1. Mai 2004 Redaktion Sozialismus

Fortsetzung der Agenda 2010 – Fortsetzung des Protests

Rund 500.000 Menschen haben allein in Deutschland am europäischen Aktionstag dem Regierungsbündnis aus Sozialdemokratie und Grünen die rote Karte gezeigt. Der generelle Tenor der Proteste: Das Projekt der Agenda 2010 ist Mist. Es bringt weder die versprochene Besserung auf dem Arbeitsmarkt, noch sind die Lasten des Sozialumbaus einigermaßen gerecht verteilt.

Die Regierungskoalition zeigt sich unbeeindruckt. Ihre Argumentationsbausteine: Erst ansatzweise umgesetzt, zeige die Agenda schon Wirkung. Zwar schwächele die Konjunktur noch, gleichwohl sei eine Aufwärtsbewegung erkennbar. Auf der Hannovermesse erklärt Schröder den Wirtschaftsbossen: "Die Agenda 2010 werden wir fortsetzen, weil es das Programm ist, das Sozialstaatlichkeit auf hohem Wohlstandsniveau auch für unsere Kinder sichert." Der Sozialstaat sei nicht am Ende: die Praxisgebühr sei keine Frage sozialer Gerechtigkeit. Die Kritiker in Gewerkschaften, Sozialverbänden und sozialen Bewegungen sollten gefälligst "von Schlaumeierei zur Sachlichkeit" (Müntefering) zurückkehren.

Agenda 2010 – light oder knallhart?

Vom Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) und seinem Präsidenten Rogowski werden seit geraumer Zeit Dankadressen an das Bundeskanzleramt abgeschickt. Die Regierung sei auf dem richtigen Weg und – wie der Kanzler selbst betont – erst am Anfang des "Reform"prozesses. Der BDI fordert vier weitere "Meilensteine":
1. bis 2006 Verabschiedung einer weiteren Steuerreform mit einem niedrigen Steuersatz ohne Ausnahmen;
2. längere Arbeitszeiten (42 Stunden als Normalarbeitszeit) auf höherem Flexibilitätsniveau;
3. in der Gesundheitspolitik Entkopplung von Versicherungs- und Beschäftigungsverhältnis (Kopfprämien);
4. Fortsetzung der Renten"reform" mit einer Erhöhung des Eintrittsalters auf 67 Jahre.

Was bleibt der bürgerlichen Opposition bei so viel Übereinstimmung in den Richtungsentscheidungen anders, als die Flucht nach vorne anzutreten? Die Agenda werde zu zaghaft umgesetzt, lasse schnelle Wirkung vermissen und verunsichere daher die Mehrheit der Bevölkerung. Das durch den (wahrscheinlichen) neuen Bundespräsidenten Köhler vereinte bürgerliche Lager werde mit dieser Mentalität aufräumen. Merkel: "Wir wollen die notwendigen Reformen knallhart und in zwei Jahren umsetzen." "Agenda 2010 light" oder "Agenda 2010 knallhart"!

2004 ist ein Jahr der Weichenstellungen. Europa-, Landtags- und Kommunalwahlen – die wichtigste in NRW – geben Aufschluss über die aktuellen politischen Kräfteverhältnisse, damit über die Aufstellung im Wahljahr 2006. Zivilgesellschaftliche Organisationen und Bewegungen haben ihren Handschuh in den Ring geworfen. Wahlalternativen, die aus der miserablen Logik der berüchtigten zwei politischen Übel ausbrechen wollen, konstituieren sich.

Druck durch Arbeitslosigkeit

Was sind die zentralen inhaltlichen Weichenstellungen? Und in welchen Manövern werden sie vorgenommen? Politik funktioniert nicht nach den Gesetzen der Geometrie. Die politische Entscheidungsfindung geht nur selten direkte Wege. Meist führt der schnellste Weg zwischen zwei Punkten über Nebenstrecken. Die Arbeitsmarktpolitik liefert dafür Anschauungsmaterial. Die direkte Ansteuerung des Ziels, das Arbeitslosengeld zu kürzen, die Arbeitslosenhilfe abzuschaffen und Niedriglöhne als arbeitsmarktpolitische Innovation anzudienen, hätte mit Sicherheit unkalkulierbare Widerstände provoziert. Da bot es sich an, die statistische Überhöhung der Vermittlungsleistungen der Bundesanstalt für Arbeit zu skandalisieren, um über die im Grunde nichtssagende Parole "Vermitteln statt bürokratisch verwalten" letztlich die Arbeitslosen zu Tätern zu stempeln. Für die gilt: Auch der mieseste Job ist zumutbar – man muss die Lohnersatzleistungen nur auf oder unter das Existenzminimum drücken. An die Nebenstrecke ("Skandal bei der Bundesanstalt") erinnert sich nach knapp zwei Jahren kaum noch jemand, doch das Ziel ist erreicht: Die Arbeitslosigkeit ist billiger und sie wirkt verbilligend.

