25. Mai 2012 Otto König / Richard Detje: Tarifabschluss Metall- und Elektroindustrie 2012

Fuß in der Tür

Junge Metaller gewinnen! Den Aufschlag hatte ver.di mit dem Tarifabschluss im Öffentlichen Dienst[1] gemacht – nun folgte die IG Metall im hochproduktiven industriellen Zentrum des deutschen Kapitalismus.

Zeitnah war über strukturell vergleichbare Forderungen verhandelt worden: deutliche reale Einkommensverbesserungen von 6,5% und tarifpolitische Vorstöße zur Entprekarisierung der Arbeit. Letzteres sollte bei den Bundes- und Kommunalbeschäftigten durch eine Mindestanhebung der Entgelte (200 Euro) zu einer Eindämmung der Niedriglohnbeschäftigung beitragen – ver.di scheiterte damit in der diesjährigen Tarifrunde. In der Metall- und Elektroindustrie ging es um qualifizierte Arbeitsperspektiven durch die verpflichtende Übernahme aller Ausgebildeten und die Begrenzung der Leiharbeit – was sich als konfliktträchtigstes Thema in den Tarifverhandlungen erweisen sollte. In beiden Tarifbereichen zeigte sich in Warnstreiks eine hohe Mobilisierung – bundesweit 800.000 Metallerinnen und Metaller ließen nach dem Ende der Friedenspflicht ihre Arbeit ruhen.

Endlich mehr Kaufkraft

ver.di hatte eine dreistufige Tarifanhebung in Höhe von insgesamt 6,3% für einen Zeitraum von zwei Jahren vorgelegt. Für die Metall- und Elektroindustrie fällt das Ergebnis – der ökonomischen Entwicklung der Branche entsprechend – etwas höher aus: 4,3% ab dem 1. Mai bei einer Laufzeit von 13 Monaten und einem Nullmonat im April; für das Jahr ein Plus von rund 4%. Die kurze Laufzeit ist eine konsequente Schlussfolgerung aus den Erfahrungen mit der langen Laufzeit des Krisen-Tarifabschlusses 2010. In der Metall- und Elektroindustrie handelt es sich um den höchsten Tarifabschluss seit 1992, der das »Angebot« von Gesamtmetall von 2,6% weit übertroffen hat.

Die Tarifrunde 2012 bringt so für die Beschäftigten einen echten Zuwachs bei den Reallöhnen. Bei einem Anstieg der Verbraucherpreise um 1,8% schlägt sich rund die Hälfte des Einkommenszuwachses in steigender Kaufkraft nieder – zumal eine negative Lohndrift nicht zu erwarten ist, die durch betriebliche »Verrechnungen« das Lohnplus wieder schmälern würde; vielmehr kommen zumindest in Großunternehmen Prämienzahlungen noch oben drauf. Steigende Realeinkommen sind im zurückliegenden Jahrzehnt eine seltene Ausnahme. Umso bedeutsamer ist auch das politische Signal, dass der Binnenmarkt einer Stärkung bedarf, sowohl im Hinblick auf die Stabilisierung der Beschäftigung und der Eindämmung von Armuts- und Niedriglöhnen, aber ebenso als Signal in Europa, dass permanente einseitige Außenhandelsüberschüsse schädlich sind und durch steigende Inlandsnachfrage in Deutschland abgebaut werden müssen. Allerdings zeigt die Entwicklung der Arbeitskosten in Europa im zurückliegenden Jahrzehnt, welch immenser Aufholbedarf in dieser Hinsicht besteht.[2] Und was in anderen Fällen stimmt, muss auch hier betont werden: Tarifpolitisch lassen sich die Folgen einer falschen Austeritätspolitik schwerlich ausbügeln – schon gar nicht in der Massivität, wie sie im Euro-Raum exekutiert wird.[3]

Der einkommenspolitische Erfolg in der Tarifrunde 2012 zeigt sich auch noch von einer anderen Seite: der Verteilungssymmetrie. Dazu liegt der Tarifpolitik traditionell ein neutraler Verteilungsspielraum aus Preissteigerung und Produktivitätszuwachs – als gesamtwirtschaftliche Größen – zugrunde. Angesichts rückläufiger Konjunktur fällt letzterer in diesem Jahr ausgesprochen schwach aus und dürfte deutlich unter einem Prozent liegen. Der Metall-Tarifabschluss 2012 schöpft den Verteilungsspielraum nicht nur aus, sondern liegt darüber.

Zukunft für die Jugend

Wenn der europäische Integrationsprozess künftig keine Überlebenschance haben sollte, liegt das daran, dass das 21. Jahrhundert für Teile der Bevölkerung verloren gegeben wird. Allen voran für Jugendliche – kurz Neets genannt: not in education, employment or training. Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) zählt dazu 14% der 15 bis 24-Jährigen, allein 3,3 Millionen im Euro-Club.[4] Die Spitzenwerte liegen in Spanien und Griechenland, wo annähernd die Hälfte der Jugendlichen arbeitslos registriert ist.

