25. März 2014 Florian Blank: Zur (Weiter-)Entwicklung des deutschen Alterssicherungsmodells

Eine, zwei oder drei Säulen?

Die dritte Große Koalition hat sich in der Alterssicherungspolitik viel vorgenommen und manche Vorhaben bereits in den Gesetzgebungsprozess eingebracht: Unter bestimmten Voraussetzungen soll ein abschlagsfreier Rentenbezug mit zunächst 63 Jahren möglich sein, die Aufwertung von geringen Renten nach 45 Jahren Beitragszeit bis auf rund 850 Euro soll ermög­licht werden, Mütter sollen von einer besseren Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten profitieren, die betriebliche Altersversorgung (bAV) soll gestärkt werden und einiges mehr.

Im Folgenden sollen weniger diese Einzelmaßnahmen im Mittelpunkt stehen. Vielmehr möchte ich Fragen nach grundlegenden Problemen und nach der Systematik der deutschen Alterssicherung nachgehen und prüfen, wie die gegenwärtigen Reformvorschläge auf diese Probleme eingehen bzw. das bestehende Sicherungssystem modifizieren sollen. Sowohl die gegenwärtige Debatte als auch aktuelle empirische Daten legen nahe, dass das 2001 geschaffene, so genannte Drei-Säulen-Modell der Alterssicherung Mängel hat und sich nicht etablieren kann. Der zukünftige Weg der deutschen Alterssicherung könnte stattdessen zu einem Zwei-Säulen-Modell führen. Allerdings sind dieser Weg und seine Konsequenzen mit Blick auf die öffentliche Verantwortung und auch die Rolle der Sozialpartner in der Alterssicherung bisher nur undeutlich in einer eher chaotischen Alterssicherungspolitik zu erkennen.


Das Drei-Säulen-Modell

Ein Blick zurück: Die »Riester-Reform« 2001 modifizierte nicht nur die gesetzliche Rentenversicherung (GRV). Stattdessen bewirkte sie einen Wandel von der bisherigen öffentlichen Rentenpolitik zu einer weiter gefassten Alterssicherungspolitik. Seither soll die Alterssicherung nicht mehr durch die Leistungen der öffentlich-rechtlichen GRV allein, sondern im Zusammenspiel von GRV, bAV und öffentlich geförderter privater Vorsorge (»Riester-Rente«) erfolgen. Das sinkende Leistungsniveau der öffentlichen Säule soll durch individuelle Sparanstrengungen in der zweiten und dritten Säule kompensiert werden. Hintergrund dieses Paradigmenwechsels war der Versuch, durch eine Eindämmung der Leistungen der GRV den Anstieg der Sozialversicherungsbeiträge zu dämpfen.

Die Reform bedeutete in mehrfacher Hinsicht eine Privatisierung der Alterssicherung: Beschäftigte und ihre Angehörigen sind jetzt deutlich stärker als in der klassischen Pflichtversicherung GRV gehalten, eigenverantwortlich die eigene Alterssicherung zu organisieren, im Bereich der bAV teils unterstützt durch die Tarifparteien. Diese eigenverantwortlich organisierte Altersvorsorge wird zudem häufig durch privatwirtschaftliche Anbieter abgewickelt, teils auch durch öffentliche oder gemeinnützige Einrichtungen. Zugleich kam es zu einer Verlagerung von Kosten: Anstelle der paritätischen Finanzierung der GRV aus Beiträgen der Arbeitgeber und Beschäftigten sind nun Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in einem ersten Schritt gehalten, die zusätzliche Alterssicherung aus ihrem eigenen Einkommen zu finanzieren. Ob und wie stark sie dann von öffentlicher Unterstützung oder von Arbeitgeberzuschüssen profitieren, hängt von einer ganzen Reihe von Faktoren ab: von Arbeitsplatz und Einkommen, Familiensituation und auch eigenen Entscheidungen.


