1. April 2002 Hilal Onur
»Europa passt nicht zu uns«
Anfang März hat der Vier-Sterne-General und Generalsekretär des Nationalen Sicherheitsrates, Tuncer Kilinc, mit kritischen Anmerkungen über die Beziehungen der Türkei zur Europäischen Union eine rege öffentliche Debatte in Gang gesetzt. Er kritisierte, dass das Land keinerlei Unterstützung durch die EU bekommen habe und immer wieder hingehalten werde. Die Türkei habe aber mehrere politische Optionen, die sie jetzt auch wahrnehmen müsse.
»Die EU betrachtet alle Probleme, die die Türkei betreffen, einseitig. Daher muss die Türkei mit Russland Gespräche anstreben, das ein alleingelassenes Land ist. Daneben müssen neue Wege in der Beziehung zum Iran gesucht werden, ohne die USA auszuschließen,« [1] so General Kilinc.
Die Rede von Kilinc kam zwar ohne Voranmeldung, ist aber keineswegs überraschend. In der türkischen Öffentlichkeit wächst der Unmut über die Beziehung zur EU und die ständige Vertröstung des Landes in der Frage der Mitgliedschaft. Darüber hinaus spricht aus Kilincs Intervention auch der Verdacht, dass die Türkei von der EU keineswegs unterstützt, sondern vielmehr »hintergangen« wird. »Die Türkei hat in ihrem Einsatz gegen den vom Ausland unterstützen Terror nicht die erhoffte Unterstützung erhalten. Vielmehr wurde der Terror von manchen Verbündeten teils offen, teils verdeckt unterstützt, obwohl die Türkei seit 1963 definitiv eine Aussage für Europa gemacht hat.« [2]
Dass die Türkei seit ihrer Gründung eine »Verwestlichung« anstrebt und in westliche Bündnisse integriert ist, ist eine bekannte Tatsache. »Die EU-Politik unserer Regierung ist realistisch und rational. Sie ist weder populistisch, noch hegt sie propagandistische Ziele«, [3] so der türkische Staatsminister und Regierungssprecher Prof. Sükrü Sina Gürel nach dem Luxemburger EU-Beschluss vom Dezember 1997, der die Türkei aus dem engeren Kreis der Aufnahmekandidaten ausschloss. Die Aussage von Gürel spiegelt einerseits das Verhältnis der Türkei zur EU wieder. Andererseits impliziert sie die Feststellung, dass die türkische EU-Politik in den letzten 40 Jahren keine Kontinuität aufweist. Wurde über die EU seit dem Assoziationsabkommen mit der Türkei primär politisch diskutiert, ist sie seit nahezu 20 Jahren, parallel zum Kurswechsel in der türkischen Wirtschaftspolitik, auch ein ökonomisches Thema, das breite Bevölkerungsgruppen interessiert. Insbesondere nach dem Beitritt der Türkei in die Zollunion im Jahre 1995, ist die EU ein (vielfach kritisches) Thema in der Bevölkerung, da der Betritt keineswegs zu einer wirtschaftlichen Sanierung geführt hat. Dennoch gibt es bis heute keine ausreichenden Kenntnisse in der türkischen Gesellschaft über die EU und jede Kritik oder auch Wohlwollen gegenüber der EU verbleibt im Rahmen politischer und intellektueller Diskurse. Genau deshalb bietet der Luxemburger Beschluss, so bitter er auch war, für die Menschen eine Chance, sich ein eigenständiges Bild über die EU und die Beziehung ihres Landes zu Europa zu machen. Dies könnte auch zu einer neuen und emotionsfreien Ausrichtung der türkischen Europapolitik führen.
