27. Juni 2013 Joachim Bischoff / Bernhard Müller: Vermögensverteilung in Deutschland

Europameister in sozialer Ungleichheit

Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) hat in der Debatte über das Wahlprogramm der Unionsparteien davor gewarnt, die positive Entwicklung am Arbeitsmarkt und bei der Konsolidierung der öffentlichen Finanzen zu gefährden.

»Wir haben einen gewissen Spielraum erarbeitet, es gibt diese Gerechtigkeitslücke, das ist wahr.« Deswegen müsse man die Gerechtigkeitslücke schrittweise schließen. Die Union will im Kampf gegen Altersarmut eine Mütterrente sowie eine so genannte Lebensleistungsrente einführen. Weil CDU und CSU diese Projekte gegen den Willen des Koalitionspartners FDP und angesichts fehlender Mehrheiten im Bundesrat nicht durchsetzen konnten, wurden sie ins Wahlprogramm aufgenommen. Bei den Oppositionsparteien – mit Ausnahme der Linkspartei – kann von einem überzeugenden Aufgreifen des Themas der sozialen Gerechtigkeit keine Rede sein. In den zurückliegenden Bundestagswahlkämpfen war dies anders.

Schon im Bundestagswahlkampf 1998 stand die »Gerechtigkeitslücke« im Zentrum. Der die Bundesrepublik seit Jahrzehnten auszeichnende breite Konsens über ein hohes Maß wohlfahrtsstaatlicher Absicherung und sozialer Gerechtigkeit war in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre zunehmend brüchiger geworden, die Frage nach der sozialen Gerechtigkeit stand daher auf der Tagesordnung. Vor diesem Hintergrund präsentierten die Sozialdemokraten mit dem politisch ein breites Spektrum abdeckenden Tandem Schröder/Lafontaine 1998 nicht nur das attraktivere Personalangebot, sondern auch eine Antwort auf die »Gerechtigkeitslücke«: War einerseits Schröder weithin unverdächtig, die längst überholten Politikkonzepte des Klassenkampfes reaktivieren zu wollen und versprach eine innovative Politik, garantierte andererseits vor allem Lafontaine einen sicheren Schutz vor allzu neoliberal gefärbten Rezepten bei der Bekämpfung von Arbeitslosigkeit und Wirtschaftskrise.

Die überwältigende Mehrheit der BürgerInnen war damals überzeugt, dass die Verteilung der Einkommen und Vermögen in Deutschland nicht gerecht ist. Diese Einschätzung hat sich seither nur wenig verändert. Auch heute sind 69% der Bürger­Innen überzeugt, dass Einkommen und Vermögen nicht gerecht verteilt sind; lediglich 15% sehen hier keinen Anlass für Kritik. Je besser die eigene wirtschaftliche Situation ist, desto positiver wird der Stand der Verteilungsgerechtigkeit bewertet; doch auch in der Oberschicht sind 58% der Auffassung, dass Einkommen und Vermögen in Deutschland nicht gerecht verteilt sind, in den unteren sozialen Schichten 77%.

Die große Mehrheit hält nicht nur die bestehenden Verteilungsverhältnisse für unbefriedigend (Abbildung 1), sondern ist auch überzeugt, dass soziale Gerechtigkeit in Deutschland eher auf dem Rückzug ist (Abbildung 2). Knapp zwei Drittel der Bevölkerung sind der Auffassung, dass die soziale Gerechtigkeit in den letzten drei, vier Jahren abgenommen hat, lediglich 7% sehen eine positive Entwicklung.


Selbsteinschätzung und objektive Struktur des Reichtums und seiner Verteilung

Einer aktuellen Untersuchung der Bundesbank über »Private Haushalte und ihre Finanzen« (PHF) in Deutschland kann nun entnommen werden, wie subjektive Selbsteinschätzung und objektive Struktur der Reichtumsverteilung zueinander passen. Es handelt sich dabei um erste Ergebnisse einer Studie im Rahmen einer Untersuchung über die Vermögensverteilung in den 17 Mitgliedsländern des Euroraums für Deutschland.[1] Mithilfe einer detaillierten Befragung von 3.565 Haushalten wurden zwischen September 2010 und Juli 2011 erstmals Einzeldaten zum Vermögen und der Verschuldung privater Haushalte in Deutschland erhoben.

