27. Dezember 2024 Fritz Fiehler: Marx’ Theorie und Studien wiederkehrender Krisen

Eine Krise? Wenn ja, wieviele?

»Im Verlauf der 2007/08 ausgebrochenen Krise, ihrer Verschärfung in der 2010 einsetzenden Eurokrise und der anschließenden Stagnationsphase«, schreibt Timm Graßmann in »Der Eklat aller Widersprüche«, »haben sich dramatische Wandlungen vollzogen (Tooze 2018): die weltweiten Aufstandsbewegungen von 2011 und 2019, der Abstieg weiter Teile der amerikanischen Mittelschicht und die soziale Not in Südeuropa, der Vormarsch eines autoritären Populismus, der Aufstieg Chinas, die Explosion der öffentlichen Verschuldung sowie der Treibhauskonzentration in der Erdatmosphäre infolge der Stimulusprogramme, das Umsichgreifen einer merkwürdigen Krisenstimmung.«[1]

Wie ist das »Umsichgreifen einer merkwürdigen Krisenstimmung« zu erklären? Warum hat die erwähnte Finanzkrise so unterschiedliche Folgen nach sich gezogen? Für den Neoliberalismus wurde sie zum Desaster. Der Keynesianismus beeilte sich als monetärer wahrgenommen zu werden. Und in diesem Sinne wollte sich die Linke auch einer komplexen Finanzkrise gegenüber aufgeschlossen zeigen.[2] Aber von einer »Stunde der Linken« konnte nirgends die Rede sein, vielmehr von einer des erwähnten »autoritären Populismus«. Wie ist die Verarbeitung dieser »Großen Krise« zu begreifen? Jedenfalls löste ihr klassischer Fall, nämlich die Krise von 1847 eine europaweite Revolution aus, die aber dann Gegenrevolutionen zur Beute anheimfiel.

In der vergangenen Dekade habe man sich wieder verstärkt dem Marxismus zugewandt, schreibt Graßmann. »Dabei scheinen die Diskussionen um dessen Krisentheorie in eine Polarität gemündet zu sein, die größer nicht sein könnte. Auf der einen Seite steht die unerschütterliche Überzeugung, dass bei Marx mit dem Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate so etwas wie eine ultimative Krisentheorie vorliegt, mit deren Hilfe sich das heutige Geschehen bruchlos erklären lässt (Roberts 2009; Kliman 2011; Lohoff/Trenkle 2012) […] Auf der anderen Seite konkurriert mit der Profitratenfalltheorie heute die altbekannte Einschätzung, dass sich ob der Fragmentierung, Verstreutheit und Unabgeschlossenheit der Marxschen Äußerungen zum Krisenproblem keine ›eigentliche‹, keine ›explizite‹ (Bader et al. 1975, 418), keine ›nahtlose‹ (Crotty 1985, 37), keine ›systematische‹ (Steg 2019, 203), keine ›vollständige‹ (Williams o. D.), keine ›fertige‹ (Heinrich 2016, 184) oder keine ›zusammenhängende Krisentheorie‹ (Heinrich 2005, 171) bei Marx finden lasse.« /TG: 3/[3]

Solche Urteile »ziehen ihre Plausibilität daraus«, erklärt Graßmann, »dass Marx es in der Tat versäumt hat, seine Überlegungen zum Krisenproblem systematisch zusammenzufassen und darzustellen, so dass es in seinem ohnehin unvollendet gebliebenen ökonomischen Hauptwerk keinen eigenständigen Abschnitt zu den Krisen gibt. Gleichwohl hat er sich mit ihnen über fast vierzig Jahre hinweg in einer (nicht leicht zu überblickenden) Vielzahl von Zeitungsartikeln, historischen Schriften, Vorträgen, Briefen, Exzerpten, ökonomischen Schriften und Manuskripten so kontinuierlich und intensiv auseinandergesetzt wie vermutlich kein zweiter Zeitgenosse.« /TG: 3f./ Und er setzt hinzu: »So ist selten berücksichtigt und manchmal sogar für unbedeutend erklärt worden, dass Marx viele große Wirtschaftskrisen – etwa die von 1847, 1857, 1866, 1873 und 1878/79 – persönlich erlebt, in umfangreichen Exzerptheften studiert und in seiner Publizistik analysiert hat.« /TG: 5/

