1. Mai 2006 Redaktion Sozialismus

Französische Verhältnisse in der Berliner Republik?

Während der Streikauseinandersetzungen in der Metall- und Elektroindustrie und im Öffentlichen Dienst fiel häufig der Blick auf die französischen Verhältnisse. Nach dem beeindruckenden Votum gegen den EU-Verfassungsvertrag wurde dort durch eine von SchülerInnen, StudentInnen und Gewerkschaften getragene Protestbewegung die Suspendierung des Kündigungsschutzes für Jugendliche bis 26 Jahre verhindert.

Während in Paris und anderen Großstädten Millionen über Wochen auf die Straße gingen, bereitete die Große Koalition in der Bundesrepublik ohne spürbaren zivilgesellschaftlichen Widerstand die generelle Aufhebung des Kündigungsschutzes in den ersten zwei Jahren eines neuen Arbeitsverhältnisses vor. Erst der Aufstand der Zivilgesellschaft in Frankreich veranlasste den hiesigen sozialdemokratischen Arbeitsminister, das Gesetzgebungsverfahren zu unterbrechen.

Der politisch entscheidende Punkt geht über die Verteidigung des Kündigungsschutzes hinaus. Erneut ist einer rechtskonservativen Regierung in Frankreich eine schwere Niederlage zugefügt worden. Seit Mitte der 1990er Jahre stoßen bürgerliche Regierungen auf den energischen Widerstand sozialer Bewegungen und Gruppen, die sie zwingen, von ihren Plänen eines neoliberalen Gesellschaftsumbaus abzurücken. Immer wieder gelingt es, die neoliberale "Politik der Entpolitisierung" aufzubrechen, soziale Fragmentierung und Demoralisierung zu überwinden.

Doch die Demonstrationen und Blockaden sind nur das eine Stück der "fracture sociale". Was fehlt, ist das politische Gegenstück: die Verständigung auf ein Alternativprogramm zur neoliberalen Gesellschaftspolitik. Dies wird umso dringlicher, weil immer häufiger vor dem Hintergrund des politischen Bankrotts der herrschenden Klasse die These vom Ende der 5. Republik zum Thema erhoben wird. Auch die gesellschaftliche Opposition in Frankreich steht immer noch vor der Lösung der Frage, wie der abgewirtschafteten bürgerlichen Klasse die politische Mehrheit streitig gemacht werden kann. In Frankreich stehen die linken Kräfte vor der Herausforderung, sich auf ein gemeinsames Programm der sozialen Transformation zu verständigen. Es herrscht ein eigentümliches Kräftegleichgewicht: Das Drängen von Unternehmern und bürgerlichen Schichten auf eine zügige Rücknahme sozialer und demokratischer Rechte wird wiederholt abgeblockt. Doch nach wie vor sind die verschiedenen Strömungen der politischen Linken nicht in der Lage, ihre potenzielle Hegemonie auf das Terrain der politischen Gestaltung zu heben.

Wie schwierig der Prozess der Ablösung neoliberaler Hegemonie ausfallen kann, führt der Ausgang der Parlamentswahlen in Italien vor Augen. Trotz einer extrem erfolglosen und korrupten Rechtskoalition, die die Staatsmaschinerie usurpierte, ihre Medienmacht rigoros ausspielte und ihre politischen Kontrahenten als Vollidioten (coglioni) angriff, sind die Wahlen nicht in ein Referendum gegen Berlusconi verwandelt worden. Die Hälfte der Wahlbevölkerung hat sich erneut hinter einen Regierungschef gestellt, der wie kein anderer in Europa die Akkumulation privaten Reichtums auch durch die Verfestigung öffentlicher Armut verkörpert. Gleichwohl kann man nicht von einer eindeutigen politischen Spaltung des Landes sprechen. Romano Prodi, der Spitzenkandidat des siegreichen Olivenbaumbündnisses, betrieb als Präsident der EU-Kommission lange Jahre eine Politik des finanzmarktorientierten Umbaus des Europäischen Sozialmodells. Was die Lage in Italien noch komplizierter macht: Der Olivenbaum ist wesentlich heterogener als die gesellschaftliche Opposition in anderen europäischen Ländern. Von Christdemokraten bis zur kommunistischen Neugründung reicht das politische Spektrum, dem es angesichts äußerst knapper parlamentarischer Mehrheiten schwer fallen wird, einen Ausweg aus der Krise Italiens zu weisen. Der Plan von Christ- und Linksdemokraten, sich zu einer Partei der "vereinigten Demokraten" zusammenzuschließen, der rund 30% der WählerInnen repräsentieren würde, könnte ein Ansatz der Konsolidierung sein – wenn auch einer, der diese Kräfte noch weiter in die programmatisch und konzeptionell wenig konturierte politische "Mitte" zieht. Aber möglicherweise wäre dies zugleich ein Anstoß für die sozialistisch-kommunistische Linke, zu einer Zusammenfassung ihrer Strömungen zu kommen und nicht in der Auseinandersetzung über die künftige Regierungspolitik ihre fraktionellen Eigensinnigkeiten zu rekultivieren. Die Zerrüttung der italienischen Gesellschaft ist weit vorangeschritten. Wer in Italien eine demokratische Entwicklung behaupten will, muss zu politischen Bündnissen weit in das bürgerliche Lager bereit sein, die gleichwohl die ausgetretenen neoliberalen Irrwege verlassen. Das ist nicht die unlösbare Quadratur des Kreises, sondern beleuchtet in zugespitzter Konstellation die Schwierigkeiten von politischer Hegemonie auf Seiten der Linken.