Die aus den Selbsteinschätzungen der Befragten gewonnenen Werte über Verteilung und Zusammensetzung der Vermögen auf Haushaltsebene werden dabei verglichen mit den Schätzungen, wie sie sich aus den Vermögensstatistiken der Finanzierungsrechung der Bundesbank und der Sachvermögensrechnung des Statistischen Bundesamts ergeben. Im Ergebnis ist die »Abdeckung des Vermögens durch das PHF als gut zu bezeichnen. Das Nettovermögen des Sektors ›Private Haushalte‹ (einschl. der Privaten Organisationen ohne Erwerbscharakter) wird vom PHF zu annähernd 90% abgedeckt.« (MB: 29) Die aus der subjektiven Befragung gewonnenen Daten (Nettovermögen: 7,7 Mrd. Euro) unterzeichnen dabei das tatsächliche Vermögen (8,7 Mrd. Euro) und seine ungleiche Verteilung noch. Die Unterschiede erklären sich u.a. aus der unterschiedlichen Abgrenzung der befragten bzw. erfassten Population. Zu den für die Unterzeichnung der tatsächlichen Vermögenshöhe und -verteilung gewichtigen Faktoren gehört aber auch, »dass die extrem reichen deutschen Haushalte typischerweise nicht in den Stichproben einer Befragung repräsentiert sind. Da diese aber einen beträchtlichen Teil des Vermögens halten, fehlt aus erhebungstechnischen Gründen ein Teil des Vermögens im Vergleich zu den Aggregaten. Dies hat vor allem Auswirkungen auf hochgerechnete Werte und Mittelwerte.« (ebd. 28)


Europameister in Sachen sozialer Ungleichheit

Die Ergebnisse der Bundesbank-Studie bestätigen im Wesentlichen die Daten einer Untersuchung der Credit Suisse aus dem Jahr 2012. Danach weist Deutschland bei der Vermögensverteilung nach den Niederlanden die größte soziale Asymmetrie im Euroraum aus.[2]

Nach der Bundesbank-Untersuchung lag das geschätzte durchschnittliche Vermögen der privaten Haushalte in Deutschland bezogen auf den Zeitpunkt Ende 2010 bei brutto 222.200 Euro. Abzüglich der Verschuldung – also netto – waren es 195.200 Euro. Das ist aber nur der Durchschnitt, die Summe aller Vermögenswerte geteilt durch die Anzahl der Haushalte. Doch eine solche Zahl hat nur beschränkte Aussagekraft. Denn wenn von zwei Menschen einer ein Vermögen von 100.000 Euro besitzt und der andere gar nichts, dann verfügen beide im Durchschnitt über 50.000 Euro.

Um das Vermögen eines mittleren Vermögenshaushalts realitätsnäher zu erfassen, greifen Statistiker auf den so genannten Median zurück. Wenn alle Haushalte gemessen an ihren Vermögen aufgereiht werden, ist der Medianwert die mittlere Position: Für diese Position gibt es ebenso viele reichere wie ärmere Haushalte. Dieser Median liegt für Deutschland brutto bei 67.900 Euro. Werden die Schulden herausgerechnet, sind es netto noch 51.400 Euro. (Tabelle 1)

Dass der Median so deutlich unter den Durchschnittswerten liegt, demonstriert, dass vergleichsweise wenige Haushalte über ein großes Vermögen verfügen, dass die Vermögen in Deutschland also sehr ungleich verteilt sind. »Die große Differenz zwischen Mittelwert und Median und die Tatsache, dass 73% der Haushalte ein unterdurchschnittliches Vermögen haben, deuten auf eine ausgeprägte Vermögensungleichheit in Deutschland hin. Dieses Bild bestätigt sich, wenn man klassische Verteilungsmaße betrachtet, wie den Gini-Index (Tabelle 2a) oder den Anteil der reichsten 10% unter den Haushalten am Gesamtvermögen (Tabelle 2b). Für das Nettovermögen ergibt sich ein Gini-Index von 75,8%. Den reichsten 10% der Haushalte gehören 59,2% des Nettovermögens. Zum Vergleich, für den Euro-Raum (ohne Deutschland) liegt der Gini-Index bei 63%, den reichsten 10% der Haushalte gehören 46,5%.« Um zur Gruppe des reichsten Zehntels zu gehören, braucht es in Deutschland gut 440.000 Euro.