Der Stand der Dinge

Was ist der Stand der Dinge? Zunächst zur GRV: Hier wurde durch die Reform von 2001 und nachfolgende Reformen die Koppelung der Anpassung der Renten an die Lohnentwicklung geschwächt. Der aktuelle Rentenwert, aus dem sich sowohl der Wert der aktuellen Renten wie auch der der Ansprüche künftiger Rentner ergibt, steigt seither in der Regel langsamer als die der Berechnung zugrunde liegenden Einkommen. Das Sicherungsniveau – berechnet als Anteil der Rente eines Arbeitnehmers mit 45 Jahren Erwerbsarbeit mit Durchschnittsverdienst (Eckrentner) am Durchschnittsverdienst des jeweiligen Jahres vor Steuern – wird laut Rentenversicherungsbericht von 50,5% (2008) auf 45,4% (2027) sinken.[1]

Während diese Entwicklung durch das geltende Rentenrecht bedingt ist, ist die GRV außerdem mit gesellschaftlichen – vor allem arbeitsmarktpolitischen Entwicklungen – konfrontiert. Analysen der Rentenanwartschaften unterschiedlicher Jahrgänge zeigen, dass jüngere Altersgruppen geringere Ansprüche gegenüber der Rentenversicherung erwerben als ältere. Dies liegt an gewandelten Erwerbsverläufen und Lebenswegen und wird durch eine Abwertung des sozialen Ausgleichs in der Rentenversicherung – etwa die rentenrechtliche Abwertung von Zeiten der Arbeitslosigkeit – noch verstärkt. Die GRV wird damit in die Zange genommen: Auf die Abwertung der Leistungen treffen geringere individuelle Ansprüche. Sichtbar wird das u.a. im Vergleich der durchschnittlichen Bestandsrenten zu den durchschnittlichen Renten im Rentenzugang.[2]

In der betrieblichen Altersversorgung wurden 2001 Änderungen vorgenommen, um sie zu einem Instrument der tarifvertraglich gerahmten, betrieblich umgesetzten Altersvorsorge zu machen. Das betrifft insbesondere die so genannte Vorsorge durch Entgeltumwandlung: Hier haben Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nun einen Rechtsanspruch darauf, einen Teil ihres Entgelts für eine Betriebsrente zu verwenden. Für die Entgeltumwandlung besteht ein Tarifvorbehalt – durch Tarifvertrag geregelte Entgeltbestandteile können nur dann umgewandelt werden, wenn der Tarifvertrag das vorsieht.

Infolge der Reformen haben die Tarifparteien zahlreiche Tarifverträge abgeschlossen, die die Möglichkeiten und Bedingungen dieser Form der Vorsorge regeln. Als eine Konsequenz der Reformen haben die Finanzierung der bAV durch die Beschäftigten und die Mischfinanzierung durch Beschäftigte und Arbeitgeber nun einen deutlich höheren Stellenwert, die alleinige Finanzierung durch die Arbeitgeber hat relativ an Bedeutung verloren.

Zahlreiche Datenquellen zeigen ein sehr heterogenes Bild der Nutzung der bAV. Zwar ist von Dezember 2001 bis Dezember 2011 ein starker Anstieg der Verbreitung nach Betrieben wie auch nach Beschäftigten festzustellen (auf jeweils 50% in der Privatwirtschaft).[3] Allerdings hat sich dieser Anstieg seit 2009 deutlich abgeschwächt. Die bAV durch Entgeltumwandlung wird von weniger als einem Viertel der Beschäftigten in der Privatwirtschaft genutzt.

Ein Problem ist hierbei die uneinheitliche Abdeckung: Die bAV wird in verschiedenen Branchen unterschiedlich stark genutzt bzw. angeboten, Tarifverträge beinhalten durchaus unterschiedliche Regelungen (u.a. zur Beteiligung der Arbeitgeber), die Verbreitung der bAV korreliert mit der Betriebsgröße und die Nutzung der Entgeltumwandlung variiert schließlich nach Einkommen und Geschlecht der Beschäftigten. Nicht zu vernachlässigen ist weiterhin die sinkende Tarifbindung der Betriebe, durch die sich immer weniger Beschäftigte auf die von den Tarifparteien vereinbarten Regelungen stützen können. Nur am Rande sei die berechtigte Kritik an der Förderung der Entgeltumwandlung durch Sozialabgabenfreiheit erwähnt, durch die nicht nur die individuellen Ansprüche gegenüber Renten- und Arbeitslosenversicherung gemindert, sondern der Sozialversicherung insgesamt Beiträge entzogen und schließlich vermittelt über die Rentenanpassungsformel auch die Leistungen der GRV verringert werden.[4]

