25. April 2012 Redaktion Sozialismus

Frühlingserwachen in Berlin – Winterstarre in Europa

In der Berliner Republik überwiegt weiter Zukunftsoptimismus. Trotz der erneut verschärften Schuldenkrise in Europa deuten die Indikatoren für die deutsche Wirtschaft aktuell auf eine Fortführung der ökonomischen Aufwärtsbewegung hin.

Ungeachtet der leichten Schrumpfung der gesamtwirtschaftlichen Leistung im Euro-Raum sagen die führenden Forschungsinstitute der deutschen Wirtschaft in diesem Jahr ein Wachstum von 0,9% voraus. 2013 soll es sich auf 2% beschleunigen, sodass in diesen zwei Jahren rund 800.000 neue Jobs entstehen könnten. Weitere Elemente der Prognose: Im Durchschnitt könnten die Lohnabhängigen 2012 mit einem Lohnzuwachs von 2,5% und 2013 in Höhe von knapp 3% rechnen und die Arbeitslosenquote soll auf 6,2% sinken. Deutschland bliebe damit ein Ausnahmegebiet unter den entwickelten kapitalistischen Ländern, die alle mit einer schwachen Wirtschaftsentwicklung kämpfen.

Dass die europäische Schuldenkrise seit den massiven Geldspritzen der europäischen Zentralbank (insgesamt 1 Billion Euro Kredite für drei Jahre) in den letzten Wochen zumindest temporär entschärft werden konnte, wird kein Beobachter bestreiten. Dennoch tendiert eine Mehrheit der politischen Entscheider zur Schönrednerei. Ihnen halten selbst die Autoren des »Frühjahrsgutachtens« entgegen: »Im Frühjahr 2012 sind die akuten Risiken für die Weltkonjunktur gegenüber dem vergangenen Herbst deutlich gesunken … Gleichwohl bleibt der Ausblick für die internationale Konjunktur verhalten. Denn die europäische Schuldenkrise ist nach wie vor nicht gelöst … Ein kräftiger Aufschwung der Weltwirtschaft im Prognosezeitraum ist nach Einschätzung der Institute trotz aktuell aufwärtsgerichteter Vertrauensindikatoren nicht zu erwarten.«[1]

Die Schuldenkrise in Europa stellt – so auch die Forschungsinstitute – nach wie vor das größte Abwärtsrisiko für die Globalökonomie dar. Entscheidend ist dabei, dass in einer Reihe von Ländern der Euro-Zone Unternehmen und private Haushalte bestrebt sind, ihren Verschuldungsgrad herabzusetzen. Wenn diese Tendenz durch eine Austeritätspolitik der öffentlichen Sektoren verstärkt wird, kann sich in der Tat eine hartnäckige depressive Abwärtsspirale ausbilden, die letztlich auch für den Exportchampion Bundesrepublik negative Konsequenzen hat.

Die Regierung der Berliner Republik nimmt die Gefahren für die sich vertiefende Spaltung in Europa weiterhin nicht ernst. Die deutlich höheren Belastungen für Spanien und Italien bei der Refinanzierung ihrer öffentlichen Schulden werden mit dem Satz kommentiert: »Die Welt geht nicht unter, wenn die Rendite für zehnjährige Staatsanleihen in einem Land einmal 6 Prozent beträgt.« Dabei belegen neuere Daten für beide Länder – von Griechenland und Portugal einmal ganz abgesehen – erneut das Scheitern der Austeritätspolitik.

Die spanische Wirtschaft befindet sich Prognosen der Zentralbank zufolge im ersten Quartal 2012 in einem Schrumpfungsprozess: -0,4% gegenüber dem Vorquartal. Im vorangegangenen Vierteljahr war die Wirtschaftsleistung bereits um 0,3% zurückgegangen. Das Land kämpft mit einem ausufernden Staatsdefizit und Problemen im Bankensektor.

