1. Juni 2009 Dieter Knauß

Es geht um mehr!

Der Kampf gegen die Wirtschaftskrise im Rahmen eines sozialen Europas mobilisierte am 16. Mai 100.000 Menschen in Berlin. In Brüssel, Prag und Madrid gingen weitere 230.000 auf die Straßen. Das sollte als ein Hinweis verstanden werden, Belegschaften und Gewerkschaften in der Krise nicht durch betriebliche und nationale Standortstrategien auseinanderdividieren zu lassen.

Und ein Hinweis darauf, Antikrisenpolitik massiv auszuweiten. In Spanien ist die Arbeitslosigkeit bereits auf über 17% gestiegen. Hierzulande kommt es in den kommenden Monaten darauf an, einen möglichen beschäftigungspolitischen Kahlschlag zu verhindern. Mit der Ausweitung der Kurzarbeit auf jetzt 24 Monate ist es dabei nicht getan.

"Eine Region steht auf"

In Baden-Württemberg waren die Aktionstage für ein Soziales Europa eingebettet in 20 Kundgebungen der IG Metall mit über 33.000 Teilnehmern. Allein in der Region Stuttgart demonstrierten am 13. Mai über 18.000 unter dem Motto: "Eine Region steht auf: Beschäftigung statt Entlassungen!" Die Beteiligung war, gemessen an Tarifbewegungen, eher gering. Aber dabei ist – im Unterschied zur Berliner Kundgebung – zu bedenken: Die Baden-Württemberger Aktionen fanden vom 11.-15. Mai ausnahmslos an normalen Arbeitstagen statt. Das bedeutet: Im Unterschied zu einem tariflichen Warnstreik konnte die IG Metall nicht zur Teilnahme an einer Kundgebung während der Arbeitszeit aufrufen und die Beschäftigten nicht einfach den Arbeitsplatz verlassen. Dieses Manko wurde bewusst in Kauf genommen: In den Betrieben sollte die Diskussion und die Mobilisierung stattfinden. Die Politisierung und Aufklärung der betrieblichen Debatten ist entscheidend, wenn Kundgebungen kein einmaliges Ereignis bleiben sollen.

Eine lange Vorlaufzeit gab es nicht. Am 10. März war auf einer Bezirkskonferenz der IG Metall Baden-Württemberg beschlossen worden: "Wir werden überall dort, wo der Damm zu brechen droht und Entlassungen angekündigt werden, auch zu öffentlichen Kundgebungen aufrufen und den Widerstand gegen Entlassungen oder Nichtübernahme von Auszubildenden überbetrieblich in der Region organisieren." Zuvor hatten sich Betriebsräte auf einer IG Metall-Konferenz in der Region Stutt­gart eindeutig positioniert: "Die US-Immobilienkrise hat sich zu einer globalen Wirtschaftskrise ausgeweitet. Ein Zusammenbruch der Wirtschaft wurde durch Stützmaßnahmen, Bürgschaften und mögliche Verstaatlichungen verhindert. Bislang bürgt jeder Bundesbürger mit 6.000 Euro für die Finanzwelt, die Banken und deren Aktionäre. Das neoliberale Konzept ist gescheitert. Die Deregulierung der Finanz- und Arbeitsmärkte hat uns in die Krise geführt, daraus müssen Konsequenzen gezogen werden. Richtig sind Konjunkturprogramme, die lange Zeit verpönt waren. Ihre Wirkung zielt aber zu wenig auf die Binnenkaufkraft. Der Blick auf die Beschäftigten kommt zu kurz. Sie spüren die Krise als Entlassung von Leiharbeitern und Befristeten, als Abbau von Zeitkonten, in Form von Kurzarbeit und sie sind es, die vom Arbeitsplatzverlust bedroht werden." Die Forderungen lauten: keine Entlassungen, Fortführung der betrieblichen Berufsausbildung, Beschäftigungsperspektiven durch Übernahme nach Ausbildung und Studium, kurzfristige Ausweitung zusätzlicher Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen.