Die »Riester-Rente« ist aus verschiedenen Gründen in die Kritik geraten: von Verbraucherschützern ist insbesondere die mangelnde Transparenz des Marktes für »Riester-Produkte« bemängelt worden. Auch Verteilungsfragen spielen eine Rolle, die ihren Ausgangspunkt in der Beobachtung haben, dass Geringverdiener relativ seltener privat vorsorgen als Vertreter höherer Einkommensgruppen.

Nach einem raschen Anstieg der »Riester-Verträge« ab 2001 hat sich die Zahl 2013 erstmals stabilisiert und liegt jetzt (2012 und die ersten drei Quartale 2013) knapp unter 16 Mio.[5] Dabei ist aber zu berücksichtigen, dass diese Verträge nicht notwendigerweise voll bespart werden. 2011 wurde geschätzt, dass 15% der Verträge ruhten. Dennoch ist die staatliche Förderung dieser Form des Vorsorgesparens nicht zu vernachlässigen: Die Zulagen- und Steuerförderung für das Jahr 2009 betrugen 3,25 Mrd. Euro.[6]


Ein »nicht-integrierendes System«

Nun ließe sich angesichts dieser Zahlen eventuell argumentieren, dass bAV und »Riester-Rente« einander ergänzen – Menschen also das für sie passende Produkt auswählen und eine flächendeckende Verbreitung weder des einen noch des anderen Vorsorgewegs notwendig ist. Dies läge auch im Sinne der Erfinder, da – so die Annahme – letztlich die individuelle Nutzung zweier Säulen (GRV + bAV oder GRV + »Riester-Rente«) zur Lebensstandardsicherung ausreichen sollte. Allerdings zeigt eine Befragung durch TNS Infratest im Auftrag des BMAS, dass 20% der befragten sozialversicherungspflichtig Beschäftigten von 25 bis unter 65 Jahren durch bAV und »Riester-Rente« abgesichert waren, weitere 36% durch die bAV allein, 15% die »Riester-Rente«, aber nicht die bAV nutzten und 29% weder die eine noch die andere Form der Vorsorge nutzten.[7] Angesichts der aus zahlreichen Quellen ersichtlichen Verteilung der beiden Sicherungswege nach Einkommen muss davon ausgegangen werden, dass es sich bei den Nicht-Nutzern insbesondere um Geringverdiener handelt.

Der kurze Überblick über aktuelle Daten zu den drei Säulen legt zwei Schlüsse nahe: Erstens scheint in Deutschland die Alterssicherung aller Bürgerinnen und Bürger weder Sache öffentlicher noch privater Verantwortung zu sein oder eher: Weder öffentliche Institutionen noch private Akteure werden ihrer gemeinsamen Verantwortung gerecht. Statt eines Drei-Säulen-Modells  herrscht in Deutschland Modell-Pluralität. Ob die Alterssicherung im Ein-, Zwei- oder Drei-Säulen-Modell geschieht (bzw. nicht geschieht), hängt von individuellen Lebensumständen und Entscheidungen ab. Die Arbeitsteilung zwischen öffentlich und privat wird für und von jede/r Bürgerin und jeden/m Bürger neu bestimmt.

Zweitens ist angesichts der politisch herbeigeführten Defizite der GRV und der deutlich schichtspezifischen Nutzung der anderen zwei Säulen eine Diskrepanz zwischen gesellschaftlicher Entwicklung und Alterssicherung festzuhalten. Angesichts unstetiger Lebensläufe, die auch Phasen der Arbeitslosigkeit und prekärer Beschäftigung, aber auch längere Bildungszeiten einschließen, erscheint die bisherige Mischung aus zurückgenommener öffentlicher Verantwortung (bei Verschärfung des Leistungsprinzips in der GRV), eigenverantwortlicher Vorsorge und betriebszentrierter, aber nicht obligatorischer bAV als zunehmend unpassend. Entsprechend ordnen Jessoula und Hinrichs (2012) das deutsche System im Rahmen einer europäischen Vergleichsstudie als »dis-integrating system« ein und sprechen von »institutional maladjustment of pension architecture to changed labour market conditions«.[8]


Was plant die Große Koalition?

