1. Mai 2000 Michael Schlecht

Ende beschäftigungsorientierter Tarifpolitik?

Mit den Abschlüssen im Bereich der IG BCE und der IG Metall ist die Tarifrunde 2000 im Grundsatz entschieden. Die Marken, die hier gesetzt wurden, werden auch die noch ausstehenden Tarifabschlüsse, zumindest was das verteilungspolitische Volumen betrifft, maßgeblich mitbestimmen.

Unstrittig sind die Verbesserungen der Altersteilzeitregelungen in den Tarifbereichen der IG BCE und der IG Metall ein Fortschritt. Insbesondere ist es im Metallbereich erstmals gelungen, einen individuellen Rechtsanspruch auf Altersteilzeit zu erzielen, auch wenn dieser eingeschränkter ist als in den Tarifbereichen der IG BCE. Eine Verbesserung ist auch der Einstieg in die Ausgleichszahlungen für die Rentenminderung bei einem Renteneintritt vor dem 65. Lebensjahr.

Allerdings werden diese Tarifabschlüsse nur einen geringen Beitrag zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit leisten. Da keine Pflicht zu Wiederbesetzung für die Unternehmer besteht, dürfte das Ziel, wonach 142.000 ältere Metaller ihren Arbeitsplatz für Jüngere frei machen sollten, kaum erreichbar sein. Da die materielle Ausgestaltung bescheiden ist, werden viele ältere Beschäftigte von der tariflichen Altersteilzeitregelung keinen Gebrauch machen. Ein erheblicher Teil der Beschäftigten wird bis über die 60 hinaus, wenn nicht sogar bis zur Altersgrenze mit 65 Jahren arbeiten müssen. Damit werden Neueinstellungen von Jüngeren erschwert.

Zur Erinnerung: Im Spätsommer 1998 ist von Walter Riester, der damals noch im Vorstand der IG Metall für Tarifpolitik zuständig war, verstärkt darauf hingewiesen worden, dass die Verlängerung der Lebensarbeitszeit gekoppelt mit dem Verbauen der Frühverrentungsmodelle ein zusätzliches Arbeitsvolumen schafft, das alle Erfolge der 35-Stunden-Woche in der Zeit von 1984 bis 1996 zunichte macht. Deshalb war Riester damals auch der Initiator von Überlegungen, wie die Gewerkschaften tarifpolitisch neue Wege zur Frühverrentung als beschäftigungspolitisches Instrument schaffen könnten. Dies wurde dann weitergeführt in der Forderung nach »Rente mit 60« und der »Beschäftigungsbrücke«.

Es gab damals bereits Auseinandersetzungen über die Frage, ob Gewerkschaften mit ihrer Tarifpolitik Verantwortung für ein Versagen der Politik bzw. Verschlechterung durch die Politik übernehmen sollten. Vielen erschien es viel angemessener, gewerkschaftlichen Druck auf die politischen Kräfte zu organisieren und das Problem des Renteneintritts da zu lösen, wo es schon immer hingehört hat: in die gesetzliche Rentenversicherung! Vor allem im Wahlkampfjahr 1998 hätten für derartige Kampagnen Anknüpfungspunkte bestanden.

Dies alles wurde nicht aufgegriffen. Im Ergebnis der bisherigen Tarifabschlüsse zeigt sich deutlich: Die Warnungen, dass die Tarifpolitik mit der Frage des Rentenbeginns total überfordert ist, wurden bestätigt. Tarifpolitisch war und ist das Problem nicht zu lösen, trotz aller Verbesserungen der Altersteilzeitregelungen.

Gemessen am Ausgangspunkt von 1998 ist das Ziel bei weitem nicht erreicht worden. Und der Preis für die jetzt erzielte Altersteilzeit ist hoch: die faktische Verabschiedung der Gewerkschaften von einer beschäftigungsorientierten Tarifpolitik für mindestens zwei bis drei Jahre.