Diese beschäftigungspolitischen Forderungen sind eingebettet in die wirtschaftspolitische Forderung, Banken strikt zur Kreditversorgung der Realwirtschaft zu verpflichten: "Kein kaufmännisch vernünftiger Auftrag darf an der Vorfinanzierung scheitern. Kein gesunder Betrieb darf wegen aktueller Liquiditätsengpässe insolvent gehen… Das für die Region Stuttgart wichtige Kfz-Cluster muss erhalten werden. Dazu ist ein effektives Clustermanagement notwendig und als regionale Industriepolitik auszubauen. Die Einbeziehung der betroffenen Gewerkschaften und betrieblichen Interessenvertretern wird dabei als selbstverständlich unterstellt." Und mit Blick darauf, wer für die Krise zu zahlen hat und wie wirtschaftspolitische Steuerung zu erfolgen hat: "Keine Übernahme von Schulden durch den Staat ohne eine Übertragung von Eigentumstiteln. Dies schließt das Übertragen von 'faulen Krediten' an staatliche oder teilstaatliche Finanzinstitute (bad bank) aus. Wenn Hartz IV Empfänger heute ihre zur Zukunftssicherung geforderte Altersversorgung aufzehren müssen, um überhaupt unterstützt zu werden, dann darf Aktionären, Fondanteilsbesitzern und Spekulanten nicht mit Steuergeldern ihr Vermögen abgesichert werden. Wenn schon der Staat stützend eingreifen muss, dann nicht nur bei den Verlusten, sondern auch bei den noch bestehenden Vermögenswerten."

Wie Wirtschaftssteuerung kurzfristig auszubauen ist, hat die IG Metall der Region Stuttgart konkretisiert. Sie fordert die für die Betriebe zur Verfügung gestellten Gelder in einen Regionalfonds fließen zu lassen und von dort auf die Landkreise aufzuteilen. Auf Landkreisebene sollen drittelparitätisch besetzte Struktur- und Branchenräte die Verwendung zur Stabilisierung von Betrieben verantworten. Die Bemessung der Mittel wird am Rettungspaket für die Banken in Höhe von 480 Mrd. Euro angeknüpft. Auf jeden Bundesbürger entfallen dabei 6000 Euro. Ein Sechstel davon soll für den Regionalfonds zur Verfügung gestellt werden. Bei 2,7 Mio. Einwohnern macht das 2,7 Mrd. Euro zur Sicherung von Betrieben und Beschäftigung.

Die Krise im Ländle

Die Krise hatte, mitten in der Tarifbewegung 2008, das exportstarke Baden-Württemberg mit einer bis dahin unbekannten Wucht und Dimension erfasst und hält sie fest im Griff. Die Region Stuttgart hat das weltweit größte Automobilcluster. Anteile von 28% der Beschäftigten und 28% der Wertschöpfung, 38% des Exports und 40% der Wertschöpfung des Verarbeitenden Gewerbes von ganz Baden-Württemberg unterstreichen die ökonomische Bedeutung dieser Region.

Die Umsatzeinbrüche in Baden-Württemberg liegen im Durchschnitt bei 25 bis 30%; bei den Automobilzulieferern sind sie noch sehr viel höher und im Maschinen- und Anlagenbau sind die Auftragseingänge um bis zu 50% weggebrochen. Zwei Beispiele:

Bei Heidelberger Druck, dem weltweit größten Druckmaschinenhersteller, ist der Auftragseingang auf 41,5% gegenüber dem Vorjahr eingesackt. Da kurzfristig keine Aussicht auf Verbesserung besteht, steckt das Unternehmen in einem massiven Liquiditätsproblem. Rücklagen, dieses aufzufangen, wurden in den vergangenen Jahren u.a. durch Aktienrückkäufe aufgezehrt – Kommentar des Vorstands: "Der Druck des Kapitalmarktes auf die Unternehmen war enorm groß." Heidelberger Druck benötigt einen Kredit der staatlichen KfW-Bankengruppe über 300 Mio. Euro und eine staatliche Bürgschaft über mehr als 400 Mio. Euro – letzteres ist vom Lenkungsausschuss des Deutschlandfonds mittlerweile befürwortet worden. Das Restrukturierungskonzept des Vorstands sieht vor, dass in der Produktion jede fünfte Stelle, in der Verwaltung jede dritte bis vierte Stelle gestrichen wird. Den vor zwei Jahren abgeschlossenen Beschäftigungssicherungsvertrag hat der Konzern gekündigt.

Von der Automobilkrise hart betroffen ist der Maschinenbauer INDEX als Zulieferer für große Kfz-Zulieferer wie Bosch. Schlagartig brachen auch bei INDEX nicht nur erwartete Aufträge weg, es kam sogar zu einem negativen Auftragseingang, nachdem bestellte Maschinen storniert wurden. Eine mögliche Konventionalstrafe war für den Kunden günstiger, als sich eine nicht mehr benötigte Maschine in die Fabrik zu stellen und dafür hohe Kreditzinsen zu bezahlen. Mittlerweile werden gefährdete, strategisch in der Wertschöpfungskette aber für wichtig eingestufte Betriebe von den Automobilherstellern und großen Zulieferern am Leben gehalten. Auch wenn die Abwrackprämie für die "Edelmarken Audi, BMW, Daimler und Porsche"[1] weniger direkt wirksam ist, trägt sie dazu bei, dass die Zulieferkette nicht reißt und Unterstützungsmaßnahmen der Automobilisten weniger notwendig wurden.

