1. Mai 2002 Arno Klönne
Empire und Empirie
Der vom Präsidenten der USA angekündigte und mit dem Krieg in Afghanistan begonnene »Jahrhundertkrieg gegen den Terrorismus« hat in der deutschen politischen Öffentlichkeit, soweit sie intellektuelle Ambitionen hat, bemerkenswerte Reaktionen erzeugt, und zwar insbesondere in einem Sektor der veröffentlichten Meinung, in dem große und kleine Opinionleader mit linker oder grün-alternativer Herkunft tätig sind.
Ziemlich schwach vertreten war und ist eine Kritik an der internationalen kriegerischen Politik der US-amerikanischen Politikadministration, die sich von antimilitaristischen und antiimperalistischen Argumenten – um das Spektrum etwas pauschal zu kennzeichnen – leiten lässt. Solche Betrachtungsweisen gelten überwiegend als »altbacken« und damit »überholt«, was dann eine Prüfung in der Sache als überflüssig erscheinen lässt. Die politische Diskussionskultur wird damit zu einem Markt für Luxusartikel; wer beim Angebot attraktiv sein will, muss modische Novitäten bringen. Unter diesen tritt besonders ein Deutungsmuster der weltpolitischen Konfliktlage hervor, wonach allein die globalen »militärischen Fähigkeiten« der Vereinigten Staaten imstande seien, einen Prozess weltweiter zivilisatorischer Modernisierung zu sichern und vor dem Abrutschen in vorbürgerliche, nicht »aufgeklärte« gesellschaftliche Zustände zu schützen. Wer so argumentiert, muss deshalb auf Einwände im Detail oder auf Warnungen vor »abenteuerlichen Überreaktionen« nicht verzichten; entscheidend ist die Anerkennung einer »progressiven« Leitfunktion der US-amerikanischen Globalpolitik mit einer Begründung, die ideologische Anschlüsse bietet an eigene, früher vertretene politische Weltbilder. So lässt sich biographische Kontinuität behaupten, zugleich aber »Lernbereitschaft« nachweisen, die wiederum den Vorzug hat, Zugänge zum Medien- und Politikgeschäft offenzuhalten, jedenfalls zu den darin dominierenden Trends. In einer extremen Variante findet sich das erwähnte Deutungsmuster dort, wo kriegerische Unternehmungen der US-Regierung oder ihrer ausländischen Bündnispartner mit dem Argument gerechtfertigt werden, nur so das eine oder das andere »neue Auschwitz« zu verhindern, oder auch: Wer an den Entscheidungen der Bush-Administration herummäkele, versündige sich an den Befreiern Deutschlands vom Nationalsozialismus. Das diskurspolitische Spektrum, auf das hier hingewiesen wird, hat bei aller Vielgestaltigkeit einen gemeinsamen Kern: Imperialismus wird als ein Phänomen der Vergangenheit dargestellt, und so wird auch die Frage überflüssig, ob möglicherweise der kapitalistischen Gesellschaftsstruktur Antriebe zu imperialistischer Politik innewohnen.
An der kapitalismuskritischen Perspektive hält hingegen eine andere Diskursrichtung fest, die ebenfalls linker oder grün-alternativer Herkunft ist und aktuell, wenn auch als Minderheit, einige Bedeutung gewinnt. Hier wird unter Berufung auf Michael Hardt und Antonio Negri und deren Beschreibung des »Empire« das Zeitalter des Imperialismus als abgelöst betrachtet durch die Ära eines weltweit herrschenden Marktes, der Macht »von innen her« ausübt und in dem imperiale Interessen einzelner Nationen keine Bedeutung mehr haben, in dem es auch kein Machtzentrum mehr gibt, höchstens einen Vorrang der US-Gesellschaft. Insgesamt ist für jenen Diskurs, der die Kategorie »Imperialismus« als für die Analyse der Gegenwartspolitik nicht mehr tauglich ansieht, die Behauptung kennzeichnend, man sei damit »in der Realität angekommen«; anders als bei den Hardt / Negri-Fans wird bei den Bewunderern der »zivilisatorischen Mission« der Weltpolitik der USA das Selbstverständnis, die Dinge »realitätsgerecht« zu sehen und »realistische Politik« zu machen, auch dazu genutzt, Bedenkenträger und Zweifler im eigenen Terrain mundtot zu machen.
Seltsamerweise agieren aber die »Realisten« linker oder grün-alternativer Herkunft beim gedanklichen Umgang mit dem »Jahrhundertkrieg« ganz überwiegend in einem Wertehimmel, d.h. sie interpretieren und beurteilen politisches und militärisches Handeln so, als sei dort ein Konflikt zwischen Weltanschauungen im Gange, dessen Ablauf wiederum nur weltanschauliche Folgen habe. Bei vielen feinsinnigen Überlegungen zum »emanzipatorischen« Ziel von Militärschlägen kommt die höllische Wirklichkeit eines Krieges erst gar nicht in den Blick.
