27. Oktober 2010 Otto König / Richard Detje

Meilenstein gegen Lohndumping

Tarifabschluss Stahl: Zeitarbeiter bekommen erstmals gleichen Lohn wie Stammbeschäftigte

»Jeder, ohne Unterschied, hat das Recht auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit.« So lautet der Artikel 23(2) der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen. Die Forderung nach Equal Pay ist angesichts der Ausweitung der prekären Beschäftigung (Leiharbeit, geringfügige und befristete Beschäftigung, Werkverträge etc.) aktueller denn je.

Seit sich die Wirtschaft nach der Krise 2008/2009 wieder erholt, boomt die Leiharbeitsbranche. Im August 2010 hatte sie 893.000 Beschäftigte.[1] Demnach könnte die Millionengrenze noch in diesem Jahr erreicht werden. Die Leiharbeit wird in den Betrieben von den Geschäftsführungen zunehmend als strategisches Instrument zur Kostensenkung genutzt.


Mit dem dauerhaften Einsatz der billigen Arbeitskräfte werden gut bezahlte Arbeitsplätze abgeschafft. Das Anwachsen der prekären Beschäftigung und des Niedriglohnsektors unterspült Stück für Stück die tariflich geregelten Arbeitsbeziehungen und fördert Lohndumping. »Leih-arbeitnehmer werden nicht mehr allein in die Betriebe geholt, um einzelne Auftragsspitzen abzuarbeiten. Sie bilden eine Quasi-Stammbelegschaft, die in der Regel die gleichen Arbeiten wie die fest angestellten Stammbeschäftigten verrichten«.[2] Sie erhalten jedoch im Schnitt 25% weniger Geld. 85% der Bundesbürger halten dies laut einer Umfrage von TNS Infratest Politikforschung für eine »moderne Form der Ausbeutung«.
 
Stahlabschluss: »Gleiche Arbeit – gleiches Geld« vereinbart

Umso mehr erregt der aktuelle Tarifabschluss in der deutschen Stahlindustrie Aufsehen. Gewerkschaften und Arbeitgeberverband vereinbarten eine Lohn­erhöhung von 3,6%. Das Lohnplus für die 85.000 Beschäftigten in der nordwestdeutschen Industrie gilt ab dem 1. Oktober 2010.[3] Für den Monat September wird den Beschäftigten eine Einmalzahlung von 150 Euro gezahlt. Die Ausbildungsvergütungen werden pro Ausbildungsjahr um je 40 Euro monatlich erhöht. Der Tarifvertrag hat eine Laufzeit von insgesamt 14 Monaten.

Im ersten Tarifabschluss nach der Wirtschaftskrise hat die IG Metall damit nicht nur mehr Geld für die Stahlarbeiter durchgesetzt. Erstmals wurde der Grundsatz »Gleiche Arbeit – gleiches Geld« in einem Flächentarifvertrag vereinbart. Ab dem 1. Januar 2011 erhalten die Leiharbeiter branchenweit den gleichen Lohn wie Stammbeschäftigte (Equal Pay). Der Tarifvertrag gibt den Stahlfirmen vor, in ihren Verträgen mit den Verleihfirmen künftig darauf hinzuwirken, dass bei ihnen eingesetzte Leiharbeiter stets den Stahltarif ausgezahlt bekommen. In den Fällen, in denen die Verleihfirma dies nicht erfüllt, können die Betroffenen die Lohndifferenz als Schadensersatz bei der Stahlfirma einfordern.

Gerade mit dieser Regelung taten sich die Stahlproduzenten an Rhein und Ruhr, Niedersachsen und Bremen schwer. Zwar sind nur drei Prozent der Beschäftigten in der Branche Leiharbeiter und viele von ihnen bekommen schon heute aufgrund von Betriebsvereinbarungen den gleichen Lohn wie Stammbeschäftigte. Die Arbeitgeber wollten aber kein Exempel für andere Branchen – wie beispielsweise die Metallindustrie – statuieren. Entsprechend groß war hinter den Kulissen der Druck von BDA, BDI, Gesamtmetall und des Bundesverbandes Zeitarbeit (BZA) auf die Verhandlungskommission der Stahlarbeitgeber. Nach mehrtägigen Warnstreiks, an denen sich insgesamt 17.000 Beschäftigte beteiligten, lenkten die Stahlindustriellen ein.

Stahl muss Schule machen

Damit ist es der IG Metall gelungen, ein Zeichen zu setzen. »Ich glaube schon, dass wir die Debatte um die gerechte Bezahlung der Leiharbeiter neu angestoßen haben« (Oliver Burkhardt, IG Metall-Bezirksleiter in NRW). Es wurde ein tarifvertraglicher Maßstab für die Behandlung von Leiharbeit auch in anderen Branchen gesetzt. Dies ist die eigentliche Bedeutung des Stahlabschlusses. Er könnte künftig die Arbeitsbeziehungen von Millionen Menschen prägen, wenn der Ball von den DGB-Gewerkschaften aufgegriffen wird.

Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) weist natürlich die Forderung nach Equal Pay entschieden zurück. Die Zeitarbeitsregelung im Tarifvertrag der Stahlindustrie sei »in keinem Fall auf andere Branchen übertragbar«. Erwartungsgemäß wehren sich vor allem die Metallarbeitgeber gegen Forderungen, den Stahlabschluss auf die Metall- und Elektroindustrie zu übertragen. Hier steht in 2012 die nächste Tarifrunde an. »Angesichts heterogener Betriebsstrukturen, 40 mal mehr Beschäftigten und eines viel höheren Personalkostenanteils in der Metall- und Elektroindustrie sind die Stahlregelungen nicht übertragbar«, erklärte Gesamtmetall-Chef Martin Kannegießer reflexartig und drohte zugleich mit Arbeitsplatzabbau: »Vor allem aber muss bei den gering qualifizierten Arbeitnehmern ein Unterschied zu den Stammarbeitern bleiben, da sonst diese Arbeitsplätze verloren gehen.«[4] Und die Zeitarbeitsbranche klagt, »dies ist ein Vertrag zu Lasten Dritter« und »ein Eingriff in die bestehenden Tarifverträge der Zeitarbeit«; es sei zweifelhaft, ob dieser Tarifabschluss »einer rechtlichen Prüfung standhalten würde« (BZA-Vize-Chef Thomas Bäumer). Es darf nicht sein, dass die Leiharbeiter »die Sklaven des Aufschwungs« sind und »den Preis für das deutsche Jobwunder bezahlen«,[5] indem ihnen frühkapitalistische Zustände aufgeherrscht werden. Nach dem Verhandlungserfolg der IG Metall in der Stahlbranche müssen nun die anderen DGB-Gewerkschaften dafür kämpfen, dass Leiharbeiter genauso wie die Stammbelegschaft bezahlt werden. Die Entlohnung von Leiharbeitern muss künftig Bestandteil der Tarifverhandlungen sein. Wenn dies geschieht, war der diesjährige Stahlabschluss eine wichtige Etappe auf dem Weg zur Verbreitung des Equal-Pay-Grundsatzes, zur Bekämpfung von Lohndumping und gegen das Unterlaufen von Tarifverträgen.

Otto König ist Mitglied des Vorstands der IG Metall, Richard Detje Redakteur von Sozialismus.

[1] Frankfurter Rundschau v. 15.10.2010.
[2] Klaus Dörre in Die Zeit v. 14.10.2010.
[3] Zwischenzeitlich wurde der Tarifabschluss auch für die neuen Bundesländer übernommen.
[4] Euro am Sonntag v. 10.10.2010.
[5] Süddeutsche Zeitung v. 1.10. 2010.


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