario für 2008 ebenso gravierende Verschiebungen im Alltagsbewusstsein der Bevölkerung. Dass Deutschland seit zwei Jahren einen wirtschaftlichen "Aufschwung ohne Aufbruch" (FAZ) erlebt, hat seine handfesten Gründe, die nicht einfach von heute auf morgen umgedreht werden könnten. Nach einer repräsentativen Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach, die im Auftrag der Bertelsmann Stiftung, der Heinz Nixdorf Stiftung und der Ludwig-Erhard-Stiftung entstand, halten zwei Drittel der Befragten das deutsche Wirtschaftsmodell für nicht sozial. Aber noch aussagekräftiger ist der Tatbestand, dass "trotz anhaltenden Aufschwungs ... nur noch 15 Prozent der Bürger der Meinung (sind), dass die Verteilung in Deutschland gerecht ist..." (Soziale Gerechtigkeit 2007 – Ergebnisse einer repräsentativen Bürgerumfrage, Bertelsmann Stiftung, Gütersloh 2007, S. 5) Das heißt, die gegenwärtige ökonomische Entwicklung wird als ein "Wirtschaftsaufschwung ohne Verteilungsgerechtigkeit" empfunden und damit hat ein zentrales Legitimationsprinzip einer bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft – die Leistungsgerechtigkeit – hierzulande einen neuen historischen Tiefstand erreicht. Bemerkenswert daran ist gerade die gegenwärtige Verfestigung einer solchen Einschätzung im Alltagsbewusstein. Denn "die­se Entwicklung widerspricht den Erfahrungen früherer Konjunkturzyklen, in denen Boomzeiten in der Bevölkerung stets zu der Einschätzung führten, dass mit dem Aufschwung auch ein Mehr an Verteilungsgerechtigkeit im Land verbunden sei. So sank auf dem Höhepunkt des New-Economy-Booms um die Jahrtausendwende der Anteil derjenigen, die die Verteilung im Lande für ungerecht hielten, von 60 Prozent im Jahre 1998 auf 47 Prozent im Jahr 2000, während im gleichen Zeitraum der Anteil derjenigen, die eine gerechte Verteilung sahen, von 23 Prozent auf 33 Prozent angestiegen ist." (ebd., S. 7)

Mit einer einfachen Trendwende können die politischen Akteure also nicht rechnen. Vielmehr machen sich hier jetzt die Langzeitwirkungen der "Deutschen Zustände" bemerkbar, die auch die Bielefelder Forschungsgruppe um Wilhelm Heitmeyer konstatiert: "Da seit der Verabschiedung der Hartz-IV-Gesetze eine längere Arbeitslosigkeit mit drastischen Einschnitten in der Lebenssituation verbunden ist, bleibt trotz insgesamt positiver Entwicklungen der Anteil der Personen, die vor einem harten sozialen Abstieg große Angst empfinden, eher stabil." (DIE ZEIT, 13.12.2007) Den "Angstrohstoff" in unserer Gesellschaft, auf den Oskar Negt in den letzten Jahren immer wieder hinwies, hat also der gegenwärtige Wirtschaftsaufschwung keineswegs aufgelöst. Erschwerend hinzu kommen die Folgewirkungen neo­liberaler Agenda- und "Reform"-Politik, die soziale Exklusion weiter verfestigt: "Der forcierte Übergang von der Marktwirtschaft zur Marktgesellschaft zeigt sich darin, dass ökonomische Prinzipien wie Effizienz und Nützlichkeit das soziale Leben durchdringen und andere, nicht marktrelevante Grundsätze wie Empathie und Fürsorglichkeit überformen oder gar zurückdrängen. Ökonomisches Denken ist die subjektive Verankerung kapitalistischer Logik in der Gesellschaft... Die Ergebnisse zeigen, dass über ein Drittel der Deutschen den Aussagen tendenziell zustimmen, die Gesellschaft könne sich wenig nützliche Menschen und menschliche Fehler nicht mehr leisten." (ebd.)

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