1. Dezember 2006 Elisabeth Gauthier

Frankreich: Die "linke Linke" sucht eine wählbare Alternative

Im Mai 2006 haben die Kräfte, die die Kampagne für das "Nein" zur neoliberalen EU-Verfassung und gegen die Veränderungen beim Kündigungsschutz getragen haben, in einem politischen Appell zu gemeinsamen antiliberalen Kandidaturen bei den Präsidentschafts- und Legislativwahlen im April/Mai und Juni 2007 aufgerufen.

Beteiligt daran sind ein nationales Kollektiv, das sich zusammensetzt aus den Unterzeichnern des Appells (politische Organisationen wie die PCF, les Alternatifs, Convergence citoyenne, linke Republikaner; Pour une République sociale – eine Gruppierung in der SP, eine starke Minderheit der LCR, Alterekolo als Minderheit der Grünen, sowie Persönlichkeiten aus Sozialbewegungen und Altermondialistes) und den derzeit landesweit 800 "Kollektiven für gemeinsame antiliberale Kandidaturen", die sich oft als Nachfolger der "Kollektive für das Nein" beim Referendum gegründet haben. Es ist also eine bunte Mischung, die einen neuartigen politischen Prozess in Gang gesetzt hat. Ein provisorisches Kollektiv von Sprechern und die fünf KandidatInnen für die Präsidentschaftskandidatur sind bereits jetzt im Stande auf Basis der verabschiedeten Texte öffentlich aufzutreten.

Was kaum jemand für möglich gehalten hat, scheint zu gelingen: die Fortsetzung einer Sammelbewegung, deren Losung "Nein zum neoliberalen Verfassungsvertrag und Ja zu einem anderen Europa" war, in einer pluralistischen politischen Bewegung für ein alternatives, antiliberales Politikprojekt und entsprechende Kandidaturen in 577 Wahlkreisen und für die Präsidentschaft.

Wir stehen am Beginn einer Dynamik, die – wie bei der "Nein-Kampagne" – ohne jegliche Unterstützung durch die offiziellen Medien auskommen muss, aber ganz offensichtlich einer breit gestreuten Erwartung entgegenkommt, wie die positiven Reaktionen in Stadtvierteln, Betrieben, Universitäten etc. und die gutbesuchten Meetings zeigen. Die Teilnehmerzahlen – 3.200 in Grenoble, 4.000 in Montpellier – erreichen bereits die vom Ende der Referendumskampagne. Trotz der rapiden Entwicklung der Kollektive ist aber derzeit bei weitem nicht der gesamte Bogen der Organisationen der linken "Nein-Kampagne" vertreten. Hier liegt ein Widerspruch, der Ausdruck der Schwierigkeiten einer alternativen politischen Konstruktion ist. Als Organisation kann sich Attac an einem solchen politischen Projekt nicht beteiligen, aber einzelne Mitglieder sind in den Kollektiven engagiert. Auch GewerkschafterInnen sind vielerorts beteiligt.

Die Mehrheit der trotzkistischen LCR vertritt, trotz starker interner Opposition und offensichtlichem Argumentationsnotstand in den Kollektiven, die Meinung, dass sie an einem Bündnis, das nicht jede institutionelle Zusammenarbeit mit der SP ausschließt, nicht teilnehmen kann und startet ihre Kampagne mit dem Präsidentschaftskandidaten Besancenot. Der LCR geht es um eine Garantie, dass die PCF nicht zur Politik der "pluralistischen Linken" zurückkehrt. Sie vertritt im Wahlprozess die These von der Existenz zweier klar voneinander getrennten Linken – der liberalen und antiliberalen.

Die Kollektive gehen von einer anderen Einschätzung aus. Nicht "deux gauches", sondern zwei verschiedene, die Linke durchquerende Linien (Neoliberalismus, Antiliberalismus) stehen im Zentrum der Auseinandersetzung. Tatsächlich haben mehrere soziale und politische Ereignisse der letzten Zeit gezeigt, dass der Antiliberalismus in der Linken und in der französischen Gesellschaft die Mehrheit darstellen kann: zuletzt das Referendum, die breite Unterstützung harter sozialer Kämpfe in der "öffentliche Meinung", die generationenübergreifende und gewerkschaftliche Solidarität mit der Jugend bei Auseinandersetzung um den Ersteinstellungsvertrag. Das Potenzial für eine anti-neoliberale Mehrheit existiert also. Es geht deshalb nicht um die Formierung einer "extrême gauche plurielle", sondern, und das ist die Konzeption der Komitees, um die Sammlung einer antiliberalen, die derzeitigen Parteigrenzen überschreitenden Mehrheit.