Welches Bild hat die türkische Bevölkerung von Europa und auf welchem Hintergrund ist der Wunsch nach einer europäischen Integration zu sehen? Prof. Erdal Inönü, Ehrenvorsitzender der sozialdemokratischen CHP (Republikanische Volkspartei), weist auf die geographische Entfernung der Türkei von Europa hin: »Da die Türkei weit weg von Europa liegt, werden wir nicht in die wichtigen Entscheidungen einbezogen. Um uns herum gibt es nahezu kein Land, das demokratisch regiert wird. Auch das hat einen Einfluss.« [4] Was Inönü hier als geographische Entfernung beschreibt, analysiert Prof. Nilüfer Göle aus der historischen Perspektive. Für Göle ist es »eine Ironie der Geschichte, dass die Türken, die über Jahrhunderte die Moslems und die Barbaren symbolisierten und für die Europäer das ›Andere‹ darstellten, sich heute einen Platz unter den ›Zivilisierten‹ suchen.« [5] Diese geographische und historische Positionierung der Türkei macht eine andere Sichtweise der Beziehung von Türkei und Europäischer Union notwendig. Ohne Zweifel benötigt die Türkei grundlegende politische und soziale Reformen – doch sie als einen »verschmähten Liebhaber«, gar als »einen schroffen Mann des Mittelmeers« [6] zu bezeichnen, mag zwar ästhetisch im literarischen Sinne sein, bringt das Land der Lösung dieser Probleme aber nicht näher. Der Vergleich deutet vielmehr auf eine historische Befangenheit türkischer Intellektueller hin, die seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts von der offiziellen türkischen Verwestlichungsidee betört sind. Aber auch die europäische Befürchtung, dass mit der Vollintegration eine türkische »Invasion« – gar Islamisierung – Europas stattfinden könnte, speist sich mehr aus der innenpolitischen Situation der europäischen Länder, denn aus den realen Hintergründen der immer wieder kränkelnden Beziehung zwischen EU und Türkei. Es handelt sich um (rechts-)populistische Äußerungen, mit denen das Problem nicht angemessen erfasst wird.
Erstens ist die Kritik der EU hinsichtlich Menschenrechtsverstößen in der Türkei unmissverständlich und berechtigt. Doch müssen sich die Mitgliedsstaaten der EU zugleich fragen lassen, weshalb sie diesen Staat, »der die Menschenrechte mit Füßen tritt«, wie Luxemburgs Ministerpräsident Junckers erklärte, mit Waffenhilfe unterstützen. Nach dem Bericht »Weapons Transfers and Violations of the Laws of War in Turkey« von Human Rights Watch aus dem Jahre 1995, beteiligen sich neben den USA gerade Deutschland und Frankreich, also die »Asse« der EU, maßgeblich an Waffenlieferungen an die Türkei. Der 179-seitige Bericht von Human Rights Watch stützt sich auf eine neunmonatige Untersuchung in der Türkei und im Nord-Irak, sowie auf Fallbeispiele über Menschenrechtsverletzungen während der militärischen Aktionen der türkischen Armee in kurdischen Regionen. Nach den USA, die 80% der Waffenlieferungen in die Türkei tätigen, sei Deutschland der wichtigste Waffenlieferant. Das Land habe – allein im Jahre 1993 – 58 Panzer, 187 M-113 Panzerwagen, 15 F-14 Kampfflugzeuge geliefert. Die türkische Luftwaffe rühmt sich bereits seit 1970 des Besitzes von deutschen F-4E Phantomflugzeugen. Darüber hinaus hat die Bundesrepublik die türkische Armee reichlich mit DDR-Restbeständen »bestückt«. Wesentlicher Bestandteil des HRW-Berichts ist die Feststellung, dass westliche Waffen bei Menschenrechtsverletzungen eingesetzt werden. [7]
Zweitens ist auch die Feststellung richtig, dass die Türkei den inneren Demokratisierungsprozess nicht zügig vorantreibt. Doch genau hier ist die Politik der EU nicht nur als eine Absage an die Türkei, sondern auch und insbesondere an die demokratische Opposition zu sehen, die im repressiven Klima der türkischen Innenpolitik sich abmüht, ihren Beitrag zur Demokratisierung zu leisten.
Dennoch bleibt die Frage, ob es nicht weitere und wichtigere Gründe für die Hinhaltepolitik der EU gibt, die im Folgenden zur Diskussion gestellt werden.