Neben Frankreich und Italien – und abgesehen von den skandinavischen Ländern, wo in Norwegen die Linke erfolgreich war und wo in Schweden im Herbst Neuwahlen anstehen – steht die Berliner Republik für einen dritten Typus politischer Kräfteverhältnisse in Europa. Eine große Koalition von Christ- und Sozialdemokraten bringt unter der Präsidentschaft von Angela Merkel mit relativ hoher Akzeptanz von breiteren Bevölkerungsschichten den neoliberalen Gesellschaftsumbau weiter voran.

Am Arbeitsmarkt kann man das ablesen. Trotz konsolidierter Unternehmensbilanzen und weiteren Erfolgen auf den Weltmärkten verfestigt sich die Massenarbeitslosigkeit bei knapp fünf Millionen. Mehr noch: Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten sinkt, während die Prekarisierung der Arbeit mit hohem Tempo voranschreitet. Man kann das an der ungebremsten Zunahme geringfügiger Beschäftigungsverhältnisse ablesen, von denen mittlerweile knapp eine Million auf ergänzende Sozialleistungen angewiesen sind. Man kann das aber auch daran ablesen, dass im letzten Jahr jeder zweite Schulabgänger keinen Ausbildungsplatz bekommen hat. Eine aktuelle Untersuchung des Bundesinstituts für Berufsbildung für den Berufsbildungsbericht 2006 zählte rund 200.000 Bewerber ohne Lehrstelle (während die BA nur 41.000 erfolglose Bewerber auswies). Von den ausländischen Jugendlichen hat sogar nur ein Viertel der Bewerber einen Ausbildungsvertrag erhalten. Und nur geringfügig besser sieht es bei Hauptschülern insgesamt aus. Wichtig zu wissen: Als Ausbildungsplatzbewerber galten in dieser Untersuchung nur jene, die mindestens 20 Bewerbungsschreiben verfasst hatten. Dramatischer kann man den Verfall des Ausbildungs- und Arbeitsmarktes kaum beschreiben. Die Folgen liegen – ein Blick auf die jüngsten Ereignisse in Berlin und Potsdam genügt – auf der Hand.

Eine weitere Folge der Eskalation sozialer Nöte ist "Arbeit trotz Krankheit". Der Krankenstand ist auf ein Rekordtief gesunken. Dies nur zum geringeren Teil aufgrund der weiteren Abnahme körperlich belastender Tätigkeiten und der gezielten Verjüngung der Belegschaften; maßgeblich vielmehr aus Angst vor drohendem Arbeitsplatzverlust. Und eine weitere Tendenz ist eindeutig: Der Leistungsdruck am Arbeitsplatz hat seit 1990 zu einer Verdoppelung der psychischen Erkrankungen geführt. Die neoliberale Prekarisierungspolitik lässt sich mittlerweile ebenso gut am Gesundheitszustand der Bevölkerung wie an den erschreckenden Verteilungsbilanzen ablesen.

