25. Oktober 2012 Andreas Fisahn / Peter Wahl
Europa neu denken, nicht von oben oktroyieren
Das europäische Krisenmanagement verschlimmert das Desaster der EU. Ein Aufbruch ist nicht abzusehen. Dieser bedürfte der Einsicht in die Ursachen des Debakels und des Mutes, die Dogmen vom freien Markt als der besten aller Welten zu überwinden.
Und er bedürfte des Mutes, sich mit den ökonomisch Mächtigen der Finanzindustrie anzulegen. Kurz: Europa muss neu gedacht werden, um die Agonie zu überwinden.
1. Finanzkrise – nicht Schuldenkrise
Die gegenwärtige Krise ist keine Schuldenkrise, sondern eine Krise der Wettbewerbs- und Finanzordnung, wie sie von den europäischen Verträgen erst geschaffen wurde. Die Krise hatte ihren Ausgangspunkt in der Finanzkrise, die Folge liberalisierter und deregulierter Finanzmärkte ist, auf denen hochinfektiöse Spekulationspapiere nach und nach von allen gesetzlichen Schranken befreit wurden. Sie ist primär keine Schuldenkrise, die auf die Misswirtschaft einzelner Länder insbesondere in Südeuropa zurückzuführen wäre. Die Länder haben sich – abgesehen von einigen Aspekten des griechischen Dramas, die nun zu alles erklärenden Krisenursachen deklariert werden – durchaus »systemkonform« verhalten. Das heißt, sie agierten konsequent und bewegten sich in der durch die europäischen Verträge etablierten Wettbewerbs- und Finanzordnung. In diesem System ist es nur folgerichtig, auf Steuereinnahmen aus Kapitaleinkünften zu verzichten und Standortkonkurrenz über Steuer- und Sozialdumping zu betreiben. Standortkonkurrenz war keine ideologische Floskel, sondern ist der gewollte Ausdruck des europäischen Wettbewerbssystems.
2. Strukturfehler Wettbewerbsordnung
Seit den 1980er Jahren wurde die Staatengemeinschaft in Europa Schritt für Schritt in eine neoliberale Wettbewerbsordnung überführt. Die EWG entwickelte sich von einer staatsinterventionistisch orientierten Zollunion zur wettbewerbsorientierten, neoliberalen EU, in der nicht nur die Unternehmen, sondern auch die Staaten miteinander konkurrieren. Wo große Bereiche des Wirtschaftsrechts harmonisiert sind, findet Konkurrenz dort statt, wo eine europäische Harmonisierung rechtlich ausgeschlossen wurde: im Bereich des Steuerrechts und der Sozialsysteme. Dieser Wettbewerb kann nur zu einer Spirale nach unten führen – zu einem »race to the bottom« bei den Einkommens- und Unternehmenssteuern sowie den Sozialleistungen. Ein lebenswertes Europa des solidarischen Miteinanders kann nur entstehen, wenn diese Struktur, die optimale Bedingungen für Unternehmen, aber nicht für die Menschen geschaffen hat, aufgebrochen und durch ein neues Arrangement der Institutionen und Rechte ersetzt wird. Ein »weiter so«, deklariert als Vertiefung der Integration, ist sozial rücksichtslos und wird auf Dauer auch nicht funktionieren. Eine Perspektive für Europa ist sie nicht.