Wie werden diese Probleme nun im Koalitionsvertrag und im aktuellen Gesetzgebungsprozess angegangen? Welche Wege zeichnen sich ab? Zunächst eine Vorbemerkung: Der Koalitionsvertrag ist kein rechtlich bindendes Dokument. Er ist eine politische Willensbekundung und Ergebnis langer Verhandlungen, in denen beide Seiten weniger darum bemüht waren, eine Politik aus einem Guss zu formulieren, sondern unterschiedliche Vorstellungen und Interessen miteinander in Einklang zu bringen oder auch gleichberechtigt nebeneinander bestehen zu lassen. Allerdings sind die Vorhaben im Koalitionsvertrag auch Ergebnis länger andauernder politischer und innerparteilicher Aushandlungsprozesse. Insofern liefern sie einen Hinweis darauf, was die beteiligten Parteien für notwendig, möglich und durchsetzbar halten.

Ich möchte im Folgenden vier Punkte der derzeitigen Debatte nennen, die – jenseits der konkreten Details der Umsetzung, Finanzierung und Verteilungswirkungen einzelner Maßnahmen – für die Weiterentwicklung des Alterssicherungssystems relevant sind:

Erstens hat, wie sich schon in den letzten Jahren, u.a. im »Rentendialog« von Ministerin von der Leyen, abzeichnete, die Leistungsseite der Alterssicherungssysteme wieder an Relevanz zugenommen. Das gilt für die vorgesehene Möglichkeit eines früheren, abschlagsfreien Rentenbezugs und die Aufwertung von Kindererziehungszeiten ebenso wie für die Überlegungen zur »solidarischen Lebensleistungsrente«. Die langjährige einseitige Fokussierung auf die Finanzierungsseite ist damit zumindest abgeschwächt worden.

Zweitens muss aber festgehalten werden, dass sich die derzeit diskutierten Leistungserweiterungen insofern in die Politik seit 2001 einfügen, als sie an einer damaligen Grundentscheidung nichts ändern: der allgemeinen Absenkung des Rentenniveaus, also der Leistungsfähigkeit der GRV. Ebenso wenig korrigieren sie die allgemeine Anhebung des Renteneintrittsalters. Sie sind Anbauten an ein Gebäude, das eigentlich der grundlegenden Sanierung bedarf. Anstelle nun Elemente des sozialen Ausgleichs – etwa für Zeiten der Arbeitslosigkeit – gekoppelt mit einer Anhebung des Rentenniveaus wieder einzuführen, zielt mit der »solidarischen Lebensleistungsrente« einer der Vorschläge auf die Armutsvermeidung. Hier wird die traditionelle Vorleistungsorientierung der GRV neu interpretiert nach dem Motto: Wer lange genug dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stand, der soll zumindest nicht unter 850 Euro Rente beziehen (im Koalitionsvertrag werden 30 Entgeltpunkte als Zielmarke genannt). Nun ist noch unklar, wer diese Leistung am Ende tatsächlich erhält und ob die »solidarische Lebensleistungsrente«, wie im Koalitionsvertrag vorgesehen, als ein zweistufiges Modell mit Bedarfsprüfung auf der zweiten Stufe umgesetzt wird. Es ist zu befürchten, dass die neue Leistung – wenn sie denn umgesetzt wird – letztlich nur einzelnen »verdienten« Personengruppen zugutekommt, aber das Grundproblem drohender Altersarmut letztlich nicht gelöst wird (die durchschnittliche Altersrente betrug im Rentenzugang 2012 716 Euro; Männer 899 Euro, Frauen 532 Euro).

