24. Oktober 2013 Karola Boger / Thomas Händel

Europäische Betriebsvereinbarungen?!

Zunehmend häufiger machen Betriebsvereinbarungen vor den Landesgrenzen nicht halt, sondern haben grenzüberschreitende Regelungsfunktionen.

Der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) registriert 220 entsprechende Texte. Sie wurden von 138 Unternehmen abgeschlossen[1] und betreffen weltweit mehr als 10 Millionen Arbeitnehmer. 85% davon sind europäische Vereinbarungen.

Angesichts der damit verbundenen Probleme[2] erstaunt die Anzahl solcher transnationaler Vereinbarungen. Rechtliche Grundlagen gibt es keine. Weder für die Vertragspartner noch für die Beschäftigten existieren rechtliche Durchsetzungsmöglichkeiten. Stattdessen besteht latent die Gefahr, in die Tarifautonomie der jeweiligen nationalen Gewerkschaften einzugreifen.

Aus diesem Grund wurde der Beschäftigungsausschuss[3] des Europäischen Parlaments aktiv, mit dem Ziel, die Kommission aufzufordern, mittelfristig einen optionalen Rechtsrahmen für derartige Vereinbarungen vorzulegen. Berichterstatter war Thomas Händel für die Fraktion Vereinigte Europäische Linke/Nordisch Grüne Linke (GUE/NGL). Harte Widerstände der rechten Seite des Parlaments – administriert von BUSINESSEUROPE[4] – gab es von Beginn an. Dennoch wurde der Bericht nach zehnmonatiger Debatte mehrheitlich vom Europäischen Parlament angenommen.[5]

Unternehmensstrategien wie die Konzentration aufs Kerngeschäft, verlängerte Werkbänke, Nutzung von Niedriglohnländern, Niedrigpreispolitik und Erreichung von Marktzugängen bei gleichzeitiger Anpassung der Produkte und Dienstleistungen an Kundenwünsche, führen in immer kürzeren Zeiträumen zu großen und schnellen Veränderungen in den Betrieben. Permanente Auftragsschwankungen, Organisationsänderungen und Umstrukturierungen sind die Folge. Und infolge der Transnationalisierung der Konzernsteuerung nimmt der Bedarf an grenzüberschreitenden Regelungen zu.[6]

Daneben haben europäische Regelungen die Transnationalisierung der Arbeitsbeziehungen in Europa forciert: die Richtlinien über Europäische Betriebsräte,[7] zur Beteiligung der Arbeitnehmer bei einer Europäischen Gesellschaft (SE),[8] zur Entsendung[9] und zur Unterrichtung und Anhörung von Arbeitnehmern.[10] Die Verhandlungsprozesse auf der Ebene der Europäischen Betriebsräte haben durch die grenzüberschreitende Interaktion zu einer wachsenden Europäisierung betrieblicher Arbeitsbeziehungen beigetragen.[11]

Die Grundlage für einen optionalen Rechtsrahmen für Transnationale Unternehmensvereinbarungen (TCA) soll der Grundsatz der Vertragsfreiheit bzw. der Tarifautonomie sein. Die Parteien sollen selbst entscheiden, ob sie in Verhandlungen treten und ob sie eine Vereinbarung abschließen. Sie entscheiden auch selbst über die Inhalte. Festgelegt wurde, dass eine unternehmensübergreifende Regelung die jeweiligen nationalen Tarifverträge nicht unterlaufen darf (»Nicht-Rückschritts-Klausel«). Eine »Günstigkeits-Klausel« soll gewährleisten, dass die jeweils günstigsten Bedingungen für die Beschäftigten den Leistungen aus diesen Vereinbarungen zugrunde gelegt werden.

Das Mandat der Verhandlungsparteien soll die Legitimität und Repräsentativität der verhandelnden Parteien klären. Damit soll ausgeschlossen werden, dass es eine »Verbetrieblichung« der Verhandlungsführung gibt oder selbsternannte Arbeitnehmervertretungen oder gar »gelbe Gewerkschaften« das Mandat an sich reißen. Das Parlament hat klar entschieden: Europäische Gewerkschaftsverbände sind der Verhandlungspartner, die die nationalen Gewerkschaftsverbände mit einbeziehen und Euro-Betriebsräte beteiligen.

Neben der Klärung des inhaltlichen und des geografischen Anwendungsbereichs, der Geltungsdauer und der Kündigungsbestimmungen sollen auch Mechanismen der Streitbeilegung vereinbart werden. Damit können bereits im Vorfeld von Verhandlungen mögliche Problemquellen ausgeschlossen werden. Ein solcher Rechtsrahmen soll optional sein. Die Verhandlungspartner sollen selbst entscheiden, ob sie sich an einen solchen Rahmen binden wollen.

Trotz des irreführenden Titels[12] befasst sich der Entschließungsantrag ausschließlich mit europäischen TCAs und nicht mit Europäischen Tarifverträgen. Doch die Inhalte von TCAs verändern sich.[13] Während zu Beginn eher die allgemeine Information und Unterrichtung im Vordergrund stand, geht es zunehmend um Weiterbildungsmaßnahmen, Arbeits- und Gesundheitsschutz, Versetzungen und den Umgang mit Restrukturierungsmaßnahmen.[14] Künftig könnten die beiden Regelungsebenen – Tarifvertrag und Betriebsvereinbarung –  stärker ineinander greifen. Das würde eine »Verbetrieblichung« der Verhandlungsebene beschleunigen und Eingriffe in Regelungsthemen verstärken, die bisher Tarifverträgen vorbehalten sind. Wollen die Gewerkschaften in diesem Prozess nicht zum ADAC für Arbeitnehmer verkümmern (F. Steinkühler), müssen sie ihr (politisches) Verhandlungsmandat besser und deutlicher formulieren.