3. Strukturfehler Finanzmarktordnung
Die europäische Wettbewerbsordnung erhielt in den 1990er Jahren eine besondere Dynamik durch die Deregulierung der Finanzmärkte. Damit hat sich die Politik letztlich selbst zum Befehlsempfänger degradiert, der nur noch mit Pawlowschen Reflexen auf die Signale des zum dominierenden Subjekt avancierten Finanzmarktes reagieren und dessen Anforderungen erfüllen kann. Unkontrollierte Finanzmärkte ermöglichen es institutionellen Investoren und Beziehern hoher Einkommen, sich der Besteuerung in den Nationalstaaten zu entziehen. Das verschlechtert die Einnahmesituation des Staates weiter und vertieft die Abhängigkeit der öffentlichen Finanzen von den Märkten. Unkontrollierte Finanzmärkte schaffen einen virtuellen Reichtum, der von den Menschen, die reale Werte produzieren, bedient werden muss. Sie sind eine Umverteilungsmaschine zugunsten von Geldvermögensbesitzern. Deregulierte Finanzmärkte generieren unkalkulierbare und nicht beherrschbare Risiken in Form von »innovativen« Papieren, Zertifikaten und vielfältigen Möglichkeiten der Spekulation. Diese Risiken sind in immer kürzeren Abständen eingetreten. Der new economy crash zu Anfang des Jahrtausends blieb noch weitgehend folgenlos für die realen Produktions- und Arbeitsbedingungen. Dagegen führte der Finanzcrash 2007/2008 in die Rezession, die im Süden Europas anhält und sich zu einer Schuldenkrise ausweitete, die bis an die Grenze der Insolvenz geht und die Union in ein verlorenes Jahrzehnt zu führen droht.
Das Finanzkasino hat erneut den Betrieb aufgenommen und den institutionellen Spekulanten wieder große Gewinne beschert. Diese schrecken dabei nicht einmal mehr vor krimineller Manipulation in großem Maßstab zurück, wie bei den manipulierten Libor-Zinssätzen. Unterdessen kämpfen die Staaten mit den finanziellen Folgen der Krise und die Steuerzahler garantieren mit Rettungsschirmen das Funktionieren des Kasinos. Die Finanzmärkte sind immer noch so mächtig, weil die Verluste der Banken verstaatlicht und damit dem Steuerzahler aufgebürdet werden können. Aus dem gleichen Grund sind die öffentlichen Schulden heute viel höher als vor Ausbruch der Krise.
Die Gewinne werden weiter privat eingestrichen, die Verluste sozialisiert. G 8 und G 20 hatten nach Ausbruch der Krise weitgehende Reformen der Finanzmärkte angekündigt. Geschehen ist außer ein paar schüchternen Maßnahmen nicht viel. Das liegt einerseits an der mächtigen Finanzlobby, an der »Systemrelevanz« der Großbanken und dem Tabu, dieses System in Frage zu stellen. Andererseits setzt die europäische Konstitution, die vertraglich auf deregulierte Finanzmärkte und die Kapitalverkehrsfreiheit festgelegt ist, einer Re-Regulierung enge Grenzen. Auch in dieser Beziehung ist eine Vertiefung der EU ohne grundlegende strukturelle Veränderungen der rechtlichen Grundlagen nicht sinnvoll. Die Krise der EU ist eine Krise ihrer Wettbewerbs- und Finanzordnung: Hier muss eine grundlegende Revision ansetzen.
4. Autoritäre Wirtschaftsregierung
Die Bundesregierung betreibt in dieser Situation eine Politik der Krisenverschärfung und des Umbaus der EU in Richtung autoritärer Wirtschaftsregierung, die dabei ist, sich zu einem antidemokratischen, autoritären Regime auszuweiten. Die verschiedenen Reaktionen auf die Krise, vom »Pakt für den Euro« über »Sixpack« und EFSF bis zu ESM und Fiskalpakt, haben einen gemeinsamen Nenner: Sie zielen auf eine zentralistische, europäische Kontrolle der Wirtschafts- und Haushaltspolitik der Mitgliedstaaten oder zumindest der Euroländer. Herman van Rompuy und Wolfgang Schäuble haben die Marschrichtung offen formuliert. Letzterer erklärte: »Im Optimalfall gäbe es einen europäischen Finanzminister. Der hätte ein Vetorecht gegen einen nationalen Haushalt und müsste die Höhe der Neuverschuldung genehmigen.« Das ist nicht nur eine zentralistische, sondern auch autoritäre Lösung. Denn schon im Nationalstaat hat kein Finanzminister ein Vetorecht gegenüber dem Haushaltsrecht des Parlaments; ein »europäischer Finanzminister« ist noch weniger legitimiert als nationale Regierungen. Eine solche autoritäre Lösung birgt die Gefahr, dass weitere demokratische und grundrechtliche Freiheiten außer Kraft gesetzt werden, um den unsozialen Kurs abzusichern. Denn das herrschende Krisenmanagement zielt in erster Linie auf die Reduzierung der Staatsausgaben durch Sozial- und Lohnkürzungen.