Drittens knüpfen die Pläne der Großen Koalition insofern an die bisherige Politik an, als sie nicht allein die GRV in die Verantwortung für die Alterssicherung nehmen. Eine Zwischenüberschrift im Koalitionsvertrag fordert: »Private und betriebliche Altersvorsorge stärken«. Im darauffolgenden Abschnitt wird aber nur noch auf die bAV eingegangen. Deren Verbreitung soll insbesondere in kleineren und mittleren Betrieben gestärkt werden. Die »Riester-Rente«, die schon in den Wahlprogrammen eine eher untergeordnete Rolle spielte, taucht hingegen gar nicht mehr auf. Dies ist umso bemerkenswerter, als in der »Riester-Rente« nicht nur aus verbraucherpolitischer Sicht Reformbedarf bestünde,[9] wenn sie denn weiter eine tragende Rolle spielen sollte: Die Zulagen, die die Bürgerinnen und Bürger in ihren Sparanstrengungen unterstützen sollen, sind im Gesetz nominal fixiert, sie verlieren Jahr für Jahr an Wert: Von 2008 bis 2012 ist der Wert der Grundzulage real von 154 Euro auf 146 Euro geschrumpft, der Anteil der Zulage am Mindesteigenbeitrag eines Durchschnittsverdieners von 13,27% auf 11,30% gesunken. Das muss nicht unbedingt schlecht sein, insofern es eine Möglichkeit zum stillen Ausstieg aus der Förderung bietet, die »Riester-Rente« sozusagen ausgeschliffen wird – dann stellt sich aber erst recht die Frage nach der künftigen Gestalt des Alterssicherungssystems.

Viertens sei bemerkt, dass die paritätische Finanzierung des Gesamtsystems keine Rolle zu spielen scheint. Auch die öffentliche und politische Debatte konzentriert sich derzeit mehr auf Fragen des Verhältnisses von Steuer- und Beitragsfinanzierung.


Wie weiter?

Die bisherige Entwicklung des Drei-Säulen-Modells, die faktische Vernachlässigung der »Riester-Rente« und die politischen Vorhaben der Großen Koalition deuten darauf hin, dass sich das deutsche Modell in Richtung eines Zwei-Säulen-Modells entwickeln könnte, in dem die öffentliche GRV und die bAV die zentralen Pfeiler sind. Daneben könnte die private Vorsorge »privatisiert« werden, insofern ihre öffentliche Förderung und Regulierung im politisch gestalteten und verantworteten Sicherungssystem keine bedeutende Rolle mehr spielen. Eine klare Ausformulierung eines Zwei-Säulen-Modells steht aber aus. Es fehlt der deutschen Politik derzeit insgesamt an einer klaren Vorstellung des Alterssicherungssystems.

Es sind verschiedene Ausgestaltungen des Zusammenspiels von GRV und bAV denkbar. Daneben ist die Rückkehr zur Lebensstandard sichernden öffentlichen Rentenversicherung wünschenswert und auch technisch möglich, die es um – ggf. steuerfinanzierte – Elemente des sozialen Ausgleichs zu ergänzen gälte. Wenngleich diese Option aus sozialpolitischer Sicht aus vielen Gründen der »Plan A« ist, stellt sich aber die Frage, ob in näherer Zukunft die politischen Mehrheitsverhältnisse diese Bewegung »zurück in die Zukunft« zulassen werden.

Das Zusammenspiel von GRV und bAV ließe sich zunächst in Fortschreibung der bisherigen Situation als ein weitgehend unkoordiniertes Nebeneinander beider Säulen denken. In diesem »System« würde zwar die (künftig möglicherweise obligatorische) bAV erhöhte politische Aufmerksamkeit erhalten. Insbesondere aufgrund sozialer Entwicklungen würde aber das Zusammenspiel der beiden Säulen für viele Menschen mit unterbrochenen Erwerbskarrieren keine befriedigende Sicherungsleistungen erzielen. In der GRV würden kaum wesentliche Änderungen wie die Stabilisierung oder Anhebung des Rentenniveaus vorgenommen, allenfalls begrenzte Verbesserungen.