Ein gewichtiger Faktor bei der Ungleichverteilung der Vermögen ist der Immobilienbesitz. In Deutschland liegt das Nettovermögen der Mieter-Haushalte mit im Mittel 47.800 Euro deutlich unter dem der Haushalte mit Wohneigentum. Für Eigentümer mit Hypothekarkredit sind die Nettovermögen etwa fünfmal und für Eigentümer ohne Hypothekarkredit sogar zehnmal so hoch. Die Grenze zwischen den 90% ärmeren und 10% reichsten Mietern liegt bei rund 99.000 Euro für das Nettovermögen. Im Vergleich dazu benötigt ein Haushalt mindestens 737.600 Euro Nettovermögen, um zu den 10% reichsten Haushalten mit Immobilienbesitz ohne Hypothekarkredit zu gehören.

Interessant ist, dass sowohl der Durchschnittswert als auch der Median des Nettovermögens in Deutschland niedriger liegt als in anderen großen Ländern des Euro-Raums, wie sich aus der EZB-Studie[3] ergibt. In Frankreich liegt das Median-Nettovermögen mit 113.500 Euro mehr als doppelt so hoch wie in Deutschland. In Spanien (178.300 Euro) und Italien (163.900) ist der Wert sogar mehr als drei Mal so hoch. In Österreich liegt er bei 76.400 Euro (Abbildung 3).


Der Umstand, dass ein durchschnittlicher spanischer oder zypriotischer Haushalt mehr Vermögen als ein deutscher besitzt, hat bei Veröffentlichung der EZB-Studie zu einigen Irritationen geführt. Angesichts der vielen Milliarden Euro an »Stabilisierungshilfen« für Länder wie Griechenland, Portugal und Zypern bergen solche Zahlen einigen politischen Sprengstoff. Das sei auch ein Grund, warum die EZB die Veröffentlichung der Daten so lange hinausgezögert habe, bis das Stabilisierungsprogramm für Zypern beschlossen wurde. Die EZB begründet die relativ späte Veröffentlichung allerdings damit, dass die letzten Daten erst Anfang März eingetroffen und für die Studie noch einige statistische Arbeiten erforderlich gewesen seien.

Für die im europäischen Ländervergleich relativ niedrigen privaten Vermögen in Deutschland gibt es ein Bündel von Erklärungen:

  • Erstens ist die Ungleichheit in der Verteilung der Vermögen in Deutschland besonders groß. Die Berliner Republik weist bei der Vermögensverteilung mit einem Gini-Koeffizienten von 76 die größte soziale Schieflage im Euroraum aus. So verfügt der Medianhaushalt mit 51.400 Euro nur über 26% des Vermögens des Durchschnittshaushalts (195.200 Euro). Im Durchschnitt des Euroraums liegt der entsprechende Wert bei 47%. Das hat zum einen mit der wachsenden Ungleichheit bei den Primäreinkommen (drastisch sinkende Lohnquote) in den letzen 20 Jahren zu tun, zum anderen aber auch mit der die Vermögenden in diesem Land enorm begünstigenden Steuerpolitik (Abschaffung Vermögenssteuer, Steuersenkungen für Unternehmen und Vermögensbesitzer).
  • Zweitens gibt es in Deutschland einen vergleichsweise niedrigen Anteil von Eigenheimbesitzern. In Spanien beispielsweise leben 83% der Haushalte in einer eigenen Immobilie, in Italien sind es 69%. In Deutschland ist die selbst genutzte Immobilie zwar ebenfalls der wichtigste Aktivposten beim Vermögensaufbau. Allerdings spielt Immobilienbesitz für das Gros der Bevölkerung eine deutlich geringere Rolle als etwa im Süden Europas. So liegt der Anteil der Eigentümer mit einem Hauptwohnsitz im gesamten Bundesgebiet bei 44,2%. In Ostdeutschland fällt er mit 33,7% sogar noch geringer aus.
    Das Grundeigentum hat in den letzten Jahrzehnten große Preis- und Wertschwankungen durchlaufen. Bis zum Platzen der Immobilienpreisblasen sind die Werte vor allem in den heutigen Krisenländern wie Spanien, Zypern, Griechenland und Italien gleichsam explodiert, während der bis heute anhaltende Wertsenkungsprozess in den meisten Ländern noch nicht abgeschlossen ist. Diese Entwertung von fiktivem Kapital ist in den Daten der Europäischen Zentralbank z.T. noch gar nicht erfasst, weil etwa für Spanien erst die Zahlen für 2008 vorliegen. Für Zypern stammen die Daten aus 2010, damals erreichten die Hauspreise auf der Insel ihren Höhepunkt, sie hatten sich seit 2002 mehr als verdoppelt, während es in Deutschland in diesem Zeitraum nicht zur Ausbildung einer Immobilienpreisblase gekommen ist.
    Bei der Bewertung der in der EZB-Studie ausgewiesenen privaten Vermögen in den einzelnen Ländern des Euroraums muss außerdem in Rechnung gestellt werden, dass die Daten zum einen auf persönlichen Befragungen basieren, die Befragten also Schätzungen über den Wert ihres Vermögens machen, die über- oder untertrieben sein können, und zum anderen Haushalte und nicht Einzelpersonen betrachtet wurden. Das aber hat Folgen, da in deutschen Haushalten im Durchschnitt deutlich weniger Personen leben als in spanischen oder italienischen. Rechnet man auf das Pro-Kopf-Einkommen um, ist das durchschnittliche Privatvermögen in Westdeutschland höher als in Griechenland, Spanien und Frankreich.
    Während in anderen Ländern also selbst genutzte Immobilien zu einem nicht unerheblichen Teil in den Vermögensvergleich einfließen, ist der typische Haushalt in Deutschland oder auch Österreich ein Mieterhaushalt. In Österreich zum Beispiel ist ein großer Anteil der städtischen Wohnungen – in Wien wohl mehr als die Hälfte – im Besitz der öffentlichen Hand. Diese Art von Vermögen taucht in den Statistiken über die privaten Vermögen nicht auf. Für Deutschland spricht die Bundesbank in diesem Zusammenhang von einem »breiten und differenzierten Markt für Mietwohnungen«, der »fortwirkendes Resultat der Wohnungsbaupolitik im Gefolge des zweiten Weltkriegs« ist. Allerdings sind auch in Deutschland die Zeiten des öffentlichen Wohnungsbaus seit geraumer Zeit passé.
    Auch in Deutschland stehen dabei Hauseigentümer besser da als Haushalte ohne Wohneigentum: »Der Medianwert des Nettovermögens von Eigentümern einer entschuldeten Immobilie liegt in Deutschland bei 255.600 Euro. Bei Eigentümern einer hypothekarisch belasteten Immobilie ergibt sich ein Medianwert von 160.200 Euro. Bei Mieterhaushalten sind es nur 10.300 Euro«, schreibt die Bundesbank.
  • Drittens fehlen im Ländervergleich der Vermögen gänzlich die öffentliche Infrastruktur (Sozialwohnungen, Straßen, Schulen etc. – also das öffentliche Eigentum), die den BürgerInnen zur Verfügung steht, und die Sozialsysteme, die in den Ländern mit relativ niedriger Wohneigentumsquote in der Regel entwickelter sind als in denen mit großen privatem Vermögen und hoher Wohneigentumsquote. So tauchen etwa die Ansprüche an die staatliche Rentenversicherung in keiner Statistik auf. »Für viele decken die Sozialversicherungen und die vom Staat bereitgestellten öffentlichen Güter die meisten der Lebensrisiken und Grundbedürfnisse zumindest prinzipiell ab: Arbeitslosigkeit, Alter, Krankheit, Pflegebedürftigkeit und die Bildung auf Schulen und Universitäten.« (Bundesbank) Allerdings haben die Privatisierungs- und Deregulierungspolitik im Zusammenspiel mit der Steuersenkungspolitik auch in Deutschland die Rolle des öffentlichen Eigentums und der öffentlichen Dienstleistungen für die Lebensverhältnisse der Bevölkerung stark reduziert und das »soziale Eigentum« (Castel) der Lohnabhängigen durch Kürzung der Sozialleistungen drastisch gemindert.
  • Viertens spielt auch die deutsche Wiedervereinigung und der Einkommenstransfer in die neuen Bundesländer für die relativ niedrigen Vermögen eine Rolle. Betrachtet man allein Westdeutschland, dann beträgt das Durchschnittsvermögen wie in Frankreich rund 230.000 Euro und der Median knapp 79.000 Euro ähnlich wie in Österreich, wo der private Immobilienbesitz genauso selten ist wie hierzulande. Umso geringer sind die Vermögen im Osten Deutschlands, wo die Haushalte im Durchschnitt ein Nettovermögen von 67.000 Euro haben und im Median nur 21.400 Euro.
  • Zu ganz anderen Ergebnissen kommt man fünftens auch, wenn man gar nicht auf das Vermögen, sondern auf die finanzielle Leistungsfähigkeit der Haushalte schaut. Mit weitem Abstand ist das Einkommen pro Haushalt in Luxemburg am höchsten: Im Durchschnitt liegt es bei 83.700 Euro pro Jahr. Der Median liegt immerhin noch bei 64.800 Euro. Über weit weniger, aber immer noch mehr als die meisten anderen Euro-Länder, verfügen Belgien (49.500 Euro/Median: 33.700 Euro), die Niederlande (Durchschnitt: 45.800 Euro/Median:40.600 Euro), Finnland (Durchschnitt: 45.100 Euro/Median: 36.300 Euro) und Deutschland (43.500 Euro/Median: 32.500 Euro). Zum Vergleich: In der Eurozone liegt das durchschnittliche Einkommen pro Haushalt bei 37.800 Euro, der Median nur bei 28.600 Euro – ein Unterschied von 32%. Das ist deshalb so wichtig, weil eben genau diese Abweichung einen Hinweis auf die Verteilung der Einkommen gibt. Auch hier zeigt sich der Zahlmeister Deutschland als Spitzenreiter in Sachen sozialer Spaltung. Er ist bei den Einkommen der Haushalte nach Belgien das Land mit der höchsten Abweichung (34%) zwischen Durchschnitts- und Medianwert.