Gefordert werden Kreditobergrenzen (»Schuldenbremse«) und damit eine Austeritätspolitik, die in die Depression führt und die soziale Situation in den betroffenen Ländern weiter verschlechtert. Die Zahl der Arbeitslosen steigt. In den Ländern unter dem Kürzungsdiktat wird die Krise verschärft, Griechenland befindet sich seit 2008 in der Rezession, die Wirtschaft ist seither um 27% geschrumpft. Absehbar schlittert ganz Europa 2012 in eine Rezession. Durch die Kürzungsprogramme werden nicht einmal die selbst gesetzten Ziele erreicht: Die Neuverschuldung ist in den Ländern unter EU-Kuratel nach wie vor hoch und die Gesamtverschuldung steigt in Relation zum schrumpfenden Bruttoinlandsprodukt immer weiter. Selbst Länder wie Slowenien, welche die Kreditobergrenzen von Maastricht penibel eingehalten haben, geraten durch Fehlspekulationen der Finanzindustrie in ein Verschuldungsdilemma. Kreditobergrenzen sind – selbst wenn sie funktionierten – keine Garantie für Stabilität. In der gegenwärtigen Situation wird durch verschärfte Kreditobergrenzen kein Weg aus der Krise beschritten, sondern diese verschärft. Eine Vertiefung der Integration unter dem Vorzeichen einer autoritären Austeritätspolitik kann deshalb kein Weg für Europa sein.
5. Zentrifugale Tendenzen und anwachsender Nationalismus
Im deutschen Diskurs ist die Vertiefung der Integration Teil der Staatsraison. Die Vorschläge zur Krisenüberwindung durch eine autoritäre Wirtschaftsregierung werden so als Schritt zur Vertiefung der Integration verstanden. Diese Position bezeichnet sich selbst als »Pro-Europäisch«, ist es aber nicht. Weil diese Form einer vertieften Integration antidemokratisch und unsozial ist, wird Integration gegen demokratische Teilhabe und soziale Absicherung ausgespielt. Die Substanz europäischer Werte gerät dabei unter die Räder. Im Ergebnis wird die europäische Integration aufs Spiel gesetzt. Durch das Krisenmanagement hat sich bereits jetzt die Distanz zwischen den Europäern vergrößert, die Abneigung vor allem gegen Deutschland nimmt zu und wird weiter zunehmen. Unter diesen Voraussetzungen weitere Integrationsschritte von oben zu oktroyieren, ist kontraproduktiv.
Im europäischen Debakel sind zunehmend national-chauvinistische Tendenzen auszumachen. Das gilt nicht nur für die Regierung Orban in Ungarn oder die »wahren Finnen«. Auch die Bundesregierung heizt national-chauvinistische Vorurteile an. Opposition gegen die Krisenpolitik der Bundesregierung kommt – anders als etwa in Frankreich oder inzwischen auch den Niederlanden – in Deutschland hauptsächlich aus dem rechten Spektrum und ist dort nationalistisch oder standortchauvinistisch motiviert. Neben den Tendenzen zu einer autoritären Lösung sind deshalb auch zentrifugale Tendenzen erkennbar, die zu neuem Nationalismus oder zumindest in eine Erosion der rechtlichen Grundlagen der EU führen könnten.