Ein kohärenteres Zusammenspiel könnte sich aus einer Fortentwicklung des Zwei-Säulen-Modells ergeben: Dies könnte den Umbau (oder die inkrementelle Fortentwicklung) der GRV zu einer Einwohnersicherung mit einem armutsfesten Minimum-Zahlbetrag beinhalten. Das Äquivalenzprinzip könnte hier noch in einem Korridor oberhalb des Minimums verwirklicht werden, wobei insbesondere Familienzeiten honoriert werden könnten. Die Hauptlast der Lebensstandardsicherung für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer oberhalb dieses Minimums würde bei der bAV liegen. Dieses Modell wäre deutlich unempfindlicher gegenüber einer zunehmenden Heterogenität an Lebensläufen als das aktuelle System. Es könnte, wenn auch weiterhin der oben skizzierte sozialpolitische »Plan A« nicht zu verwirklichen ist, der »Plan B« sein, mit dem aber aufgrund des Ausbaus der Kapitaldeckung auch handfeste Risiken verbunden sind.

Anzumerken ist, dass auch eine Rückkehr zur lebensstandardsichernden und armutsfesten GRV sich mit einer Stärkung der bAV verbinden ließe: Als »Lebensstandardsicherung Plus« mit Leistungen der bAV zusätzlich zur GRV oder aber – ähnlich den berufsständischen Versorgungswerken – als Wahloption für einen Anteil des versicherungspflichtigen Einkommens in der Nähe der Beitragsbemessungsgrenze.


Zur Rolle von Sozialstaat und Tarifparteien

Die Option des unkoordinierten Nebeneinanders beinhaltet eine Schwerpunktverlagerung von der dritten zu zweiten Säule, aber keine Stärkung öffentlicher Verantwortung. Für die Tarifparteien bedeutet sie den Auftrag, ihre bisherige Politik fortzuführen und eventuell zu intensivieren. Dagegen bedeutet die Fortentwicklung des Zwei-Säulen-Modells eine neue Interpretation der öffentlichen Verantwortung wie auch der Rolle der Tarifparteien, sie würde letztlich einem Paradigmenwechsel von der äquivalenzbasierten GRV zu einem Grundrentenmodell gleichkommen. Für die Tarifparteien bedeutet die zweite Variante die Übernahme von Verantwortung für eine neu definierte bAV, die die Aufgabe der Lebensstandardsicherung für Beschäftigte oberhalb der Grundrenten hätte.

In allen Fällen kommt es zu einem Rückbau individueller Verantwortung für die Alterssicherung, wenngleich natürlich die bAV durch Entgeltumwandlung Elemente individueller Planung im tariflichen Rahmen beinhaltet. Der Ausbau der bAV bedeutet auch den Ausbau des von Arbeitgebern oder Tarifparteien verwalteten Vorsorgekapitals. Das wirft Fragen nach Kapitalmarktrisiken und nach den volkswirtschaftlichen Konsequenzen solcher Kapitalansammlungen auf sowie die Frage nach adäquaten Anlagemechanismen (durch gemeinnützige oder öffentliche Einrichtungen oder kommerzielle Akteure) und -formen (sozial und ökologisch verträgliches Investment). Grundsätzlich ist auch zu prüfen, wie die Kapitalverwaltung transparent und unter demokratischer Kontrolle stattfinden kann. In allen Fällen läge die Möglichkeit zu einer Herstellung der Beitragsparität in der Alterssicherung in der Hand der Tarifparteien.

Als Risiko eines Ausbaus der bAV ist schließlich auf die Möglichkeit einer Verdrängung der GRV durch die bAV hinzuweisen: Ein Abwandern der Aufgabe der Lebensstandardsicherung insbesondere für gut verdienende Beschäftige könnte eine geschwächte wie auch eine weiterentwickelte, verstärkt an sozialen Kriterien orientierte GRV ständig unter Druck setzen. Dies gilt auch, wenn bei einer gestärkten GRV eine Wahloption für bestimmte Einkommensbestandteile eingeräumt würde.