Auf manchmal groteske Weise fehlt es bei diesem Diskurs an Empirie. Um dafür einige thematische Beispiele zu nennen: Äußerst vernachlässigt ist im Diskurs über Terrorismus (hier gemeint: der von »Nichtregierungs-Organisationen«) und dessen Abwehr, wie er hierzulande geführt wird, die systematische Verflechtung »privat«-terroristischer Netzwerke mit den Interessen und Operationen von Staatsapparaten, insbesondere solchen der USA. Dies betrifft die Hilfe bei der Entstehung, die militärische Ausrüstung, die logistische Förderung, die Subventionierung und auch die propagandistische Legitimierung terroristischer Gruppierungen, in mehr oder weniger verdeckter Form, je nach deren Nützlichkeit für diese oder jene geopolitische Strategie. Der Zauberlehrlingseffekt wird dabei in Kauf genommen. Staatliche Geheimdienste in ihrer relativen Eigenständigkeit spielen bei solchen Konnexionen eine wichtige Rolle. Dieses Thema wird in der deutschen Publizistik am ehesten von rechtsextremen Autoren aufgegriffen, häufig in verschwörungstheoretischer Manier, nicht selten auch in antisemitischer Demagogie.
Antidemokratische und rassistische Deutungen belegen aber nicht unbedingt, dass die Problemlage, die sie verkehrend thematisieren, real nicht vorhanden ist. Demagogische Nutzung eines Themas hat zumeist gerade dann eine Chance, wenn sie Anknüpfungen an die Empirie hat – und wenn die analytisch-kritische Auseinandersetzung im demokratischen Diskurs mit den entsprechenden Sachverhalten nicht riskiert wird. Zu untersuchen wäre also, in welcher Weise die operative Struktur staatlicher Globalpolitik, speziell jener der Vereinigten Staaten als einzig verbliebener Supermacht, organisierten »Privatterrorismus« nicht nur fallweise begünstigt, sondern regelhaft erzeugt.
Was die Vorgehensweise der US-Regierungspolitik im Afghanistankrieg angeht, so verblüfft am deutschen Diskurs, dass es hier ganz überwiegend versäumt wird, den aktuellen militärischen Zugriff im Zusammenhang größerer historisch-politischer Perspektiven zu betrachten. In den USA selbst ist das – unter Fachleuten – anders. Dort ist längst vor dem 11. September 2001 öffentlich darüber nachgedacht worden, welche Möglichkeiten einer konfliktbereiten, auch militärstrategischen Einflussnahme sich in der zentralasiatischen Region nach dem Untergang der Sowjetunion anbieten, und welche Rolle das afghanische Terrain dabei spielt, ebenso Transkaukasien. Bei diesen Überlegungen wurde und wird auch das ökonomische Interesse an einer Neuverteilung von Räumen und Ressourcen nicht verschwiegen.
Im deutschen Diskurs wird, öffentlich zumindest, über derart profane Politikmotive nicht gern diskutiert; wer sie beschreibt, wird als »Linkstraditionalist« abqualifiziert, so als seien Öl- und Erdgasvorräte oder Pipelines Phantasiegebilde altmarxistischer Literatur. Nur höchst genierlich erwähnt der deutsche Diskurs einen Tatbestand, der in US-amerikanischen Zeitungen und Zeitschriften offen und mit hoher Gewichtung dargelegt wird: Die Vereinigten Staaten sind dabei, die Architektur internationaler Politik so zu verändern, dass ihre ökonomische und militärische Hegemonie in der methodischen Umsetzung keiner Beschränkung, keiner korrigierenden Macht und keinem Veto mehr unterliegt. Dies schließt die Kompetenz ein, sich über die Souveränitätsrechte anderer Nationen hinwegzusetzen, auch die Definitionsherrschaft, Staaten oder Organisationen als terroristische Gefahrenherde zu etikettieren und kriegerisch »stillzulegen«, gegebenenfalls auch präventiv. Verändert wird damit auch die Funktion der Vereinten Nationen, ebenso die der NATO. Herkömmliche völkerrechtliche Anforderungen werden im Zuge der weltarchitektonischen Neuordnung obsolet.