Italiens Regierung hat gleichfalls schlechte Zahlen für das Wirtschaftswachstum eingeräumt. Konsequenz: Der Haushaltsausgleich wird erst 2014 und damit ein Jahr später als geplant angepeilt. Die Regierung Monti erwartet für 2012 eine Schrumpfung des BIP um 1% statt, wie noch im Dezember angenommen, um 0,5%. Der Internatio­nale Währungsfonds (IWF) ist noch weit pessimistischer und geht für das laufende Jahr von einem Rückgang um 2,2% und 2013 nochmals um 0,6% aus, wodurch auch die revidierten Haushaltsplanungen Makulatur werden würden.

Die Probleme der europäischen Krisenstaaten liegen tiefer. Es handelt sich nicht um Engpässe bei der Refinanzierung der öffentlichen Kredite. Sicherlich sind Spanien oder gar Italien nicht mit Griechenland gleichzusetzen – doch auch diese beiden Staaten befinden sich in einem kritischen Zustand. Die in kürzester Zeit erzwungene Reduktion des Haushaltdefizits beschleunigt eine wirtschaftliche Abwärtsspirale, vergrößert damit die finanzpolitischen Sanierungsprobleme und läuft auf eine extreme Vertiefung der sozialen Spaltung hinaus. Die spanische Staatsverschuldung ist mit 70% des BIP vergleichsweise niedrig, und auch die (Re-)Finanzierungsbedürfnisse des spanischen Staats stellen für die Periode 2012-2014 mit rund 20% des BIP keine unlösbare Aufgabe dar. Doch die Sozialisierung der Verluste aus der geplatzten Immobilienblase ist erst am Anfang, löst einen anhaltenden Druck auf das nationale Finanzsystem aus und muss stufenweise weitere Interventionen auslösen, wenn durch einen rigiden Kürzungskurs die gesamtgesellschaftlichen Wirtschafts- und Einkommenskreisläufe zusätzlich stranguliert werden. Dazu kommt: Die Bemühungen der EZB, Portugal, Spanien und anderer Krisenländer, Kapitalmarkt und Banken liquide zu halten, werden durch eine anhaltende Kapitalflucht konterkariert. Ohne Einschränkungen der grenzüberschreitenden Kapitaltransaktionen kann dieser Kurs nicht erfolgreich sein.

Die Bekämpfung der akuten Finanzkrise konzentriert sich auf die Bereitstellung von Liquidität zur Stützung der Banken und des Kapitalmarktes sowie auf den Abbau von Budgetdefiziten. Doch die Hoffnung, eine Verschärfung der Krise in anderen Ländern könne verhindert werden, hat sich nicht erfüllt. Längst haben sich Portugal und Spanien angesteckt. Auch Italien muss erneut höhere Zinsen für die Refinanzierung aufwenden, ein untrügliches Zeichen für die ungelöste Krisenkonstellation. Die europäische Politik, die Finanz- und Schuldenkrise durch eine strikte Austeritätspolitik zu bekämpfen, wird daher immer kritischer beurteilt.

Selbst der IWF warnt davor, nur zu sparen, und rät, den »fiskalischen Spielraum« voll auszunutzen. Wenn Staaten mit einer Rezession kämpften und bereits weniger erwirtschaften, als sie eigentlich könnten, und wenn die Möglichkeiten der Geldpolitik zum Gegensteuern bereits ausgeschöpft seien, dann sollte nicht auch noch die Fiskalpolitik bremsen, lautet die Argumentation. Besser sei es zu warten, bis die Konsolidierung in guten Zeiten wieder leichter falle. Die Krisenländer an der südlichen Peripherie werden durch die derzeitige Krisenstrategie zerstört. Die Folge wird eine noch dramatischer steigende Arbeitslosigkeit und eine massive Migration innerhalb Europas sein.