Zum Schluss

Das so genannte Drei-Säulen-Modell der Alterssicherung ist in der Gesellschaft nie im Sinne der Erfinder angenommen worden und scheint zudem derzeit politisch an Bedeutung zu verlieren. Die Pläne der Großen Koalition zielen derzeit auf eine Reform der GRV – allerdings bei Weitem nicht so grundlegend wie von vielen Kritikern der Reformen 2001ff. gefordert – und eine Stärkung der bAV. Ein konsistentes Gesamtssystem der Alterssicherung existiert derzeit nicht und ein stimmiges System aus zwei Säulen lässt sich zwar abstrakt formulieren, scheint aber derzeit im politischen Raum nicht diskutiert zu werden.

Konsistente und sozialpolitisch sinnvolle Modelle des Alterssicherungssystems lassen sich offensichtlich derzeit nur unter Annahme eines Bruchs in der Politik vorstellen: Als Bruch mit der bisherigen Politik der Schwächung der GRV oder als Bruch mit den geschwächten, aber noch vorhandenen Grundprinzipien der GRV, als Experiment mit ungewissem Ausgang. Sozialpolitisch wünschenswert ist eine GRV mit starken Elementen des sozialen Ausgleichs, durch die auch Phasen der Nicht-Erwerbsarbeit innerhalb der Logik der GRV honoriert werden. Als »Plan B« wäre eine Alterssicherung zu diskutieren, die auf dem Prinzip des Einwohnerrechts basiert und das Ziel des Statuserhalts an die Tarifparteien auslagert.

Florian Blank ist Wissenschaftler am Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung.

[1] Rentenversicherungsbericht der Bundesregierung 2013, S. 40.
[2] S. hierzu Trischler, Falko: Auswirkungen diskontinuierlicher Erwerbsbio­grafien auf die Rentenanwartschaften, in: WSI-Mitteilungen 65 (4): 253- 261. Die aktuelle Forschung ist zusammengefasst bei: Blank, Florian/Schulze-Buschoff, Karin: Arbeit, Leistungsgerechtigkeit und Alterssicherung im deutschen Wohlfahrtsstaat, in WSI-Mitteilungen 5/2013, 313-320.
[3] TNS Infratest: Situation und Entwicklung der betrieblichen Altersversorgung in Privatwirtschaft und öffentlichem Dienst (BAV 2011). Endbericht, München 2012 (= Bundesministerium für Arbeit und Soziales Forschungsbericht 429), S. 19-23.
[4] Die aktuelle Forschung zur bAV wird zusammengefasst bei: Blank, Florian/Wiececk, Sabrina, Die betriebliche Altersversorgung, WSI-Diskussionspapiere Nr. 181, September 2012
Ihre Verbreitung, ihre Finanzierung, ihre Leistungen und Reformbedarfe, in: Soziale Sicherheit 6/2013, S. 205-213.
[5] http://www.bmas.de/DE/Themen/Rente/Zusaetzliche-Altersvorsorge/statistik-zusaetzliche-altersvorsorge.html
[6] Gerber, Ulrike: Staatliche Förderung der Riesterrente 2009, Wiesbaden 2013, S. 12.
[7] TNS  Infratest  Sozialforschung: Verbreitung  der  Altersvorsorge  2011. Endbericht,  München  2012  (veröffentlicht vom  Bundesministerium  für  Arbeit  und Soziales als Forschungsbericht 430), S. 37.
[8] Jessoula, Matteo/Hinrichs, Karl: Flexible Today, Secure Tomorrow? in: Hinrichs, Karl/Jessoula, Matteo (Hrsg.): Labour Market Flexibility and Pension Reforms, Flexible Today, Secure Tomorrow, Houndmills, Basingstoke, S. 233-250, hier S. 239.
[9] Laut Süddeutscher Zeitung vom 19.2.2014 (S. 24) hat Ministerin Nahles bereits angekündigt, die »Riester-Rente« »verbraucherfreundlicher« zu machen. »Die Ministerin sieht es daher als ihre Aufgabe an, die Riester-Rente, die im Prinzip eine gute Idee sei, ›zu retten‹.«

Zurück