26. Februar 2025 Mario Keßler: Isaac Deutschers und Jean Amérys Schriften über Antisemitismus, jüdische Existenz und Israel

Eine große Wiederentdeckung

Der Philosophin und Sozialistin Susan Neiman,

die Améry wie Deutscher liebt und verehrt,

zum 70. Geburtstag zugeeignet.

 

Es gibt politische Bücher, die man aufschlägt und darin Fragen beantwortet findet, die einem aktuell durch den Kopf gehen. Schaut man auf das Erscheinungsdatum, mag man sehr erstaunt feststellen: Das sind Jahrzehnte alte Schriften!

So ergeht es sicher Manchen, die erstmals diese wieder aufgelegten Essays von Isaac Deutscher und Jean Améry zur Hand nehmen. Deren Texte behandeln Zeiten und Probleme der ersten zwei, drei Nachkriegsjahrzehnte. Doch sind es unsere Zeiten, unsere Probleme.

Die zwischen 1946 und 1977 von Isaac Deutscher und Jean Améry verfassten Aufsätze drehen sich um jüdische Existenz im Singular wie im Plural nach Auschwitz, um die Bindungen beider Denker – wie um ihre Kritik – an Israel sowie um fortdauernde Gefahren des Antisemitismus, auch in neuer Gestalt und Maske. Herkunft und politische Wege beider Autoren unterschieden sich stark voneinander, Améry war zudem ein zeitweise scharfer Kritiker Deutschers, und doch kann, ja muss man beide zusammendenken.

Der nichtjüdische Jude: Isaac Deutscher

Isaac Deutscher (1907–1967), in Galizien geboren und aufgewachsen, als Buchdrucker tätig und Gasthörer an der Universität Kraków, gehörte in den 1920er- und 1930er-Jahren der Kommunistischen Partei Polens an. Nach seinem Ausschluss 1932 war er zeitweilig Trotzkist und führender Kopf der Gruppe Bolschewiki-Leninisten, die sich dem Diktat Stalins über die Partei zu widersetzen suchte. Obwohl schon außerhalb der Partei stehend, opponierte er entschieden gegen deren von der Komintern 1938 erzwungene Auflösung. Die Führungskräfte der KP Polens wurden, soweit sie in der Sowjetunion waren, dort ermordet.

Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges befand sich Deutscher als Zeitungskorrespondent zufällig in England und überlebte so als fast einziges Mitglied seiner Familie und der Verwandtschaft Krieg und Vernichtung. Als Journalist für renommierte britische Blätter tätig, erlangte er als Historiker mit seinen Biographien Stalins und Trotzkis Weltruf. Die Artikel, Reden und Interviews in diesem, 1968 erstmals englisch, 1977 und 1988 dann auf Deutsch erschienenen Band entstanden zwischen 1946 und Deutschers Todesjahr. Sie gruppieren sich wesentlich um drei Themenkreise: die jüdische Existenz nach Auschwitz, die Folgen der Staatsgründung Israels für Juden und palästinische Araber sowie die Suche nach einer Alternative zum Zionismus, den Deutscher als historisch überlebt ansah, dessen Notwendigkeit er aber nicht bestritt, solange jüdischen Menschen inner- wie außerhalb Israels keine Alternative offenstand.

Schon als Heranwachsender, der eine streng traditionelle Erziehung erhalten hatte, war Deutscher, so im Aufsatz, der dem Band den Titel gab, tief beeindruckt von der Gestalt des »Ketzers« Acher, von dem eine talmudische Geschichte berichtet, dass er »die Grenzen des Judentums überschritt«.[1]

Mario Keßler ist Senior Fellow am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam und Mitglied der Leibniz-Sozietät. Zuletzt schrieb er in Heft 12-2024 von Sozialismus.de zu »Jean Jaurès und die Tradition einer revolutionären Realpolitik«.

[1] Isaac Deutscher, Der nichtjüdische Jude. Herausgegeben und mit einem Beitrag von Tamara Deutscher. Aus dem Englischen von Eike Geisel und Mario Offenberg, Berlin: Wagenbach, 2024, S. 41. Die folgenden, in Klammern gesetzten Seitenzahlen beziehen sich auf diese Ausgabe. Die Originalausgabe trug den Titel: The Non-Jewish Jew. – Ich greife im Folgenden auf Passagen meiner im Frühjahr 1989 mit Wolfgang Schwanitz verfassten Rezension zur Ausgabe des Jahres 1988 zurück. Sie war, soweit mir bekannt, die erste positive gedruckte Wortmeldung zu Deutscher in der DDR. Als sie in Nr. 6/1989 der Zeitschrift »asien-afrika-lateinamerika« erschien, wurde sie natürlich von den Ereignissen, in denen Isaac Deutschers Stimme sehr nötig gewesen wäre, »verschluckt«.

Die komplette Leseprobe als pdf-Datei!

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