Der Sparzwang in den Krisenstaaten könnte Europa insgesamt in eine Rezession stürzen, warnt der US-Ökonom Stiglitz zu Recht. Er fordert eine gemeinsame Haushaltsbehörde, die mehr Geld bereitstellt. »Demokratien können nur ein begrenztes Maß an Einschnitten vertragen, ohne dafür Erfolge zu sehen. Der harte Sparkurs in vielen Ländern verstärke den Abschwung. ›Euro­pa drohe deshalb die zweite Rezession in kurzer Zeit‹«. Weltweit gibt es – so Stiglitz – kein Beispiel dafür, dass Kürzungen von Löhnen, Renten und Sozialleistungen ein krankes Land gesunden ließen.[2] Eine politische Alternative müsste sich über die Bereitstellung von Liquidität hinaus auf ein europäisches Investitions- und Wachstumsprogramm erstrecken.

Im fünften Jahr der Großen Krise ist das allgemeine Bild von einem zögerlichen oder schleppenden wirtschaftlichen Aufschwung bestimmt. Die Hoffnung auf stabile konjunkturelle Auftriebskräfte im Rahmen der Globalökonomie hat keine tragfähige Grundlage. Der IWF hatte für die Weltwirtschaft im Jahr 2011 ein Wachstum von 4,4% erwartet und für das Jahr 2012 einen ähnlichen Zuwachs von 4,5% prognostiziert. Den jüngsten Zahlen der Weltbank zufolge hat das Wachstum im Jahr 2011 tatsächlich lediglich 2,7% erreicht und wird in diesem Jahr voraussichtlich nur noch 2,5% betragen. Das heißt, weltweit kann nicht von einer Rückkehr zu einer dynamischen Kapital­akkumulation ausgegangen werden.

Politische Veränderungen in Europa, die einen Kurswechsel hin zu neuen Wachstumsinitiativen auslösen könnten, sind möglich, wenn ein Regierungswechsel in Frankreich zu weitergehenden Verschiebungen im gesellschaftlichen Kräfteverhältnis führt. Der Präsidentschaftskandidat der Sozialisten, Hollande, plädiert für einen Politikwechsel und unterstreicht, dass er im Falle seines Wahlsieges das Wachstum voranstellen werde. Dazu will er den Fiskalpakt zur Haushaltsdisziplin in Europa nachverhandeln und um eine Wachstumskomponente ergänzen. »Wir wären nicht in dieser Situation, wenn die Europäische Zentralbank ab dem Beginn der griechischen Angelegenheit interveniert hätte, um Staatsschuldtitel aufzukaufen«, sagte er. Die Zentralbank habe am Anfang gewartet und dann den Banken Geld geliehen, damit diese anschließend den Staaten Geld leihen.

Im Windschatten von Frankreich hofft die bundesdeutsche Sozialdemokratie auf einen entsprechenden Pfadwechsel: »Wir wollen ein Europa, das neues Wachstum schafft«, unterstreicht die SPD-Führung. Europa dürfe nicht nur ein »Wurmfortsatz der Finanzmärkte« sein. Auch sei ein Euro­pa nicht hinzunehmen, »in dem jeder zweite Jugendliche arbeitslos ist«. Aus fantasielosem Sparen allein könne kein Wachstum entstehen. Daher müsse der Fiskalpakt um neue Wachstumsimpulse von der europäischen Ebene ergänzt werden. Finanziert werden müssten die­se Impulse aus EU-Strukturhilfen, auch aus mit Investitionen verbundenen Projekt-Bonds sowie aus einer Finanztransaktionssteuer.