Tatsächlich werden im Programm der Komitees und seinen (derzeit) 125 Punkten konkrete Reformen als Alternative zum Neoliberalismus vorgestellt. Es ist um drei Achsen konstruiert: die radikale demokratische Erneuerung Frankreichs und Europas, die Etablierung eines neuen Sozialmodells und die Demokratisierung der internationalen Verhältnisse. Sein Ausgangspunkt sind die vordringlichsten sozialen und politischen Probleme. Gegen die angekündigte Zerstörung von 25.000 Industriearbeitsplätzen muss sofort etwas unternommen werden. Das Gleiche gilt für die Wohnungsfrage, die Verfolgung der sans-papiers, die unzureichenden Löhne und Sozialleistungen etc. In einer derart zugespitzten politischen Situation, in der zugleich die Gefahr von populistischen bzw. autoritären Antworten besteht, ist es die Aufgabe der linken politischen Akteure, unter Mobilisierung aller Potenziale eine wählbare Alternative möglich zu machen.

Die Bestätigung von Ségolène Royal als Kandidatin der sozialistischen Partei schafft eine neue Situation auf der Linken. Versucht wird offensichtlich eine Neuauflage der Kampagne um die Frage der "fracture sociale". Die Entwicklung der SP in Richtung Sozialliberalismus und Zentrum – eine europäische Normalisierung? – ist unübersehbar. Eine Reihe von Linken in der PS (insbesondere um den Senator Jean Luc Melenchon und die von ihm gegründete Vereinigung "Pour une République sociale" – PRS) sieht die Partei nicht mehr als ihre Organisation und sucht nach neuen Wegen. Es ist die Rede von einem "Epochenwechsel" in der SP und der Notwendigkeit – auch für viele Sozialisten – der Herausbildung einer "anderen Linke", um den politischen Kampf fortzusetzen. Wohin die Vertiefung des Grabens – um die Frage des Neoliberalismus – die Linken in der SP führen wird, ist noch offen. Von Interesse ist in diesem Zusammenhang die Existenz der "Kollektive" als Orte der politischen Erneuerung, die ein weiteres Engagement auch außerhalb traditioneller Strukturen möglich machen und Brüche nicht als Absturz ins Nichts erleben lassen.

Kollektiver Prozess

Die Konstitutierung der anti-neoliberalen Sammlungsbewegung zu den Wahlen in 2007 vollzog bzw. vollzieht sich in drei Etappen und soll am 9./10. Dezember mit einem globalen politischen Abkommen ihren Abschluss finden.

Am 10. September haben in einem ersten Schritt die damals 450 Kollektive einen gemeinsamen Text "Ambition – Strategie" beschlossen. Ein zweiter Schritt bestand darin, ausgehend von der "Antiliberalen Charta", die die Referendums-Kollektive im Frühjahr 2006 verabschiedet hatten, und von den Beiträgen der beteiligten Organisationen ein konkretes antiliberales Programm auszuarbeiten, das Mitte Oktober von 650 Kollektiven als gemeinsame Basis beschlossen wurde.

Derzeit werden als dritter Schritt in den Kollektiven auf Basis von gemeinsam beschlossenen Kriterien die Diskussionen über die Präsidentschaftskandidatur geführt. Diese Diskussion ist schwierig, weil keine/r der potenziellen KandidatInnen (Marie-George Buffet, José Bové, Clémentine Autain, Patrick Braouezec und Yves Salesse) allein den Charakter, die Neuheit der Sammelbewegung repräsentieren kann. Die Zusammenarbeit so unterschiedlicher Strömungen und Traditionen (Kommunisten, Sozialisten, Ökologisten, Trotzkisten, linke Republikaner, Feministinnen, Altermondialisten etc.) kann nur durch eine kollektive Kandidatur sichtbar gemacht werden. Dies gilt um so mehr, als eine zentrale Forderung des Programms der Übergang von der präsidentiellen fünften Republik zu einer sechsten Republik mit einer neuen Qualität der Demokratie (starke parlamentarische, partizipative, wirtschaftsdemokratische Elemente) ist. Für die Präsidentschaftswahl soll bezüglich der Kandidatur und des Sprecherkollektivs ein Konsens hergestellt werden, mit dem die Kollektive und die beteiligten Organisationen leben können. Anschließend geht es darum, die KandidatInnen für die Legislativwahlen so aufzustellen, dass alle Komponenten der Sammlungsbewegung vertreten sind, mit dem Ziel einer großen Parlamentsfraktion kommunistischer (derzeit 22) und antiliberaler Abgeordneter.

Die Diskussionen verlaufen nicht konfliktfrei, aber die Kollektive, die im allgemeinen nicht als Kartelle von Organisationen funktionieren, sondern politische AktivistInnen unterschiedlicher Zugehörigkeit mit AktivistInnen aus Vereinigungen, Gewerkschaften, Bewegungen und engagierten BürgerInnen zusammenbringen, stellen sich als günstiger Rahmen für die Ausarbeitung gemeinsamer Positionen heraus.