Die EU hat die Erweiterung ihrer Grenzen beschlossen, aber der Türkei darin keinen Platz zugestanden. Allein ein Blick auf die Landkarte zeigt die brisante geographische Lage der Türkei. Die Beziehungen zu den angrenzenden Ländern sind immer wieder durch Krisen belastet gewesen. Dieses problematische Verhältnis der Türkei zu ihren Nachbarländern hat seine Wurzeln im Osmanischen Reich. So sind die Beziehungen zu Syrien und insbesondere zu Griechenland außerordentlich konfliktträchtig, weil beide Länder über Jahrhunderte unter der Herrschaft der Osmanen gelitten haben. Darüber hinaus würden Irak, Iran, Syrien, Armenien und die Turk-Republiken der ehemaligen Sowjetunion bei einer eventuellen Aufnahme der Türkei in die EU direkte Nachbarn Europas. Das türkische »Kurdenproblem« würde europäisiert und müsste mit den anderen betroffenen Staaten, also Syrien, Iran und Irak verhandelt werden. Eine Vollmitgliedschaft der Türkei würde zudem auch das Wasserproblem zwischen der Türkei und Syrien zu einem europäischen Thema machen. Und schließlich müsste sich Europa dem brisanten Thema des politischen Islam stellen, was grundlegende Änderungen der in Europa gängigen Denkschemata notwendig machte. Fragen wie »Drohen in der Türkei algerische Verhältnisse?« oder »Steht das Land nicht an der Schwelle zu bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen?« würden wissenschaftlich begündete Standpunkte Europas statt der Pflege von Vorurteilen erfordern. Dass diese Fragenkomplexe keine europäischen Themen sind, verdeutlichte eine Tagung der Friedrich-Ebert-Stiftung und der Aydýn-Dogan-Stiftung in Istanbul im Jahre 1998, an der sich türkische und deutsche JournalistInnen über das Wechselbad der Gefühle in der deutsch-türkischen Beziehung auseinandersetzten. Ein wesentliches Resultat der Tagung deutete auf die Realität in der Behandlung der Türkei: Noch immer ist das Land fremd, schwer zu positionieren und ist daher jede Diskussion von Klischees überlagert. [8]
Für alle drei genannten Problemfelder müsste die EU direkte Lösungen suchen und dürfte sich nicht mehr mit »Vorschlägen« – wie sie dem Land jetzt immer wieder unterbreitet werden – begnügen. Die EU muss sich auch fragen lassen, ob die enge Beziehung der Türkei zu den USA nicht ausschlaggebend für die Absage an eine türkische Mitgliedschaft ist. Diese Beziehungen zwischen der Türkei und den USA sind historisch nicht allein auf die NATO zu reduzieren und haben eine politische, ökonomische und militärische Dimension. Versuchen die USA, die eine europäische Integration der Türkei fordern, die mit ihnen verbündete Türkei als eine Art Trojanisches Pferd in die EU einzuschleusen, um dadurch politische Themen auf europäischer Ebene mitzuentscheiden? Und ist die Ablehnung einer türkischen Mitgliedschaft in der EU nicht auch eine Kampfansage an die USA? Mit der Aufnahme der Türkei würde zudem der Zypernkonflikt in die EU hineingetragen. Die EU unterstützt bis heute primär die griechische Position und müsste deshalb ihr Zypern-Konzept überdenken, zumindest aber die türkischen Argumente mit berücksichtigen. Die Zusage an Zypern und Absage an die Türkei gehört in diesen Zusammenhang, denn bei einer türkischen Aufnahme in die EU, könnte auch eine Diskussion über eine föderative Lösung des geteilten Zypern oder gar über den Prozess der politischen Unabhängigkeit ganz Zyperns von griechischer und türkischer Hegemonie aktuell werden.
Seit der Ratifizierung des Zollunionabkommens am 1.1.1996 ist die Türkei mit ähnlichen Auflagen wie die Vollmitgliedsländer konfrontiert und ist »damit einseitig unter der politischen und wirtschaftlichen Hegemonie der EU. Dieses internationale Abkommen hat kein anderes Beispiel in der zivilisierten Welt.« [9] Insbesondere nach 1993 wurde die EU-Politik der Türkei auf die Zollunion konzentriert und von der damaligen Regierung unter Tansu Çiller als das non plus ultra und ein wesentlicher Schritt zur Vollmitgliedschaft gepriesen. Trotz intellektueller Kritik an der Zollunion, wurde das Abkommen im Dezember 1995 unterzeichnet. Wirtschaftsexperten und Politikwissenschaftler richteten sich damals mit einem Pamphlet gegen diesen Schritt: »Diejenigen, die den Beitritt in die Zollunion als einen Schritt in Richtung Europäisierung verkünden, befinden sich in einem großen Irrtum. Die Geschichte ist voll von ... Belegen, dass die europäische Hegemonisierung nicht gleichzeitig eine Europäisierung nach sich zieht.« [10] Dass aber die Zollunion ein marktpolitisches Interesse der EU war und ist, hat zu einer kritischen Betrachtung der EU in der türkischen Bevölkerung geführt. Die Türkei-Politik der EU kann folgendermaßen zusammengefasst werden: Als nichtintegrierter Verbündeter Europas kann die Türkei weiterhin ihre historische Rolle als Pufferzone zwischen den Krisenregionen des Nahen Ostens und Europa wahrnehmen. Der türkische Markt steht den europäischen Investoren ohnehin offen, die Investitionen werden trotz der Absage an eine türkische EU-Mitgliedschaft weiter vorangetrieben. Nicht ohne Grund sind insbesondere deutsche Großunternehmen die Hauptinvestoren in der Türkei: Billige Arbeitslöhne und geringe Arbeitssicherheiten machen den Standort Türkei rentabel. Und mit der Ausschließung aus dem Kreis der Beitrittsländer ist auch das Thema »Freizügigkeit« vom Tisch und damit die angeblich drohende »Überfremdung« Europas durch die »Massen von Türken«, vor der der ehemalige Bundeskanzler Kohl immer wieder meinte warnen zu müssen.