Der im Bundesbank- wie EZB-Bericht dokumentierten krassen Ungleichheit in der Verteilung der Vermögen (und der Einkommen) innerhalb und zwischen den Nationen des Euroraums unterliegt die wachsende Spreizung der Primäreinkommen. Diese Disparitäten in der Einkommens- und Vermögensverteilung sind aber nicht nur sozial ungerecht, sondern bedrohen auch die weitere wirtschaftliche Entwicklung. Stagnierende bzw. sinkende Lohneinkommen und Sozialtransfers wie auch die durch die steuerliche Begünstigung der Vermögenseinkommen erzwungene Begrenzung der Staatsausgaben (Kürzungen öffentlicher Ausgaben für die Infrastruktur und Dienstleistungen) schwächen die inländische Nachfrage. Um aus deflationären Konstellation herauszukommen, gibt es reichlich gesellschaftliche Stellschrauben. Dazu gehören auch die massiven Eingriffe in die Verteilungsstrukturen (Erhöhung der Einkommenssteuer für Besserverdienende, Wiedereinführung der Vermögenssteuer etc.), die die Vermögensbesitzer zur Finanzierung öffentlicher Investitionen (Erhalt und Ausbau des öffentlichen Vermögens) und zur Begrenzung der staatlichen Verschuldung heranziehen. Für einen solchen Kurswechsel zeichnen sich allerdings gegenwärtig keine mehrheitsfähigen gesellschaftlichen Bündnisse ab.

Für die Unionsparteien (für die FDP sowieso) sind Eingriffe in die Verteilungsstrukturen nach wie vor tabu. Sie setzen darauf, über die durch Wirtschaftswachstum und Steuermehreinnahmen gewonnenen Spielräume die Gerechtigkeitslücke allmählich zu schließen.