Die Beispiele machen deutlich: Mit Kurzarbeit konnten die Folgen massiver Umsatzeinbrüche in der ersten Krisenphase noch bewältigt werden. Doch viele Betriebe stecken bereits in der zweiten Phase der Krise: Aus einer "betrieblichen Unterauslastungskrise" ist eine Liquiditätskrise geworden, wie z.B. bei den größeren Stiftungen, ZF, Bosch oder Mahle, die ggf. "auch gesunde Unternehmen sehr schnell in akute Insolvenzgefahr bringen kann."[2] Die Bankenfinanzierung erweist sich dabei zunehmend als prekär: auslaufende Kreditlinien werden nicht verlängert, Zinsen durch Risikoaufschläge erhöht, die Kreditversicherung verteuert und Investitionskredite verweigert. Deshalb die Forderung nach aktiver staatlicher Unternehmensfinanzierung mit entsprechender öffentlicher Eigentumssicherung, begleitet von einer tatkräftigen Industrie- und Strukturpolitik.

Schutzschirm für die Menschen

In der letzten stärkeren Krise in der Region Stuttgart 1992/93 lagen die kurz- und mittelfristigen Arbeitsplatzverluste im Fahrzeugbau bei 20% und im Maschinenbau bei 30%. Das führte im nachfolgenden Aufschwung zu einem regelrechten Run auf Fachkräfte. Diese Erfahrung, aber auch die hoch gesetzte Schwelle für Entlassungen, spielen für die bisherige Strategie der Beschäftigungssicherung durch Kurzarbeit eine wichtige Rolle. Doch diese Krise ist mit der von 1992/93 nicht vergleichbar, sie geht tiefer, dauert länger und wird umfängliche Marktbereinigungen bringen. Das lässt deutlich stärkere Auswirkungen auf die Arbeitsplätze und die industrielle Struktur der Region erwarten.

Umso notwendiger ist es, für die Beschäftigten Perspektiven aufzuzeigen und den Druck auf die Arbeitgeber und die Politik auszuweiten. Die Sicherung der Arbeitsplätze steht dabei eindeutig im Zentrum. Auch zur Verbesserung der Beschäftigungschancen der Jüngeren sind im Rahmen einer Beschäftigungsbrücke die Rücknahme der Rente mit 67, die vorgezogene Rente nach 40 Versicherungsjahren, die Wiedereinführung der Zuschüsse der Bundesanstalt für Arbeit für die Altersteilzeit und neue Vorruhestandsregelungen. Gleichzeitig geht es um ganz elementare Regelungen des Lebensalltags. So haben die IG Metall Verwaltungsstellen die Sparkassen und Volksbanken in der Region Stuttgart angeschrieben, um auf die Folgen der Kurzarbeit bzw. Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich aufmerksam zu machen. Bei einem Durchschnittsverdiener bedeutet dies monatlich 200-300 Euro weniger Nettoeinkommen. Besonders Alleinerziehende und Familien fällt es schwer, den regelmäßigen monatlichen Verbindlichkeiten nachzukommen. Für die Überziehung ihres Kontos haben sie dann noch mit hohen Zinsen zu rechnen. "Deshalb schlagen wir vor: Entgeltkonten für die Dauer der Wirksamkeit des Konjunkturpaketes II (maximal 18 Monate) um monatlich 300 Euro überziehen zu können. Als Nachweis für die Betroffenheit könnte der IG Metall-Ausweis und die Kurzarbeiter­bescheini­gung dienen. In der Summe wäre dies pro Arbeitnehmer max. 5.400 Euro. Dafür sollten diese dann 3% Zinsen, anstelle der normalen Überziehungszinsen bezahlen."

Dabei gilt es, auch die von Arbeitslosigkeit bereits Betroffenen einzubeziehen. Wichtige Forderungen sind dabei die Verlängerung der Bezugsdauer von ALG I, die Aufhebung der Zumutbarkeitsregelungen, die bei dieser Krise besonders unzumutbar und zynisch wirken, und die Erhöhung des ALG II auf ein wirklich existenzsicherndes Niveau. Ohne Mobilisierung aller Betroffenen und ohne deren Einbeziehung werden die gesellschaftlichen und politischen Kräfteverhältnisse spätestens nach der Bundestagswahl gegen uns definiert.

Kräfteverhältnisse ändern

Nach der Lektüre des Artikels von Karl Georg Zinns "Deutsche Autoliebe" könnte der Eindruck entstehen, dass es im Süden ein Völkchen gibt, das von den ökonomischen Wirkungszusammenhängen nichts kapiert hat und nur sein "heilix Blechle" schützen will.