Mit einer Lohnerhöhung von 3% im Jahr 2000 und von 2,1% im Jahr 2001 wird der Verteilungsspielraum bei weitem nicht ausgeschöpft, der für 2000 mindestens mit 5% zu veranschlagen ist. So leistet Tarifpolitik selbst einen Beitrag zur immer wieder angeprangerten Umverteilung von unten nach oben. Für 2001 ist zu befürchten, dass der Abschluss sogar zu einem Reallohnverlust führt, denn in Anbetracht der Tendenz steigender Inflationsraten kann der Kaufkraftverlust 2001 höher ausfallen als die Einkommenssteigerung von 2,1%.

Darüber hinaus erhält die schwache Binnennachfrage keine zusätzlichen Impulse. Die zur Zeit positiven wirtschaftlichen Perspektiven werden weiterhin vorrangig durch eine boomende Exportnachfrage gestützt. Das Risiko, dass sich dies nicht fortsetzt, ist hoch. Im Frühjahrsgutachten der Wirtschaftsforschungsinstitute wird von einer Abkühlung der US-Konjunktur ausgegangen. Das Wirtschaftswachstum in den USA werde sich von 4,4% in diesem Jahr auf unter 3% in 2001 verringern. Sollte es noch zu einem weiteren Rückgang der Steigerungsraten kommen, würde dies die Bundesrepublik und die gesamte Eurozone relativ unvorbereitet treffen. Das Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW) hat in seiner jüngsten Konjunkturanalyse die Folgen einer derartigen Entwicklung für die Bundesrepublik durchgerechnet. Sollte das US-Bruttoinlandsprodukt 2001 stagnieren, würde das deutsche Bruttoinlandsprodukt nicht um erwartete 2,8% anwachsen, sondern nur um 1,4%. Dies würde negative Arbeitsplatzeffekte nach sich ziehen, denn die Produktivitätssteigerungen werden auch 2001 bei mindestens 3% liegen.

In der Fortsetzung moderater Lohnpolitik zeigt sich ein strukturelles Problem. Auch in Phasen der konjunkturellen Besserung haben wir in vielen Wirtschaftsbereichen einerseits Betriebe, aus denen die Unternehmen die Profite säckeweise abtransportieren, andererseits sind viele im Konkurrenzkampf um Marktanteile auf der Verliererseite. Beschäftigte in diesen Betrieben haben erhebliche Angst um ihren Arbeitsplatz und sind eher bereit, bei Einkommenserhöhungen zurückzustehen, in der vagen Hoffnung, damit etwas für die Sicherung ihres Arbeitsplatzes beizutragen. Es kommt hinzu die weiter bestehende Tendenz zur Tarifflucht. Die Androhung des Verbandsaustritts bei zu kostenträchtigen Tarifabschlüssen wirkt mittlerweile für einige Gewerkschafter einschüchternder als die Androhung von Aussperrung.

Mit den zu niedrigen Einkommenserhöhungen wird die ohnehin schon hohe Wettbewerbsfähigkeit der bundesdeutschen Wirtschaft weiter gesteigert. In 2000 dürfte so ein ohnehin zu erwartender neuer Rekord im Außenhandelsüberschuss nochmals gesteigert werden. Die einkommenspolitischen Handlungsspielräume für die anderen europäischen Gewerkschaften werden damit beschnitten. In diesem Zusammenhang muss daran erinnert werden, dass sich die deutschen Gewerkschaften im letzten September im Rahmen der Doorn-Initiative und die IG Metall im Rahmen des EMB für ein Ausschöpfen des neutralen Verteilungsspielraumes (Produktivität + Preissteigerungsrate) stark gemacht hatten.