Deutlich wird, dass jede der Kandidaturen unterschiedliche politisch-strategische Akzente setzt. Eine zentrale Frage – die Breite der angestrebten Sammlungsbewegung – wurde bereits im Strategietext konsensuell beantwortet: In der Folge des EU-Referendums, wo 60% der sozialistischen und grünen WählerInnen, 70% der Lohnabhängigen, die Mehrheit der "Mittelschichten" und der Jugend mit "Nein" gestimmt haben, geht es darum, über die heutigen Parteigrenzen hinaus alle antiliberalen WählerInnen zu gewinnen und sich nicht als Anti-PS, sondern als antiliberal, antisozialliberal zu definieren. Vermutet werden kann, dass Kandidaturen wie die von Yves Salesse und Marie George Buffet stärker den sozialen Herausforderungen gerecht werden können, während Clémentine Autain und José Bové wohl eher alternative, altermondialistische Strömungen ansprechen. Was die PCF betrifft, die sich als weitaus größte beteiligte Organisation von Beginn an und in ihrer Gesamtheit engagiert hat, werden praktisch ausnahmslos ihre positive Rolle für das Zustandekommen der Sammlungsbewegung, der Gründung einer so großen Zahl von Kollektiven, sowie die Qualitäten ihrer Nationalen Sekretärin geschätzt. Befürchtet wird aber, dass bei einer Kandidatur von Marie George Buffet nicht ausreichend sichtbar würde, dass diese Sammelbewegung sich nicht um, sondern mit der PCF konstituiert.

Repolitisierung

Allgemein kann festgestellt werden, dass in der französischen Gesellschaft eine Repolitisierung im Gang ist. Es gibt viele tausend neue Mitglieder bei SP und UMP, aber auch signifikante Beitrittswellen bei PCF und LCR seit der Referendumskampagne. In einem Land, wo der Staat sich historisch vor der Nation herausgebildet hat und die neoliberale Offensive deutlich nicht nur soziale, sondern auch politische Regressionen produziert, wird die Frage der Erneuerung eines politischen "Vertrages" – anders als 2002 – bereits Monate vor der Wahl zu einem öffentlichen Thema, wie der Politologe und Meinungsforscher Stéphane Rozès feststellt. Erwartet werden klare politische Aussagen, die Entschlossenheit, politische Macht im Sinne eines neu zu definierenden allgemeinen Interesses und sehr konkret auszuüben. Sogar Royal und Sarkozy machen die Forderung nach "politischen Brüchen" zum Thema. Royal’s Bestreben geht dahin, konkrete Themen aufzugreifen und die politischen Lager übergreifende unerwartete "Lösungen" anzubieten, wie z.B. partizipative Demokratie in allen Lebenslagen (statt einer erneuerten sechsten Republik), eine "gerechte Ordnung", eine "restaurierte Familie" oder "Sicherheit als erste Freiheit". Sie sucht dabei den Eindruck eines ganz konkret eingreifenden politischen Willens zu vermitteln. So droht die Gefahr, dass sich die politische Landschaft auf ein Zweiparteiensystem mit mehr oder minder marginalen Proteststimmen reduziert, das immer weiter nach rechts driftet. Die Perspektive beschränkt sich dann auf eine simple Wahl zwischen mehr oder minder liberalen Optionen ohne eine wirkliche politische Alternative.

Vielfach wird von linken WählerInnen bedauert, zu einem "vote utile" zugunsten Royal’s verurteilt zu sein, um Sarkozy wirksam entgegentreten zu können, was aber in Anbetracht ihrer Optionen für viele unbefriedigend ist. Insofern kann die starke Mobilisierung für Royal in der SP nicht unbedingt als eine breite Zustimmung gewertet werden. Vielfach wird mehr eingefordert, ein energischeres politisches Eingreifen gegenüber neoliberaler Deregulierung und der "unsichtbaren Hand der Märkte".

Das Bewusstsein, dass Neoliberalismus kein Naturgesetz ist, hat sich besonders seit der Referendums-Debatte verbreitet. Die Erfolge beim Referendum und beim Kampf gegen den Ersteinstellungsvertrag haben Hoffnungen geweckt. Hier setzt die antiliberale Linke an. Es geht um den Versuch, die Forderung nach einer Neudefinition der Aufgaben der Politik, der Institutionen, der Parteien, und das in neuen Formen, mit neuen Inhalten aufzugreifen, um dem antiliberalen Potential zu einem wirkungsvollen modernen politischen Ausdruck zu verhelfen.

Elisabeth Gauthier ist Generalsekretärin von Espaces Marx, Mitglied in der Führung der PCF und des Nationalen Kollektivs für gemeinsame antiliberale Kandidaturen.

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