6. Vertiefung der Integration oktroyieren?
Auch im sozialdemokratisch-grünen Spektrum wird für eine Vertiefung der Integration plädiert. In einem Aufruf »Für einen Kurswechsel in der Europa-Politik« in der FAZ vom 3. August 2012 haben sich Peter Bofinger, Jürgen Habermas und Julian Nida-Rümelin für einen »großen Integrationsschritt« ausgesprochen. Die bisherige wirtschafts-, finanz- und sozialpolitische Struktur der Union einschließlich des Vorrangs der Haushaltsdisziplin und liberalisierter Finanzmärkte haben sie jedoch nicht in Frage gestellt. Ihre Alternative beschränkt sich auf eine »gemeinsame Haftung für Staatsanleihen des Euroraumes« bei Beschwörung des – mit der Bundesregierung geteilten – Mantras von der Fiskaldisziplin, für die eine »stärkere Koordinierung der Finanz-, Wirtschafts- und Sozialpolitik der Mitgliedsländer« erforderlich sei. Diese soll aber demokratisch abgesichert werden, indem »ein europäischer Gesetzgeber, der die Bürger (unmittelbar über das europäische Parlament und mittelbar über den Rat) vertritt«, über die Politik der Umverteilung beschließen soll. Kurz: Rat und EP überwachen die nationale Haushaltsdisziplin, nicht ein europäischer Finanzminister. Gefordert wird eine supranationale Demokratie, deren Konturen aber völlig im Unklaren bleiben und die nur negativ abgegrenzt wird: Sie dürfe sich nicht in einen Bundesstaat auswachsen, weil die Völker dazu noch nicht die erforderliche Solidarität aufbrächten. Wie das mit einer Haushaltskontrolle durch europäische Institutionen vereinbar sein soll – selbst wenn diese demokratisch gewählt wären –, bleibt ungeklärt; Bundesstaaten in der bisher bekannten Form kennen solch einen Zentralismus nicht. Um eine demokratische Reform der Union auf den Weg zu bringen, solle ein Konvent einberufen werden, der die Verträge reformiert und eine neue Europäische Konstitution den Völkern Europas zur Abstimmung vorlegt. Das ist gut gemeint, aber gerade das Gegenteil von gut.
Die Fehlentwicklungen der EU werden mit diesem Vorschlag keineswegs korrigiert: Anstatt die desaströse Wettbewerbs- und Finanzmarktordnung in Frage zu stellen, soll sie auch im Vorschlag von Bofinger, Habermas und Nida-Rümelin vertieft werden. Die Logik der unsozialen Wettbewerbsordnung wird nicht bezweifelt, vielmehr soll sie durch gemeinsame Staatsanleihen abgesichert werden. Gemeinsame Staatsanleihen können zwar eine kurzfristige Entlastung für die Kreditaufnahme einiger Länder erzeugen, aber der Mechanismus der leistungslosen Umverteilung wird ebenso wenig angegriffen wie die Macht der Finanzmarktakteure, insbesondere der Banken. Eine Re-Regulierung der Finanzmärkte steht genauso wenig im Zentrum des Vorschlages wie eine Überwindung des Sozial- und Steuerdumpings in der EU. Die Vorschläge zur Demokratisierung der EU sind nicht ausgereift und schrecken vor der eigenen Konsequenz zurück: der Umwandlung in einen Bundesstaat, der dann auch für die Steuern und den eigenen Haushalt verantwortlich wäre. Das wäre jedenfalls die Konsequenz, wenn man sich auf die Losung der US-amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung beruft: »No taxation without representation!«
7. Demokratisierung der EU
Die Demokratisierung der EU ist allerdings ein zentrales Anliegen einer emanzipatorischen Politik für ein friedliches, demokratisches, soziales und ökologisches Europa. Das betrifft einerseits die Institutionen der EU: Es bedarf zumindest eines einheitlichen europäischen Wahlrechts, europäischer Parteien und gleicher Stimmgewichte, um in Europa zu einer Demokratie zurückzukehren. Die von den demokratischen Bewegungen geforderte Repräsentation und Selbstgesetzgebung findet nicht statt. Die Konstruktion der begrenzten Einzelermächtigung lügt sich selbst in die Tasche mit der Annahme, die nationalen Parlamente könnten noch die europäische Politik kontrollieren und legitimieren. Der Präsident des EuGH, Vasilios Skouris, hat in seltener Offenheit erklärt, wie das System funktioniert: Europa habe Kompetenzen aufgrund des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung; wo die Grenzen liegen, bestimme der EuGH.