Mit dem IG Metall-Abschluss ist die Regelung der Wochenarbeitszeit – die 35-Stunden-Woche – bis zum 30. April 2003 festgeschrieben worden. Da die Metaller immer das Zugpferd bei der Verkürzung der Wochenarbeitszeit waren, ist klar, dass weder bei ihnen noch in anderen Tarifbereichen ein Unterschreiten der 35-Stunden-Grenze möglich wird. Auch in den Wirtschaftsbereichen, die heute noch bei 38 oder 39 Stunden pro Woche liegen, dürfte die Absenkung der Wochenarbeitszeit auf die 35 erschwert sein. Ebenso hat dies Auswirkungen für ausländische Gewerkschaften. Die Bedingungen, in Ländern mit niedrigerer Produktivität eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit – z.B. wird in Portugal heute noch 40 Stunden pro Woche gearbeitet – zu erreichen, sind damit erheblich erschwert, wenn nicht verunmöglicht. Man erinnert sich: Als 1990 die 35-Stunden-Woche vereinbart wurde – mit der endgültigen Einführung in 1996 –, wurde u.a. bemängelt, dass die Aufkündigung der 35 erst im Jahre 1998 möglich sei. 1998 wurde dann allerdings die Möglichkeit für eine weitere Verkürzung nicht genutzt, sondern im Zuge der Vereinbarung über eine Altersteilzeitregelung – damals allerdings ohne Rechtsanspruch – die Wochenarbeitszeit bis Ende 2000 festgeschrieben. Damals erschien dieser Schritt auch insofern sinnvoll, als eine breite Mobilisierung für eine Verkürzung unter die 35-Stunden-Woche nicht vorstellbar war. Allerdings sollten in einer langfristigen Mobilisierungskampagne die Voraussetzungen geschaffen werden, dass im Jahr 2001 mit einer weiteren Verkürzung unter die 35 ein kräftiger Beitrag zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit geleistet werde. Es wurde eigens hierfür unter Beteiligung mehrerer Gewerkschaften und der Kirchen ein Projekt ins Leben gerufen, dass sich an dieser Mobilisierung beteiligen sollte. Die neuerliche Verschiebung der Kündigungsmöglichkeit der Wochenarbeitszeitverkürzung ist wechselseitig gekoppelt mit der Kündigung der Altersteilzeitregelung. Also: Wenn ein Vertragspartner die Altersteilzeit aufkündigt, muss er gleichzeitig auch die Wochenarbeitszeit aufkündigen. Wenn die Wochenarbeitszeit gekündigt wird, ist automatisch auch die Altersteilzeit aufgekündigt. Außerdem wird auch die Regelung zur Übernahme von Auszubildenden für ein Jahr aufgekündigt. Die politische Konstellation zur Mobilisierung für weitere Arbeitszeitverkürzung wird damit außerordentlich kompliziert. Es besteht die Gefahr, dass damit eine tarifpolitische Blockade weiterer Wochenarbeitszeitverkürzung weit über das Jahr 2003 hinausragen wird.

Damit endet die diesjährige Tarifrunde mit einer vorläufigen Verabschiedung von beschäftigungspolitischen Impulsen durch die Tarifpolitik. Weder in der Frage der Stärkung der Binnennachfrage, noch bei der Verkürzung der Wochenarbeitszeit wird es Fortschritte geben. Ein Problem darf dabei allerdings nicht übersehen werden: Diese Politik hat mittlerweile eine breite Verankerung in der Mitgliedschaft. Der Abschluss in NRW ist in der dortigen Tarifkommission einstimmig getragen worden. Faktisch hat die Tarifpolitik ihre gesellschaftspolitischen Ansprüche aufgegeben. Letztlich sind die bisherigen Ergebnisse ein Akzeptieren der neokonservativen Grundpositionen der Arbeitgeberseite, die auf eine Stärkung der Angebotsseite setzen. Die Logik des Bündnisses für Arbeit und Wettbewerbsfähigkeit hat damit voll durchgeschlagen; man sollte in Zukunft besser nur noch vom Bündnis für Wettbewerbsfähigkeit sprechen.

Michael Schlecht ist Gewerkschaftssekretär beim Hauptvorstand der IG Medien, Stuttgart.

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