Längerfristig wird die Türkei angesichts der realen Umstände und der historischen Verankerung der Verwestlichungsidee in der türkischen Gesellschaft immer wieder einen Anschluss an Europa fordern. Dennoch wird auch diese Politik derzeit – auch in intellektuellen Diskursen – einer Revision unterzogen. Quo vadis Türkei? Mit seinen Äußerungen hat der General sicherlich zu einer hitzigen Diskussion beigetragen. Denn zweifellos muss in der Türkei die Frage gestellt werden, ob die Aufnahme in die EU, deren Zeitpunkt heute nicht vorherzusehen ist, eine ultima ratio ihrer Möglichkeiten ist. Dennoch sollte die Aussage aus den Reihen der obersten Generalität nicht überbewertet werden, denn die Militärs sind in die Politik des Landes involviert. Das heißt, es wird auch unter den Generälen über die Mitgliedschaft des Landes kontrovers diskutiert. Darüber hinaus deckt sich die Rede von General Kilinc mit der ökonomischen Lage des Landes. Wirtschaftlich nahe am Ruin, ist die Türkei auch gezwungen, bilaterale Abkommen mit den Nachbarstaaten anzustreben, was eine Ausweitung der außenpolitischen Raster des Landes erforderlich macht. Überkommene Sichtweisen auf die Nachbarstaaten Russland, Iran, Irak, Armenien oder Syrien müssen kritisch diskutiert werden, will die Türkei sich die Optionen außerhalb Europas freihalten. Nach Ansicht der Politologin der Middle East Technical University in Ankara Dr. Meliha Altinisik, sind die Worte von Kilinc als eine »Botschaft an die EU« zu verstehen: »In der Türkei haben wir der EU so sehr gezeigt, dass wir aufgenommen werden wollen, dass die EU sich betört fühlt und denkt, dass wir ohne Wenn und Aber allen ihren Wünschen ohne eine Diskussion entgegenkommen. Die Aussagen des Generals deuten nur darauf hin, dass uns nicht nur die Beziehung zur EU als Option offen steht, sondern dass wir auch eine Alternative hinsichtlich unserer Beziehungen und Identitäten in der Region haben.« [11]
Die Gespräche mit Russland oder neue Beziehungen zum Iran können zwar kein Gegengewicht für eine westlich orientierte Politik darstellen. Dennoch ist die Türkei heute genötigt, eine selbstbewusste Außenpolitik voranzutreiben, die wiederum nur realisierbar ist, wenn politische und soziale Reformen, wie die Einhaltung der Menschenrechte, Förderung der Demokratisierung und der civil society, durchgesetzt werden. Falls die Türkei diese aus dem Innern heraus notwendigen Reformen realisieren kann, wird sie – unabhängig von der Integration in die EU – eine den Interessen der Bevölkerung und der breiten Demokratisierungsbewegung im Lande gerecht werdende Rolle einnehmen können. Das heißt, die kulturelle Vielfalt der pluralistischen und unzähligen Ethnien kann die Identifikationssuche vorantreiben und den jahrhundertelangen Prozess der Verwestlichung überwinden. Nur unter diesen Voraussetzungen kann die Türkei geographisch, kulturell und politisch zu einer neuen mediterranen Identifikation finden. In Rahmen dieser Diskussion werden immer mehr Stimmen laut, die eine bedingungslose Anlehnung an die EU erstmals infrage stellen. Oder wie es der ehemalige Staatspräsident Ismet Inönü bezogen auf die US-Politik, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs eine totale Übernahme amerikanischer Ziele forderte, ausgedrückt hat: »Es wird eine neue Welt aufgebaut und die Türkei wird ihren Platz darin einnehmen.«
Hilal Onur ist Autorin, lebt in Aachen.