Die fehlende demokratische Programmierung durch die nationalen Parlamente wird nicht durch das Europäische Parlament (EP) ersetzt, denn es handelt sich nicht um ein demokratisches, nach gleichem Wahlrecht gewähltes Parlament, das als zentrales Gesetzgebungsorgan funktionieren würde. Das EP nimmt im Gesetzgebungsprozess immer noch den zweiten Rang hinter dem Rat ein. Mit der Europäischen Union ist der Kontinent vollends in die Ära der Postdemokratie eingetreten, in der die geschäftigen, aber weitgehend wirkungslosen Aktivitäten der Abgeordneten die demokratische Kontrolle und Selbstgesetzgebung der Menschen abgelöst haben.
Eine Demokratisierung der EU kann jedoch nicht nur darin bestehen, die bestehenden supranationalen Institutionen und Verfahren zu demokratisieren. Zur Grundsubstanz von Demokratie gehören vielfältige Formen konkreter Wahl-, Entscheidungs- und Partizipationsmöglichkeiten sowie Transparenz und deren materielle Absicherung für die Bürger und Bürgerinnen. Beispielsweise müsste die strukturelle Benachteiligung subalterner Schichten bei der Artikulation ihrer Interessen in einer sich langsam entwickelnden europäischen Öffentlichkeit ausgeglichen werden, um gleichberechtigte Teilhabe sicherzustellen. Es ist schwer erkennbar, mit welchen Kräften dieser Zustand der Entmündigung überwunden werden könnte.
8. Revision der Finanz- und Wettbewerbsordnung
Eine europäische Konstitution, die demokratische Ansprüche einlösen will, müsste die Möglichkeit eröffnen, wirtschaftspolitische Alternativen umzusetzen, anstatt ein bestimmtes Wirtschaftsmodell zu diktieren, wie es die Verträge tun, indem sie sich wiederholt auf eine »offene Marktwirtschaft mit freiem und unverfälschtem Wettbewerb« festlegen. Welches Wirtschaftsmodell und welche Regulierungsform gewählt werden, ist in einer demokratischen Gesellschaft dem demokratischen politischen Prozess zu überlassen. Die europäische Konstitution müsste insofern geöffnet werden für einen demokratischen Prozess, in dem unterschiedliche Zielperspektiven, Prioritäten und Konzeptionen um Mehrheiten für ihre Politikvorschläge ringen. Eine solche Offenheit hieße, den Weg aus der geltenden Wettbewerbs- und Finanzmarktordnung zu beschreiten, was nur über eine grundlegende Revision der Verträge möglich wäre.
Denkbar wäre etwa eine schlanke europäische Verfassung, die unter der Voraussetzung einer demokratisierten europäischen Gesetzgebung Kompetenzen überträgt, aber keine detaillierten Ziel- und Mittelvorgaben festlegt. Die Schieflagen in der Kompetenzverteilung, wie sie in der gegenwärtigen Konstitution zu finden sind, bei der die EU alle Wettbewerbsbedingungen außer Steuern und Sozialsysteme normiert, sind dabei zwingend zu vermeiden. Eine conditio sine qua non für weitere Integrationsschritte sind reale Schritte zur Sicherung des Sozialen, zur Aufhebung der Asymmetrie zwischen Kapital und Arbeit. Soziale Sicherheit ist eine Voraussetzung für demokratische Teilhabe, die deshalb als Sozialstaatsgebot wie Grundrechte als Voraussetzung des demokratischen Prozesses in einer zukunftsfähigen europäischen Ordnung festzuschreiben wäre. Auch in diesem Punkt sehen wir nur Ansätze einer Diskussion um eine Revision der europäischen Entwicklung.