Gleichsam nebenbei hat man Grundsatzentscheidungen auf den Weg gebracht. Zum Beispiel die, die Arbeitskraft wie jede Ware zu behandeln und die soziale und gesamtwirtschaftliche Regulierung des Arbeitsmarktes abzuschaffen. Oder die, das Sozialversicherungsprinzip im Grunde abzuschaffen und durch ein (wenn man so will spätviktorianisches) Fürsorgeprinzip zu ersetzen.

Doch abgeschlossen ist das soziale Spaltungsprogramm "Hartz IV" noch nicht. Die administrativen Befugnisse zwischen Bundesagentur, Länder und Kommunen sind unklar, die Finanzierung nicht gesichert, der Umbau der Bundesagentur eine Baustelle. Es knirscht gewaltig in der Umsetzungsmaschinerie und die Zeit bis zum 1.1.2005 wird knapp. Hier hat entschlossenes politisches Widerstandshandeln Chancen, die Aussonderung einer halben Million Langzeitarbeitsloser aus jeglichem Leistungsbezug, die massenhafte Verarmung künftiger ALG II-Bezieher, das Unter-Druck-Setzen von Arbeitslosen, damit diese Druck auf die Beschäftigten ausüben, und das erzwungene Unterlaufen von Tarifverträgen ("Zumutbarkeit") zu skandalisieren. Wie weiter nach dem 3. April? Hier ist eine breite soziale Bewegung gefordert.

Sonderwirtschaftszone Ost

Eine weitere Nebenstrecke führt über die ostdeutschen Bundesländer. SPD-Minister Stolpe sieht mit der Agenda 2010 zwei Strukturprobleme – wirtschaftliche Schwäche und Überforderung des Systems sozialer Sicherung – gelöst. Jetzt komme es darauf an, das Innovationspotenzial der Republik zu aktivieren und die Gräben zwischen West und Ost zuzuschütten. Was soll der Zusammenhang zwischen Agenda 2010 und "Aufbruch Ost" bringen?

Stolpe ist sich mit Dohnanyi und Most[1] in zwei Bewertungen einig:
1. Sie vertreten die Auffassung, dass "der ungebrochene innerdeutsche West-Ost-Transfer (etwa 4% des westdeutschen Bruttosozialprodukts jährlich, ca. 90 Mrd. EUR in 2003), und andere Folgen der deutschen Vereinigung, zu etwa Zwei-Drittel für die heutige Wachstumsschwäche Deutschlands direkt oder indirekt ursächlich sind."
2. Daraus folgt, dass die Agenda 2010 erst dann etwas gebracht hat, wenn die Zwei-Drittel-Last, die vom Osten kommt, beseitigt ist. "Anhaltende Arbeitslosigkeit, sinkendes Rentenniveau, fortdauernde Abwanderung produktiver, insbesondere jugendlicher Kräfte und hochverschuldete Gemeinden werden bei Fortsetzung heutiger Tendenzen den West-Ost-Transferbedarf zukünftig vermutlich sogar noch ansteigen lassen, es sei denn, man werde die Neuen Länder erneut der Vernachlässigung aussetzen."

