1. Oktober 2006 Redaktion Sozialismus

Flucht des Wählers und das Beharrungsvermögen der Linken

"Normalisierung" heißt die Zauberformel, mit der sich die politische Klasse und die Medien den Erosions- und Zerstörungsprozess der demokratischen Willensbildung schönreden.

Da auch beim großen Vorbild – den USA – längst Wahlbeteiligungen um die 40% der Stimmberechtigten als "normal" gelten, müsse man die Tendenz zunehmender Wahlenthaltung achselzuckend hinnehmen. Immerhin: Gemessen an anderen Landtagswahlen – wo die 50%-Marke schon unterschritten wurde – war die Wahlbeteiligung in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern mit knapp 60% nicht einmal extrem schlecht.

Zu Recht konstatiert der Politikwissenschaftler Franz Walter: "Im Rückgang der Wahlbeteiligung drückt sich seit nunmehr zwei Jahrzehnten signifikant die soziale Spaltung der Gesellschaft aus." Es hat sich auch hierzulande ein Phänomen verfestigt, das wir aus anderen Demokratien kennen: Vor allem die unteren sozialen Schichten verweigern die demokratische Teilhabe, ganze Stadtteile mit prekarisierter Sozialstruktur koppeln sich von der demokratischen Willensbildung ab. "Desintegration führt zum Aus- und Rückzug, zur Enthaltung bei öffentlichen Angelegenheiten... Man hofft nicht mehr, dass Parteien und Politik das Schicksal wenden." Die Flucht aus der politischen Partizipation erreicht mittlerweile auch die jüngeren Wähler der gut ausgebildeten und sozial leidlich arrivierten Schichten.

Wählerflucht führt zur Verstärkung der sozialen Abgehobenheit und Eigenlogik der politischen Klasse. Politik wird zu einer selbstreferenziellen Veranstaltung mit zunehmendem Verlust an gesellschaftlicher Realität. Vermutlich werden wir bei den kommenden Urnengängen neben einer niedrigen Wahlbeteiligung mit einem weiteren Phänomen konfrontiert: Die Wählerflucht schlägt in eine Wiederkehr des Rechtsextremismus um. Doch auch dafür kennen wir bereits die Verarbeitungsformen: Nach einigen Betroffenheitsübungen über den Zerfall demokratischer Kultur kehrt man zum Alltagsgeschäft zurück. Zur "Normalisierung" gehört dann auch das Sich-Festsetzen von rechtsextremen Positionen in den Parlamenten.

Die Flucht des Wählers hat bei den Sozialdemokraten deutliche Spuren hinterlassen. In Mecklenburg-Vorpommern haben fast 150.000 nicht mehr für die SPD gestimmt, was freilich in der Prozentverteilung nichts daran ändert, dass sie den Regierungschef stellen und ihre bisherige Politik fortsetzen wird. Selbst Klaus Wowereit, der neue Hoffnungsträger der SPD, wird wissen, wie dünn das Eis ist, wenn er über die Stabilisierung seiner Partei jubelt: In Berlin gingen ihr 57.000 Wähler von der Stange. Doch Lernerfolge beim politischen Personal sind daraus nicht zu erwarten. Die SPD ist weiterhin die führende Kraft in den Landesregierungen und kann sich aussuchen, ob sie mit Parteien des bürgerlichen Lagers (CDU und Grüne) die Regierungsgeschäfte fortführen oder aber die Linkspartei weiterhin einem Entzauberungsdruck aussetzen will.

Die Linkspartei.PDS ist gründlich "entzaubert" worden. In Gesamtberlin hat sie über 180.000 Stimmen verloren, in den Ostbezirken gingen 147.000 WählerInnen von der roten Fahne. Die linke Konkurrenzkandidatur WASG konnte demgegenüber mit 40.000 Stimmen dem Protest gegenüber der rot-roten Senatspolitik einen unmissverständlichen Ausdruck verleihen. Aber auch die Linke in Mecklenburg-Vorpommern kann sich nur oberflächlich über die Verbesserung ihres Stimmanteils von 16,4 (2002) auf 16,8% (2006) freuen. Tatsächlich hat die Linkspartei.PDS dort 20.000 Stimmen verloren.

Welche Schlussfolgerungen wird die Linke aus diesem Wahlergebnis ziehen? Die deutliche Mehrheit ihrer Mandats- und Funktionsträger hat erkennen lassen, dass sie dem Charme der Regierungsbeteiligung weiterhin zu folgen gedenkt, wenn sie denn von der SPD dazu aufgefordert wird. Wenn die SPD hingegen abwinkt, wäre die Option offen, ohne Auseinandersetzungen um Regierungsbeteiligungen und "Realpolitik" in der Opposition den Prozess der Formierung einer gesamtdeutschen Partei der neuen Linken zu Ende zu bringen.