Bei uns wird die Problematik, die in alledem steckt, in der Begrifflichkeit »amerikanischer Unilateralismus oder Multilateralismus« diskutiert – eine die Realität nicht nur schönredende, sondern auch verfälschende Kategorisierung. Wer in Deutschland vom Imperialismus US-amerikanischer Regierungspolitik spricht, gerät in den Verdacht, verfassungsfeindlichen und moslemistischen Bestrebungen zu folgen. In den Vereinigten Staaten selbst, und zwar bei Befürwortern der Politik der Bush-Administration, kommt die Neigung auf, den Begriff Imperialismus positiv für die eigene Globalstrategie in Anspruch zu nehmen, im Sinne eines postmodernen Kolonialismus, den der hegemoniale amerikanische Staat überall dort praktizieren müsse, wo der Prozess der kapitalistischen Globalisierung soziales Chaos, »gescheiterte Staatlichkeit« oder Widerstand hervorrufe. In den Denkfabriken der herrschenden US-amerikanischen Politik ist man klug genug, zu wissen, dass ein solcher neuer Kolonialismus nicht als überall befriedende und stets ordnende Durchdringung der Armutssektoren der Weltgesellschaft durch ein Herrenregime praktikabel ist. Eben deshalb wird affirmativ jene Fähigkeit hervorgehoben, die gesellschaftsgeschichtlich das Charakteristikum imperialistischer Politk war: mit überlegener Macht militärisch einzugreifen, Krisen kriegerisch zu lösen, und zwar aus der Souveränität eines Machtzentrums heraus. Es liegt nahe, dass eben darin auch die Chance gesehen wird, die Dominanz des US-amerikanischen Standortes im weltweiten Finanzmarkt abzusichern. Selbstverständlich liegt in einer solchen Ausformung imperialistischer Politik nicht der Ehrgeiz, im altkolonialen Stil den Vereinigten Staaten weitere Territorien einzuverleiben. Aber es ist auch nicht so, als stelle die Machtelite der USA sich lediglich einem eigengesetzlichen Weltmarkt zum Zwecke des Ordnungsdienstes zur Verfügung. Imperialismus heute, im Sinne globaler Herrschaft der USA, so beschreiben es auch systemkonforme Politikberater in den Vereinigten Staaten, ist ein in sich flexibler Komplex von weltweiter Machtausübung im Finanzmarkt (auch mit Hilfe von Institutionen wie der Weltbank, dem Internationalen Währungsfonds etc.), normativer Eingriffsfähigkeit in das Wirtschaftsleben der einzelnen Nationen, strategischer Bündnisse transnational agierender Konzerne (die auf die Schlagkraft des US-Militärs angewiesen sind), geheimdienstlicher Steuerung – und eben der eigenmächtigen Fähigkeit der Vereinigten Staaten, kriegerisch zu intervenieren, wann immer und wo immer dies auf den Schlachtfeldern der Globalisierung vom eigenen Interesse her erforderlich scheint. In einem solchen Komplex spielen, was die politische Sphäre angeht, Statthalterregimes ihre Rolle, auch halbselbständige Partner minderen Ranges, und die Macht der USA hat zwar gegenwärtig weltweit keine gleichgewichtigen Konkurrenten, aber es bestehen Staaten, die nicht die Absicht haben, die USA als imperiales Zentrum anzuerkennen, auch wenn sie deren ökonomischer und militärischer Vormacht zur Zeit nicht Paroli bieten können. Die Politikstrategen in den USA sind sich durchaus im Klaren über den Konfliktstoff, der darin liegt, auch darüber, dass er weitaus schwerer wiegt als die »privat«-terroristischen Gefahren. Aus alledem lässt sich schließen: Das Zeitalter des Imperialismus ist nicht vorbei.
Zum Diskurs über Weltpolitik in der deutschen Öffentlichkeit sei noch angemerkt: Dass Globalisierung nicht das Ende imperialer Interessen und imperialistischer Strategien bedeutet, nimmt hier die Neue Rechte sehr wohl zur Kenntnis, und sie zieht daraus ihre nationalen oder nationaleuropäischen Schlüsse, die sich auf die Formel bringen lassen: Bei hinreichender »Wehrkraft« besteht auch für ein Statthaltersystem die Chance, im imperialen Machtgerangel eine eigene Herrschaftsposition zu gewinnen. Auf Deutschland bezogen ist dann die derzeitige »Unterrüstung« der Nation zu beklagen, ein rüstungsindustrieller, rüstungstechnologischer und militärpolitischer Aufschwung zu fordern, damit endlich wieder »deutsche Souveränität« ausgeübt werden könne; zu deren »unverzichtbaren Attributen« gehöre das »ius belli«. Wer sich einer solchen deutschen Ambition verweigere, lasse sich auf »die mentale Transformation Deutschlands zu einer kantonalen Konföderation« ein, und dies sei »als Anfang vom finis germaniae« um jeden Preis zu vermeiden. Der Unternehmensberater und Wirtschaftsdozent Markus C. Kerber schreibt dies, verblüffenderweise aber nicht in einem Periodikum der Neuen Rechten, sondern in den »Gewerkschaftlichen Monatsheften« (Ausgabe 2-3/2002).
Arno Klönne war Hochschullehrer in Paderborn.