Damit geht es um die Frage: »Liegt bei Marx eine Krisentheorie vor oder nicht? Oder besser gefragt: Was sind Marx zufolge Krisen, warum kehren sie wieder, was bedeuten sie und was bewirken sie typischerweise? Das sind die Leitfragen der vorliegenden Untersuchung.« /TG: 4/ Einer Untersuchung, die der Herausgabe der Marx-Engels-Gesamtausgabe erwachsen ist. Und zwar engagiert sich Timm Graßmann für ihre vierte Abteilung, in der es um Notizen und Exzerpte von Marx und Engels geht.[4] Das verlangt nicht nur ihre penible Zusammenstellung, sondern hat sich auch zu beziehen auf Werke und Briefwechsel sowie die jeweilige Öffentlichkeit. Jedenfalls kennt sich Graßmann über veröffentlichte und noch unveröffentlichte Texte aus, weshalb seine Beiträge und Rezensionen mit Gewinn zu lesen sind.

Fritz Fiehler arbeitet in der Sozialistischen Studiengruppe (SOST).

[1] Timm Graßmann (2022): Der Eklat aller Widersprüche. Marx’ Theorie und Studien der wiederkehrenden Wirtschaftskrisen. Berlin/Boston, S. 1f. Im Folgenden als /TG/ zitiert.
[2] »Bislang wird jedoch noch zu einseitig auf die ökonomischen Krisendynamiken fokussiert, auch wenn die Klima- und Ressourcenkrise zunehmend in den linken Krisendiskurs Eingang finden. Die Perspektive der multiplen Krise kann zur Weiterentwicklung der Such-, Vernetzungs- und Verständigungsprozesse oppositioneller Kräfte zu einem transnationalen hegemonialen Block beitragen.« (Pauline Bader u.a.: Die multiple Krise – Krisendynamiken im neoliberalen Kapitalismus, in: Alex Demirovic u.a.: VielfachKrise: Hamburg 2011, 26)
[3] Die Rekonstruktion des Marxismus war auf die Krisen-, Klassen- und Staatstheorie angelegt. Dabei wandte sich die Rekonstruktion gegen die Vorstellung einer allgemeinen Krise. Vgl. Veit-Michael Bader u.a.: Krise und Kapitalismus bei Marx I und II. Eschwege 1975. Die Kritik verlangte nach einer Klärung von Möglichkeit und Wirklichkeit von Krisen. Vgl. Projekt Klassenanalyse: Die Krise in der Theorie, in: Beiträge zum wissenschaftlichen Sozialismus, Heft 9, Dezember 1976, Berlin, S. 85–139. In der Entwicklung einer realen Antikrisenpolitik kamen unterschiedliche Bezüge auf Krisenmomente zum Ausdruck. Vgl. Jürgen Hoffmann (Hrsg.) Überproduktion, Unterkonsumtion, Depression. Hamburg 1983. Mit der Finanzkrise 2007/2008 rückte die Geld- und Kredittheorie in den Mittelpunkt. Vgl. Elmar Altvater: Der große Krach. Münster 2010.
[4] Dr. Timm Graßmann (geb. 1984) ist an der Herausgabe folgender Bände der Marx-Engels-Gesamtausgabe beteiligt gewesen, nämlich aus der vierten Abteilung IV / 5: Exzerpte und Notizen Juli 1845 bis Dezember 1850 (Manchester Hefte) 2015 Berlin Boston; IV / 14: Exzerpte, Zeitungsausschnitte und Notizen zur Weltwirtschaftskrise November 1857 bis Februar 1858 (Krisenhefte) Berlin Boston 2017; IV / 18: Exzerpte und Notizen Februar 1864 bis Oktober 1868 (Agrarhefte) Berlin Boston 2019; IV 7 19: Exzerpte und Notizen 1868 bis 1872 ( Hefte zur Krise von 1866) 2021; IV / 25: Exzerpte und Notizen 1876 bis 1879 (Hefte zur Theorie und Geschichte des Geld- und Kreditwesens) 2024.

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