Unsere Hauptintention bei der Erstellung des Berichts war es, die Tarifautonomie zu schützen und die Autonomie der Gewerkschaften zu sichern. Das ist gelungen. Aber es gibt noch weitere Gefahren.

Die Tarifsysteme in der EU unterscheiden sich erheblich. In den meisten anderen Mitgliedstaaten gibt es keine Abgrenzung zwischen Tarifvertrag und Betriebsvereinbarung, kein zweigleisiges System von Betriebsräten und gewerkschaftlicher Interessenvertretung. In einigen Mitgliedstaaten ist die Tarifautonomie gesetzlich, verfassungsrechtlich oder als Grundrecht verankert. Unter diesen Voraussetzungen – und unter den politischen Mehrheitsverhältnissen im Rat und im Europäischen Parlament – ist ein gemeinsames Tarifsystem weder vorstellbar noch gewünscht. Trotzdem haben grenzüberschreitende Streikmaßnahmen bereits stattgefunden. Allerdings hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) gegen die Gewerkschaften und deren Streikrechte entschieden.

Zur Lösung dieses Problems verlangten die Gewerkschaften eine so genannte »Monti-II-Regelung«. Der Entwurf für eine solche Verordnung[15] wurde von der Kommission auch präsentiert. Allerdings hätte das die faktische Einschränkung des Streikrechts bedeutet. Sie konnte in letzter Minute verhindert werden. Nur der Widerstand der Gewerkschaften, des Europäischen Parlaments und einiger Mitgliedstaaten hat die Kommission zur Rücknahme des Entwurfes gezwungen. Das ist jedoch nur ein Etappensieg!

Eine Studie[16] des Beschäftigungsausschusses zeigt klar, wie in einigen Mitgliedstaaten der EU die Ausübung des Kollektivrechts erschwert bzw. verschlechtert wird. Die massive Demontage von Kollektivrechten in den süd­europäischen Mitgliedstaaten im Windschatten der Krise, aber auch in Ungarn, zeigen die Gefahren. Sollten diese Angriffe dauerhaft erfolgreich sein, ist eine erhebliche Verschlechterung von Arbeitnehmer- und Gewerkschaftsrechten auf europäischer Ebene zu erwarten. Annahmen, eine solche Entwicklung sei an den Grenzen Deutschlands zu stoppen, sind naiv.

Weder wettbewerbskorporatistische Attitüden noch »Sozialer Dialog« sind die Instrumente, eine autoritärere Entwicklung der Zurückdrängung erkämpfter Gewerkschaftsrechte zu stoppen. Nötig ist die stärkere autonome Interessenvertretung der abhängig Beschäftigten im Bündnis mit anderen sozialen und politischen Kräften – hin zu einem sozialeren, beschäftigungsorientierten und demokratischeren Europa.

Karola Boger ist Juristin und Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Europäischen Parlament. Zuvor war sie Gewerkschaftssekretärin der IG Metall. Thomas Händel ist Abgeordneter des Europäischen Parlaments. Zuvor war er 1. Bevollmächtigter der IG Metall in Fürth.

[1] www.etuc.org/IMG/pdf/EN-ETUC-Position-on-TCA-2.pdf
[2] Commission staff working document: Transnational company agreements: realising the potential of social dialogue, SWD (2012) 264 final.
[3] Dokumente des Beschäftigungsausschusses: www.europarl.europa.eu/committees/de/empl/reports.html?linkedDocument=true&ufolderComCode=EMPL&ufolderLegId=7&ufolderId=11229&urefProcYear=&urefProcNum=&urefProcCode=#menuzone
[4] www.businesseurope.eu/Content/Default.asp?PageID=568&DocID=31047
[5] Abgestimmter Text im EP: www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=-//EP//TEXT+TA+P7-TA-2013-0386+0+DOC+XML+V0//DE&language=DE
[6] Müller, Thorsten/Platzer, Hans-Wolfgang/Rüb, Stefan: Transnationale Unternehmensvereinbarungen und die Vereinbarungspolitik Europäischer Betriebsräte, Düsseldorf 2013, S. 94.
[7] 94/45/EG, geändert durch die Richtlinie 2009/38/EG.
[8] 2001/86/EG.
[9] 96/71/EG.
[10] 2002/14/EG.
[11] Rüb, Stefan/Platzer, Hans-Wolfgang/Müller, Thorsten: Transnationale Unternehmensvereinbarungen – Zur Neuordnung der Arbeitsbeziehungen in Europa, Berlin 2011 , S. 245.
[12] Entwurf eines Berichts über grenzüberschreitende Kollektivverhandlungen und transnationalen sozialen Dialog (2012/2292(INI).
[13] EUROACTA 02/2012: European Action on Transnational Company Agreements: a stepping stone towards a real internationalisation of industrial relations/Europäische Entwicklungen zu Transnationalen Betriebsvereinbarungen: TBV: ein Meilenstein auf dem Weg zur Internationalisierung der Beziehungen zwischen den Tarifpartnern?
[14] http://ec.europa.eu/social/main.jsp?jsp?catId=978&langId=de
[15] Monti-II, Verordnung des Rats über die Ausübung des Rechts auf Durchführung kollektiver Maßnahmen im Kontext der Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit KOM(2012) 130 final, Brüssel, 21.3.2012.
[16] European Parliament study on Enforcement of Fundamental Workers’s Rights, in Auftrag gegeben vom Ausschuss für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten, September 2012. www.europarl.europa.eu/RegData/etudes/etudes/join/2012/475115/IPOL-EMPL_ET(2012)475115_EN.pdf, Dokumenten-Nr: PE 475.115, unter der selben Nr. gibt es auch eine Zusammenfassung in Deutsch im Internet.

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