Seit dem gemeinsamen Antritt von PDS und WASG zur vorgezogenen Bundestagswahl 2005 steht der Parteibildungsprozess auf der Tagesordnung. Die WASG ist gegründet worden, weil die PDS in ihrer politischen Praxis, Programmatik und Parteikultur die gesellschaftlichen Protestpotenziale in den westlichen Bundesländern nicht erreicht hatte. Das Ziel war, über eine politische Neugründung der Linken dauerhaft eine Veränderung der politischen Kultur und Gesellschaft in ganz Deutschland mit herbeizuführen. In den bisherigen Landtagswahlen seit den vorgezogenen Bundestagswahlen im September 2005 (Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz, Sachsen-Anhalt, Berlin und Mecklenburg-Vorpommern) und auch in den verschiedenen Kommunalwahlen konnte kein überzeugender Erfolg errungen werden. Allein ein organisatorisches Zusammengehen bringt keinen Einbruch in neue Wählerschichten. Es muss zentral darum gehen, nicht nur glaubwürdig Alternativen zum Neoliberalismus zu vertreten, sondern – bei allen Unterschieden in der Begründung und Gewichtung – die nächsten Schritte der Veränderung aufzuzeigen.

Immer wieder wird gefordert, die Linke müsse das Bild der Zerrissenheit überwinden. Es ist aber nicht das Bild der streitigen Debatte, das für den mangelnden Erfolg verantwortlich ist. Die Linke muss ihre Widersprüche kontrovers und offen austragen; abschreckend für einen Teil der WählerInnen sind die ausgrenzenden und autoritären Formen, mit denen unvermeidliche Konflikte und unterschiedliche Sichtweisen behandelt werden.

Zwar lässt sich nicht bestreiten, dass Konkurrenzkandidaturen das Bild einer zerrissenen Linken befördert haben. Ebenso richtig ist, dass die neue Parteilinke bislang nicht deutlich gemacht hat, was ein grundlegender Politikwechsel in Stadtstaaten, Bundesländern und Kommunen faktisch bedeuten kann. Solange die Führungen von Linkspartei und WASG nur das Bild einer einigen Linken beschwören, die inhaltlich-programmatische Grundlage einer Politik gegen den neoliberalen Gesellschaftsumbau aber ausgeklammert bleibt, wird der Parteibildungsprozess weiter an Schwung verlieren.

Die Kritik an der politischen Programmatik und Praxis der PDS – später Linkspartei.PDS – war schon vor der gemeinsamen Kandidatur zu den vorgezogenen Bundestagswahlen 2005 strittig. Bekanntlich vertraten führende PolitikerInnen der WASG die These von einer 90-prozentigen Übereinstimmung – den Praxistest hat diese Hypothese nicht bestanden. Im Vorfeld der Landtagswahlen in Berlin spitzte sich die Frage über die Grundlinien einer alternativen Regionalpolitik zur neoliberalen Praxis zu. Hierin liegt eine der großen Baustellen des Parteibildungsprozesses.

Die Formierung einer neuen Partei erweist sich eher als zermürbender, denn als munterer, motivierender Prozess. Weshalb ist der Schwung verloren gegangen? Der angestrebte grundlegende Politikwechsel hat entscheidend mit den materiell-ökonomischen Strukturen und Verteilungsverhältnissen zu tun. Die Verständigung über die konkrete Ausgestaltung von Alternativen ist keine einfache Sache. Ohne einen Konsens über die materiellen, oder – wie Walter Benjamin in seinen Thesen "Über den Begriff der Geschichte" (1940) sagt – "rohen" Dinge gibt es keine Vorstellung über die "feinen" und spirituellen oder kulturellen Unterschiede. "Trotzdem sind diese letzteren im Klassenkampf anders zugegen denn als die Vorstellung einer Beute, die an den Sieger fällt. Sie sind als Zuversicht, als Mut, als Humor, als List, als Unentwegtheit in diesem Kampf lebendig" – oder zeitweilig auch nicht.

Die politische Linke steht weiterhin unter sozialem Druck, sich über die materiellen und rohen Dinge zu verständigen, aber zugleich in den gesellschaftlichen Konflikten die Bilder einer besseren Zukunft anschaulich zu machen. Der neoliberale Umbau geht unter der schwarz-roten Regierungskoalition weiter: Verschlechterungen bei Hartz IV, Verlängerung der Lebensarbeitszeit bis 67, Steuersenkungen für Unternehmen und Umbau des Gesundheitssystems. Zwar wächst die Enttäuschung der WählerInnen über die etablierten Parteien, aber der gesellschaftliche Widerstand ist zersplittert.

Die Entwicklung einer neuen politischen Formation unterstellt eine Reform des Bewusstseins und des politischen Willens. Wer die utopischen Bilder oder Traumenergien durch pragmatische Realpolitik oder Dogmen ersetzen will, wird weder die parteipolitischen Aktivisten in Schwung bringen noch enttäuschte und frustrierte WählerInnen begeistern können.

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