Die Bilanz beider Entwicklungen findet man im Gesundheitssystem. Der fiskalisch entlastende Faktor, dass immer weniger Erwerbstätige zum Arzt gehen, wird überkompensiert vom Rückgang der Zahl der Vollbeitragszahler und der Höhe ihrer Einkommen. Trotz zunehmend kürzerer Intervalle von Gesundheits"reformen" wachsen die Defizite. Reparaturmöglichkeiten sind ausgeschöpft und ein Systemwechsel steht ins Haus. Nach den Vorstellungen der Christdemokraten soll ein Gesundheitsfonds geschaffen werden, der – wie bisher – gespeist wird aus den einkommensabhängigen Beiträgen der Beschäftigten und Unternehmen. Die Versicherung der Kinder soll jedoch künftig steuerfinanziert werden. Eine weitere Steuererhöhung wäre die Folge. Da das nicht ausreicht, sollen die Versicherten mit einer Gesundheitsprämie oder einem Solidaritätszuschlag belegt werden.

Die Unternehmer drängen auf eine vollständige Abkoppelung von Lohnzahlungen und Beiträgen für das Gesundheitssystem. Gewerkschaften und neue Linke plädieren für eine solidarische Bürgerversicherung, bei der vor allem Gewinne, Vermögenseinkommen und Mieten zur Finanzierung herangezogen werden. In Frankreich ist mit der allgemeinen Sozialabgabe CSG ein solches Instrument geschaffen worden; die allgemeine Sozialsteuer bezieht sich auf abhängige und selbständige Erwerbstätigkeit und bezieht die Kapitaleinkommen mit ein. Diese Abgabe trägt mittlerweile ein Drittel der Kosten des Gesundheitswesens.

Die SPD lehnt die christdemokratische Kopfprämie ab, kann sich aber gleichwohl eine Deckelung der Arbeitgeberbeiträge vorstellen. Der SPD-Gesundheitsökonom Lauterbach bilanziert: "Die CDU verteidigt die Geschäftsinteressen der privaten Assekuranz und findet ... auch das Ausmaß der Zwei-Klassen-Medizin in Deutschland angemessen. Die Gegenwehr aus der SPD ist ... nicht ausreichend."

Der neue SPD-Vorsitzende Beck hat mittlerweile das von seinem Vorgänger bekräftigte Tabu – "kein Einfrieren der Arbeitgeberbeiträge" – aufgehoben. Wenn auch Zinseinkünfte zur Finanzierung herangezogen werden, könne man über eine Begrenzung der Unternehmerbeiträge reden. Immer weiter verstrickt sich die SPD in die Logik der neoliberalen Gesellschaftskonzeption.

Die Linke jenseits der Sozialdemokratie hatte sich aufgemacht, durch ein Wahlbündnis und das Projekt einer Vereinigung zu einer gesamtdeutschen Neuen Linken einen Beitrag zur Veränderung der Kräfteverhältnisse in der Berliner Republik zu leisten. Beim Wahlbündnis zwischen PDS und der Wahlalternative WASG im Herbst 2005 war den Akteuren klar, dass ohne politisch-programmatische Veränderungen keine neue Linkspartei zustande kommen kann. Die Umbenennung in Linkspartei war zugleich eine Ankündigung von weiterer Veränderung in den nachfolgenden Monaten. Umgekehrt mussten in der WASG Debatten und Festlegungen über die mittel- und längerfristigen Perspektiven erfolgen, weil eine Ausrichtung der Politik ausschließlich auf die Abwehr des neoliberalen Gesellschaftsumbaus zu kurz greift. Bei vorhandenen Differenzen überzeugte der politische Wille, in den kommenden Monaten weitere Veränderungen auf den Weg bringen zu wollen. Genau diese politische Annäherung blieb aus. Über die Privatisierung von Wohnungen im öffentlichen Besitz, den Verkauf von öffentlichen Unternehmen, die Sicherung von Arbeits- und Ausbildungsplätzen und die Tarifverträge im öffentlichen Dienst entwickelten sich politische Differenzen. Gebündelt wurde dieser Konfliktstoff in der Frage von Bündnispolitik: Kann man mit der Sozialdemokratie auf Länderebene zusammenarbeiten und das Projekt eines grundlegenden Politikwechsel voranbringen? Dieser politische Sprengstoff war nicht neu; die politische Bewegungslosigkeit der Akteure führte dazu, dass sich eine kritische Masse zusammenbraute. Auf den bevorstehenden Bundesparteitagen von Linkspartei und WASG könnte wohl ein Ausweg gefunden werden; andererseits sind die Beharrungskräfte stark. Momentan sieht es eher danach aus, dass die Linke es lieber bei der überlieferten Zersplitterung belässt. Das Projekt einer gemeinsamen Partei ist wegen des Streites um die wahre anti-neoliberale Politik gefährdet. Um so leichter kann im Zustand der politischen Bedeutungslosigkeit von französischen Verhältnissen geträumt werden.

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