9. Für eine gesellschaftliche Neubesinnung
Im deutschen Diskurs hat sich eine binäre Logik durchgesetzt, nach der »pro-europäisch« für den Weg in eine autoritär-zentralistische europäische Ordnung steht und als Antwort auf die Krise nur eine Vertiefung der gegenwärtigen, schlechten Form der Integration denkbar ist. Auf der anderen Seite steht eine national-chauvinistische Argumentation, die Europa zugunsten der Nationalstaaten in seiner Bedeutung zumindest reduzieren will. Angesichts dieser Konstellation traut sich im emanzipatorischen Lager kaum jemand, den herrschenden Integrationskurs in Frage zu stellen. Man befürchtet, in der binären Logik dieser zwei Lager eingeordnet zu werden und als anti-europäisch, national borniert und rückwärtsgewandt denunziert zu werden.
Gegenwärtig ist nicht erkennbar, dass mit einer Vertiefung der Integration ein Richtungswechsel, eine Revision der falschen Strukturentscheidungen, der Festlegung auf eine neoliberale Finanz- und Wirtschaftsordnung verbunden werden könnte. Eine Vertiefung der EU würde zum gegenwärtigen Zeitpunkt die falschen Strukturentscheidungen zusätzlich autoritär absichern; sie würde die Politik auf Kosten der überwiegenden Zahl der Menschen und zugunsten der Rentabilität der großen Unternehmen fortsetzen und verschärfen; sie würde in der falschen Prioritätensetzung fortfahren, Europa zur wettbewerbsfähigsten Region auszubauen, womit letztlich günstige Renditebedingungen für das Kapital gemeint sind.
Unter diesen Bedingungen und Kräfteverhältnissen erscheint es wenig sinnvoll, einen verfassungsgebenden Prozess durch ein Konventverfahren einzuleiten. Voraussetzung für solch einen Prozess ist ein intensiver, tiefer und rationaler Diskurs über die Perspektiven der EU. Und zwar in allen Mitgliedsländern und zwischen ihnen. Erforderlich sind eine Neubesinnung und eine breite Diskussion über die Frage »Wie wollen wir in Europa zusammen leben?« Eine solche Diskussion findet im hektischen Krisenmanagement nicht statt. Deshalb fehlen die Voraussetzungen für ein verfassungsgebendes Konventverfahren. Letztlich ist ein solidarisches Europa – egal auf welcher »scale« es organisiert ist – nur denkbar, wenn sich die sozialen Kräfte organisieren, die ein solches Projekt von unten durchsetzen wollen und können und sowohl alte als auch neue Errungenschaften absichern können. Ohne eine Neukonfiguration sozialer Akteure bleibt die EU ein autoritäres Projekt. Demokratie ist nicht nur eine Frage des Wahlverfahrens, sondern auch die Frage, welche gesellschaftlichen Interessen eine Chance haben, sich durchzusetzen.
10. Kurzfristige Krisenreaktion
Als kurzfristige Antwort auf die Krise ist statt einer Verschärfung der Austeritätspolitik eine strenge Regulierung der Finanzmärkte mit effektiven Kapitalverkehrskontrollen und eine effektive Besteuerung der großen Vermögen und Kapitaleinkünfte notwendig. Das Kasino muss geschlossen werden. Außerdem ist eine »Transferunion« in der einen oder anderen Form unvermeidlich. Adressaten von Solidarität sind allerdings nicht marode Banken, sondern die Bürger und Bürgerinnen der Krisenländer, und hier insbesondere die sozial Schwachen. Banken dürfen, sofern sie tatsächlich systemrelevant sind, nur dann gerettet werden, wenn sie anschließend in öffentlicher Regie und mit einem dem Gemeinwohl verpflichteten Geschäftsmodell weitergeführt werden.