Sie profitieren dabei erstens davon, dass die Bundeskanzlerin wegen des Euro-Krisenmanagements immer noch hoch im Ansehen steht, und zweitens für größere Teile der Bevölkerung vor dem Hintergrund der immer noch relativ stabilen Arbeitsmarktlage und teilweise verbesserter Lohneinkommen die Bekämpfung der sozialen Ungleichheit zwar ein wichtiges Thema ist (Unterschiede zwischen Reich und Arm abbauen), Eingriffe in die Verteilungsstrukturen etwa durch eine andere Steuerpolitik aber gegenwärtig kein vorrangiges Anliegen sind. »Die Besserstellung der unteren Schichten wird von vielen für wichtiger gehalten als höhere Lasten für die oberen Schichten. Zwar wünschen sich vier von zehn Bürgern, dass sich die nächste Regierung auch der Erhöhung des Spitzensteuersatzes und der Wiedereinführung der Vermögenssteuer annimmt. Damit rangieren diese Themen in der politischen Agenda jedoch weit unten. Die überwältigende Mehrheit weist der Regierung vor allem die Aufgaben zu, die Entwicklung der Energiepreise einzudämmen, dafür zu sorgen, dass Rentner ausreichend abgesichert sind und darauf zu achten, dass Deutschland sich bei der Bewältigung der Krise in der Eurozone nicht übernimmt.«[4] Die Sozialdemokratie hat zwar einige Korrekturen an der Agenda 2010-Politik vorgenommen (Mindestlohn, Regulierung Leiharbeit, Wiedereinführung Vermögenssteuer etc.), bleibt allerdings wegen ihrer Halbherzigkeiten und inneren Widersprüche sowie einem fehlenden Konzept, wie sozialer Ausgleich und gesellschaftliche Erneuerung miteinander zu verbinden sind, noch weit entfernt von einer glaubwürdigen Repräsentanz sozialer Gerechtigkeit.

Joachim Bischoff ist Mitherausgeber, Bernhard Müller Redakteur von
Sozialismus.

[1] Vermögen und Finanzen privater Haushalte in Deutschland: Ergebnisse der Bundesbankstudie, in: Deutsche Bundesbank, Monatsbericht Juni 2013, S. 25ff. (im folgenden zitiert als MB). Die Umfrage wurde im Rahmen der Panelstudie »Private Haushalte und ihre Finanzen« (PHF) zwischen September 2010 und Juli 2011 durchgeführt. Die Untersuchung ist Teil des »Household Finance and Consumption Survey«. Das ist eine neue harmonisierte Befragung, die in allen Ländern des Euro-Raums durchgeführt wird. Ziel der Erhebungen sei die weitere Verbesserung der Entscheidungsgrundlagen der Zentralbanken im Eurosystem, schreibt die Bundesbank. Die Studienergebnisse könnten das Verständnis des Konsum- und Sparverhaltens oder der Verteilung von Vermögen und Verschuldung der privaten Haushalte verbessern. Dies ermögliche unter anderem eine bessere Beurteilung der Wirkung der Geldpolitik oder der Stabilität des Finanzsystems.
[2] Siehe den Bericht »EZB zögert Studie über Reichtum hinaus«, in FAZ, 12.3.2013, S. 9.
[3] Siehe The Household Finance and Consumption Network (HFCN (2013)‚ The Eurosystem Household Finance and Consumption Survey – Results from the First Wave, Statistical Paper Series, No. 2. Bei der Interpretation der europäischen Daten ist allerdings Vorsicht angebracht. So stammen Zahlen aus unterschiedlichen nationalen Studien, die noch dazu in unterschiedlichen Jahren durchgeführt wurden – die spanische Untersuchung etwa stammt aus dem Jahr 2008, als von der Euro-Krise noch keine Rede war. Die deutsche Analyse beruht hingegen auf der repräsentativen Befragung von 3.565 Haushalten in den Jahren 2010 und 2011.
[4] Renate Köcher: Schwieriges Wahlkampfthema Steuern, in FAZ, 19.6.2013.

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