Schon in den letzten Monaten war eine solche Ergänzung des europäischen Fiskalpaktes immer wieder angesprochen und gefordert worden. Bis Juni 2012 will die EU mit einer Reihe von Maßnahmen den Binnenmarkt beleben. Dazu gehören angestrebte Einigungen zur Standardisierung, Energieeffizienz und Vereinfachung der Bilanzvorschriften. Die nationalen Ausschreibungsregelungen sollen bis zum Jahresende vereinfacht werden. Zur Förderung der 23 Millionen europäischen Klein- und Mittelunternehmen (KMU) sollen die Strukturfonds der EU umprogrammiert werden, mit Fokus auf Wachstumsstimulierung und Schaffung von Arbeitsplätzen. So genannte Projekt-Bonds (limitierte gemeinsame Euro-Anleihen zur Finanzierung von wichtigen europäischen Infrastrukturprojekten) und entsprechende Vorschläge der EU-Kommission sollen rasch geprüft werden. Eine stärkere Rolle der Europäischen Investitionsbank (EIB) zur Finanzierung von KMU soll von den EU-Institutionen geprüft werden. Das sind alles viel zu kleinteilige Impulse, die zudem schon häufiger angekündigt, aber nie energisch umgesetzt wurden.

Eine entsprechend massiv ausgestattete europäische Wachstums- und Beschäftigungspolitik könnte eine andere Entwicklung einleiten: eine europäische Investitionsoffensive weit über das verbleibende Jahrzehnt hinaus, die darauf angelegt ist, die gesellschaftliche Arbeitsteilung in Europa so zu verändern, dass der abgehängten Peripherie neue Entwicklungspotenziale eröffnet werden; eine neue Wirtschaftsstruktur im mediterranen Teil Europas und in weiten Teilen Osteuropas, ein großes Binnenmarktprogramm in den heutigen Exportüberschussländern, das alles versehen mit dem Abbau von Prekarisierung, sozialer Spaltung und einer neuen Idee für ein soziales Europa, die auch die skandinavischen Länder wieder begeistern könnte.

Die Marktkräfte sind nicht in der Lage, die ökonomischen Voraussetzungen für eine nachhaltige Entwicklung der Volkswirtschaften im Euroraum zu schaffen. Es ist falsch, in einer Währungsunion Leistungsbilanzüberschüsse als dauerhafte Entwicklungsbedingung durchsetzen zu wollen. Neben Anpassungsmaßnahmen für Defizitländer sind daher auch Anpassungsschritte für Überschussländer unverzichtbar. Überschüsse könnten durch eine Stärkung der Importnachfrage abgebaut werden. Auch die wirtschaftspolitische Ausrichtung auf den Export sollte relativiert und die Produktion stärker auf den Binnenmarkt ausgerichtet werden. Da immer mehr Länder von der Krise erfasst werden, wird auch die erhöhte Brandschutzmauer nicht ausreichen. Die EZB muss schon auf kurze Sicht stärker intervenieren. Dazu gehören eine gelockerte Geldpolitik mit realer Zinssenkung, die Neuordnung des Währungssystems und eine Politik zur Stärkung und Umstrukturierung der gesellschaftlichen Wertschöpfungsprozesse.

Mit der Einführung des Euro (und damit nicht mehr floatender Wechselkurse) wurden die unterschiedlichen Entwicklungsniveaus in Europa entscheidend verstärkt: Deutschland baute die Exportstärke hochproduktiver Industriezweige weiter aus, während die Produktionsmodelle in den mediterranen Ländern des Euro-Clubs zu schwach waren, um eine nachhaltige Wertschöpfung zu ermöglichen: Die Leistungsbilanzen blieben nun dauerhaft defizitär, und die Verschuldung nahm zu. Der Eklat in einer Krise war absehbar – wobei die Verschuldungskrise eben nur der vermittelte Ausdruck der Produktivitätsniveaus unterschiedlicher Akkumulationsregime ist.

Die Politik der Austerität und Deflation innerhalb der europäischen Union trägt das Risiko, in einer zerstörenden Deflationsspirale und jahrelanger Stagnation zu enden.

[1] Gemeinschaftsdiagnose Frühjahr 2012, S. 7 (siehe z.B. www.iwh-halle.de).
[2] Die »Welt« vom 11.4.2012.

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