Die Spekulation gegen die Krisenländer muss mit einem geeigneten Maßnahmepaket gestoppt werden, zu dem u.a. das Verbot von Kreditausfallversicherungen, die Neutralisierung der Ratings und Marktzugangsverbote für Hedgefonds und andere hochspekulative Akteure gehören. Darüber hinaus muss die EZB die Rolle des »lenders of last resort« solange übernehmen, bis die Krisenökonomien sich konsolidiert haben und wieder auf eigenen Beinen stehen können.
Gegebenenfalls ist auch die vorübergehende Flexibilisierung des Euro durch regional unterschiedliche Wechselkurse oder die Festlegung von Kursschwankungskorridoren legitim. Wenn dies in geordneter und abgestimmter Form geschieht, könnten die negativen Auswirkungen begrenzt werden und die Kosten wären geringer als bei einer chaotischen Auflösung der Eurozone. Denn wenn das herrschende Krisenmanagement fortgeführt wird, steht am Ende dann doch unweigerlich der Zusammenbruch der gemeinsamen Währung.
11. Globale Konkurrenz
Die Europäische Union ordnet sich selbst in die globale Konkurrenzordnung ein, indem sie zur wettbewerbsfähigsten Region der Erde werden möchte. Der Wettbewerb ist einerseits ökonomisch gedacht, wird aber politisch und militärisch ergänzt. Auf dem Programm steht der Ausbau der EU zur Supermacht, die zusammen mit den USA und China dann die G 3 bilden, quasi ein globales Triumvirat. Bei Teilen der Funktionseliten ist dies schon länger eine Triebkraft, vor allem bei solchen aus Ländern, die früher einmal Weltmacht waren, inzwischen aber in die zweite und dritte Liga »abgestiegen« sind. Dieses Motiv wird zusätzlich durch das Tempo und die Tragweite angetrieben, mit der sich das internationale System derzeit in Richtung Multipolarität neu konfiguriert. Wenn man die Welt durch die Brille der Macht- und Geopolitik betrachtet, müssen der Aufstieg Chinas zur Supermacht, das Potenzial Indiens, Brasiliens und anderer Schwellenländer, sowie die Versuche Russlands, an alte Zeiten anzuknüpfen, aus Sicht europäischer Funktionseliten Sorge bereiten. Die 500-jährige Epoche, in der Europa und sein nordamerikanischer Ableger das Schicksal der Welt dominierten, neigt sich ihrem Ende zu. Wer in Europa auch zukünftig in der globalen Hackordnung möglichst weit oben mitmischen will, kann das nur im Verbund mit anderen.
Es liegt auf der Hand, dass eine Supermacht EU für emanzipatorische Europapolitik indiskutabel ist. Ziel einer europäischen Politik sollte »Frieden« (im umfassendsten Sinne) sein und nicht Aufrüstung. Die EU sollte eine Hauptrolle bei der Definition einer neuen internationalen und multilateralen Ordnung spielen, die als Friedensordnung konzipiert ist und an die Stelle des internationalen Wettbewerbs und ökonomischer Konkurrenz eine ökologisch orientierte Ordnung der Kooperation und Solidarität setzt, mit der allein die globalen Herausforderungen wie Klimakrise, Bevölkerungswachstum und Ressourcenknappheit gemeistert werden können. Der Wettlauf um Ressourcen und überlegene Machtpositionen ist nicht zu gewinnen. Er hat die Welt mit zwei Weltkriegen und den folgenden Stellvertreterkriegen in verheerende Auseinandersetzungen geführt. Die Perspektive sollte nicht sein, wettbewerbsfähigste Region zu werden. Vielmehr sollte es darum gehen, eine Region zu werden, die weltweit für Frieden, Solidarität, Demokratie und soziale Rechte steht, kurz: eine Supermacht an Lebensqualität.
Andreas Fisahn ist Hochschullehrer an der Universität Bielefeld und lehrt öffentliches Recht sowie Rechtstheorie. Peter Wahl ist einer der Mitbegründer von Attac Deutschland und Mitarbeiter der Nichtregierungsorganisation Weltwirtschaft, Ökologie & Entwicklung (WEED). Beide arbeiten im Wissenschaftlichen Beirat von Attac.