Wenn man aber davon ausgeht, dass wir uns in einer "großen Krise"[2] befinden, dann müssen der Blickwinkel erweitert und einige Fragen gestellt werden. Wie groß ist der Einfluss verschiedener, gesellschaftspolitischer Organisationen? Welche Organisationen, außer den Gewerkschaften, sind in Deutschland in der Lage, große Massen zu mobilisieren und zielgerichtet in Handlungsmacht umzusetzen? Ob man die Orientierung der Gewerkschaften für ausreichend hält oder nicht, ob man kritisiert, dass sie aus ihrer Organisationsmacht nicht genug "Kapital" für die Beschäftigten herausgeschlagen haben: Wer, wenn nicht die Gewerkschaften in einem breiten Bündnis mit Gleichgesinnten, sind überhaupt in der Lage, wirksame Gegenmacht zu organisieren?

Folgt man Frank Deppe, dann werden in großen Krisen "die gesellschaftlichen und politischen Kräfteverhältnisse neu definiert. Was dabei als eine neue Herrschaftskonstellation herauskommt, ist jeweils Ergebnis harter sozialer und politischer Kämpfe zwischen Kapital und Arbeit, aber auch zwischen verschiedenen Kapitalfraktionen."[3]

Angesichts des offenen Ausgangs der Krise ist die Richtung, in die sich die gesellschaftlichen und politischen Kräfteverhältnisse entwickeln, noch nicht entschieden. Die Annahme, dass eine Gewerkschaft eher Menschen in Beschäftigung mobilisieren kann als Arbeitslose, dürfte unumstritten sein. Die zentrale Aufgabe von Gewerkschaften, die Konkurrenz der Lohnarbeit zu begrenzen, beinhaltet gleichwohl die Aufhebung der Spaltung zwischen (noch) Beschäftigten und (schon oder seit längerem) Arbeitslosen. Für jede Gewerkschaft ist nicht zuletzt die Kampfstärke von Bedeutung: Die ergibt sich erstens aus ihrer Vertretung in den Betrieben und zweitens durch ihre politische Mobilisierungsfähigkeit.

Ein Blick über den großen Teich lässt Ungutes erahnen. Mit der Zerschlagung der US-Autoindustrie wird ein wichtiger Bereich der organisierten, gewerkschaftlichen Basis zerstört. Hierzulande sind Gewerkschaften noch widerstandsfähig. Dabei spielen aber ihre Kraftzentren eine wichtige Rolle. Diese sind eng mit der Automobilindustrie verbunden. Wer die IG Metall im Kern treffen will, der setzt dort an, wie dies schon mit dem §146 SGB III (AFG § 116) getan wurde.

In der Krise geht es auch darum, dass diese Kraftzentren nicht implodieren. Denn aus der Asche der Automobilindustrie wird das Pflänzchen ökologische Erneuerung nicht wachsen. Deshalb setzt die IG Metall vor allem in den Kernregionen der Automobilindustrie darauf, Zeit zu gewinnen, um die Problemlagen zu sortieren und einer Industrie- und Branchenpolitik wieder als zentrales Politikfeld zum Durchbruch zu verhelfen.

Die politisch gesteuerte Debatte, dass Banken per se systemrelevant seien, produzierende Unternehmen wie z.B. Opel aber nicht, macht die Widerstände und das Verfangensein in Strukturen eines Finanzmarktkapitalismus deutlich. Zwischen der FDP-Position, dass "Wirtschaften eine Sache der Wirtschaft sei und Mitbestimmung dabei stört" und einer gesellschaftlichen, mitbestimmten Industrie- und Branchenpolitik sind fundmentale Differenzen. Die Auseinandersetzung vor Ort um die Verwendung von staatlichen Geldern kann eine breitere Debatte über den Sinn oder Unsinn von Subventionen fördern und ist notwendige Voraussetzung, um eine politisch nachhaltige Auseinandersetzung um die neue Herrschaftskonstellation führen zu können.

So gesehen kann die Region Stuttgart mit den wichtigen Branchen Automobil und Maschinenbau eine Art "Katalysator" werden.

Dieter Knauß ist 1. Bevollmächtigter der IG Metall Verwaltungsstelle Waiblingen und Sprecher der IG Metall Region Stuttgart.

[1] Karl Georg Zinn: Deutsche Autoliebe, in: Sozialismus 2/2009.
[2] Martin Schwarz-Kocher: Betriebliche Krisenauswirkungen und Handlungskonzepte für Betriebsräte. Vortrag auf der Beschäftigungspolitischen Konferenz der IG Metall Region Stuttgart am 19.2.2009.
[3] Frank Deppe beim Walter-Kuhn-Forum 2009.

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