Schlussfolgerung: "Der Osten" soll mit Macht auf Weltniveau gebracht werden. Das hat man in 15 Jahren des öfteren gehört. Doch auch in diesem Fall ist der Weg (Nebenstrecke) das Ziel: "Für die Stärkung im Osten brauchen wir in erster Linie bessere Erträge... Vorschläge gibt es genug: offene Flächentarife; vertiefte Förderung von Forschung und Entwicklung; Lohnkostenzuschüsse zum Ausgleich niedriger, aber wettbewerbsfähiger Löhne; günstigere Ertragsteuern."[2] Diese Parolen sind antiquiert, abgenudelt wie Schallplatten mit einem Sprung in der Rille. Auch gegen die Perspektivlosigkeit dieser Therapie nach dem Motto: "Erhöhe die Dosis, solange der Patient noch lebt", sind am 3. April eine halbe Million Menschen in Berlin, Köln und Stuttgart auf die Straßen gegangen. Ihr Signal: "Agenda 2010 knallhart" lässt sich gegenwärtig im Westen nur mit weiterem massiven Legitimationsverlust durchsetzen. Deshalb heißt die Nebenstrecke: Sonderwirtschaftszone Ost. Von dort soll die Niedriglohn-Gesellschaft auf den Westen ausstrahlen. Gleichsam als Brückenschlag feiert man jetzt schon einmal 7,5 Millionen Mini-Jobs, auch wenn diese zu mehr als vier Fünftel nur Zuverdienste sind. Ein "bundesweites Konzept für Lohnkostenzuschüsse" fordert Rainer Wend, der sich gerne als SPD-"Wirtschaftsexperte" zitieren lässt, "nicht nur für Langzeitarbeitslose, sondern für alle Geringverdiener." Unterstellen wir, der Mann wüsste Bescheid über die (sogar tariflichen) Einkommensklassen, über die er redet: Dann wüsste er, dass seine Forderung schlicht unfinanzierbar ist. Unter dem Deckmantel des Sozialausgleichs wird die Talfahrt großer Bereiche des Lohngefüges organisiert.

Im Klartext: Die Agenda 2010 bringt kein Wachstum, sondern eine Vergrößerung der sozialen Spaltung. Der zweite Schritt – Agenda 2010 im Osten – bringt den beschleunigten ökonomischen Niedergang und die Aushebelung aller bislang noch bestehenden Sozialstandards. Die Alternativen heißen: Stärkung der Binnennachfrage und öffentliche Investitionsoffensive. Auch der Niedergang Ostdeutschlands ist nur durch einen radikalen Kurswechsel zur Stärkung der Binnenökonomie zu beheben und nicht durch das Außerkraftsetzen von Flächentarifen und Sozialstandards.

Arbeiten ohne Ende

Über Niedriglohnstrategien will man auch in der Auseinandersetzung um Arbeitszeitverlängerung voran kommen. Denn mit jedem Niedriglohnjob nimmt der Druck zu, entweder durch Mehrarbeit oder durch Zweitjobs sich an existenzsichernde Einkommen heranzuarbeiten. In den Gewerkschaften weiß man ein Lied davon zu singen, in welchem Maße Kaufkraftschwund die Arbeitszeit nach oben treibt. Im Osten hat eine große Koalition von Wirtschaftsverbänden und christ-sozialdemokratischen Mandatsträgern es geschafft, die Angst um den Erhalt des Arbeitsplatzes gegen die Angleichung der Arbeits- und Lebensverhältnisse in der Metall- und Elektroindustrie zu schüren. Nun werden die Beschäftigten der Länder vorgeknöpft, wo die Gewerkschaften kaum widerstandsfähig sind. 42 Stunden hat Stoiber, 41 Stunden haben Teufel, Koch und Steinbrück als Messlatte vorgegeben. Letztlich geht es um die Abschaffung einer gesellschaftlich sanktionierten "Normalarbeitszeit". Die im Marktrhythmus schwankende Arbeitsgesellschaft – das wärs!

Gibt es eine Alternative zu dieser Politik einer großen Koalition? Ja. Wir müssen die Proteste verstärken, den Widerstand vernetzen und den Stimmzettel bei den anstehenden Wahlen als Instrument einsetzen. Die Forderungen:

  Aufhebung der Zumutbarkeitsregelung für (Langzeit-)Arbeitslose; die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe muss zurückgenommen werden;

  keine Verlängerung der Wochenarbeitzeit auf 41/42 Stunden und keine Verlängerung der Lebensarbeitszeit auf 67 Jahre;

  keinen Übergang auf ein Kopfprämienmodell in der GKV, Einführung einer allgemeinen BürgerInnen- oder Erwerbstätigenversicherung;

  keine Ausweitung von Mini-Jobs, Niedriglohn oder tariflosen Zuständen, sondern Ausweitung der gesellschaftlichen Nachfrage durch Erhöhung der Masseneinkommen und der öffentlichen Investitionen.

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