30. Juni 2022 Guido Liguori

Enrico Berlinguer und der Sozialismus des 21. Jahrhunderts

Enrico Berlinguer, von 1972 bis 1984 Sekretär der Kommunistischen Partei Italiens (PCI), ist seit Langem für zwei weitreichende politische Initiativen bekannt, die er in den 1970er Jahren einführte: auf innenpolitischer Ebene den compromesso storico (den historischen Kompromiss) und auf internationaler Ebene den Eurokommunismus. Am 25. Mai feierten wir seinen 100. Geburtstag.

Der erste Kompromiss war der Vorschlag einer Vereinbarung zwischen den großen Parteien Italiens – der kommunistischen, der sozialistischen und der christdemokratischen Partei (DC) – zur Reform des Landes aus dem Jahr 1973. Er entstand nach dem Staatsstreich gegen die sozialistisch-kommunistische Regierung von Salvador Allende in Chile und Jahre zuvor aus der »Strategie der Spannung« als Antwort auf die große Periode der Kämpfe von 1968–1969 – das heißt, er entstand aus der Überzeugung, dass in einer Gesellschaft wie der italienischen, die historisch vom Faschismus geprägt ist und die einer von den Vereinigten Staaten auferlegten »begrenzten Souveränität« unterliegt, 51% nicht ausreichen würden, damit die Linke regieren und sich durchsetzen kann. Es war eine Wiederbelebung von Palmiro Togliattis Nachkriegsstrategie der Regierungen der nationalen Einheit, um den Faschismus zu besiegen und das Land wiederaufzubauen. Doch fast drei Jahrzehnte lang war dies vergeblich gewesen, denn die DC war zu einer Partei des politischen Klientelismus, der Klientelpolitik und der Korruption geworden – abgesehen davon, dass sie ein Ort des anhaltenden Antikommunismus war.

Und während Berlinguers Strategie in den mittleren Schichten und in bedeutenden Teilen der katholischen Wähler*innenschaft auf Zustimmung stieß, missfiel sein Vorschlag sowohl den Kräften der radikalen Linken – die in der DC nicht zu Unrecht die politische Basis der Macht der italienischen Bourgeoisie sahen – als auch den Sozialisten, die befürchteten, ihre verbliebene politische Relevanz zu verlieren, wenn sie zwischen den beiden anderen Parteien eingezwängt würden, deren Wähler*innenbasis wesentlich größer war.

Der compromesso storico stieß auf breite Zustimmung, scheiterte aber letztlich an der volksfeindlichen Politik der beiden Regierungen der »nationalen Solidarität« von 1976–1979, die von dem rechten Christdemokraten Giulio Andreotti geführt und unvorsichtigerweise von der PCI unterstützt wurden, ohne dass letzterer eine volle Beteiligung am Kabinett zugestanden wurde.


Guido Liguori
lehrt Geschichte des politischen Denkens an der Universität von Kalabrien und ist Präsident der Internationalen Gramsci-Gesellschaft. Den Beitrag entnahmen wir mit freundlicher Genehmigung der Website von transform europe, der dort am 24. Mai 2022 erschien.

Die komplette Leseprobe als pdf-Datei!

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