Umso bedeutsamer ist, dass tarifpolitische Gegensignale aufblitzen. Auf Initiative und mit hohem und phantasievollem Engagement der Metalljugend wurde die unbefristete Übernahme der Ausgebildeten auf die Tagesordnung gesetzt. Gegen diese »Übernahmepflicht« hatten die Metallarbeitgeber aus allen Rohren geschossen. Sie wetterten gegen die »Verbeamtung« der Auszubildenden und Gesamtmetall-Chef Martin Kannegießer verglich die Kampagne der Gewerkschaft mit der Methode des »Rattenfängers von Hameln«. Doch schließlich wurde die Jugend der Gewinner der Tarifrunde.

Künftig gilt generell der Grundsatz der unbefristeten Übernahme nach der Ausbildung. Heute erhält jeder zweite Ausgebildete umgehend eine unbefristete Stelle, ein weiteres Viertel nach einem Jahr. Das wird sich verbessern – Endlosschleifen mit befristeten Verträgen sollten der Vergangenheit angehören. Das gilt trotz Ausnahmeregelungen, wonach betrieblich vom Grundsatz unbefristeter Übernahme abgewichen werden kann, wenn »über Bedarf« ausgebildet wird. Tatsachlich hält sich die Zahl der Betriebe, die über den eigenen Fachkräftebedarf hinaus ausbilden, in Grenzen. Und angesichts des wachsenden Fachkräftemangels ist die Industrie auf Nachwuchs angewiesen. Doch selbst in Fällen von »Überbedarf« haben die Betroffenen einen Anspruch auf eine befristete Übernahme von zwölf Monaten (und anschließender nochmaliger Prüfung).

Was »Bedarf« und was »Überbedarf« ist, muss mit dem Betriebsrat »beraten« werden – mehr nicht. Das Entscheidungsrecht bleibt auf Seiten der Arbeitgeber – was Gesamtmetall-Chef Kannegiesser den Mitgliedsunternehmen seines Verbandes auch umgehend versichert hat. Tarifpolitisch ist man so an die Grenze des Eigentumsrechts gestoßen, ohne sie verrücken zu können. Doch im Rahmen des kapitalistischen Direktionsrechts konnten reale Fortschritte erzielt werden.

Externe und interne Flexibilität

Massiven Widerstand leistete das Unternehmerlager bis zum Schluss beim Thema Leiharbeit.  Seit Jahren macht die Gewerkschaft gegen den ausufernden Einsatz von Leiharbeitern – einem der dynamischen Instrumente der Prekarisierung der Arbeitswelt – mobil. In der Krise 2009 erfolgte der Beschäftigungsabbau nicht zuletzt deshalb relativ »geräuschlos«, weil die Leiharbeit zügig auf 580.000 (April 2009) heruntergefahren werden konnte – mittlerweile ist die Zahl der Leiharbeitskräfte in der Industrie und im Dienstleistungssektor auf über 910.000 gestiegen und liegt damit deutlich über dem Vorkrisenniveau.[]5 Allein in der Metall- und Elektroindustrie ist davon ein Drittel im Einsatz.

Durch die Forderung der IG Metall nach einem »Veto«-Recht der Betriebsräte sahen sich die Arbeitgeber in ihrer »unternehmerischen Freiheit« beschnitten und pochten auf den Erhalt ihrer »Wettbewerbsfähigkeit«: durch hohe externe Flexibilität und schlechtere Bezahlung.[6]  Konnten in der Stahlindustrie 2010 akzeptable Regelungen für diese Beschäftigten-Gruppe gefunden werden, gelang es nach Einschätzung des IG Metall Bezirksleiters in Baden-Württemberg, Jörg Hofmann, bestenfalls, »einen breiten Fuß in die Tür« zu kriegen. Die neuen Tarifregelungen haben zwei Pferdefüße:

1.  Die Regelung, dass Betriebsräte und Arbeitgeber in den Betrieben weitergehende Betriebsvereinbarungen über Einsatzzwecke, Einsatzbereiche und das Volumen der Leiharbeit sowie die Höhe der Vergütung für Leiharbeiter und Übernahmeregelungen abschließen können, ist eine typische Formulierung, die – wenn überhaupt – in Großbetrieben mit starken Betriebsräten zum Tragen kommen wird. Betriebsratsgremien in Klein- und Mittelbetrieben werden mangels Druckmittel am Veto ihrer Arbeitgeber scheitern. Und wenn doch, darf die Quote der Beschäftigten, die 40 Stunden in der Woche arbeiten, im Rahmen der »betrieblichen Flexibilität«  um zwölf Prozentpunkte von jetzt 18 auf 30% ausgeweitet werden. Hier findet somit ein Austausch von externer zu interner Flexibilität statt. Trotz der Regelung, dass in diesem Fall im gleichen Umfang 30-Stunden-Verträge zu ermöglichen sind (mit Rückkehrrecht auf Vollzeit), ist dies ein weiterer Schritt im Rahmen der Strategie von Gesamtmetall, die 35-Stunden-Woche durch Arbeitszeitverlängerung und -flexibilisierung außer Kraft zu setzen.

2. Die Arbeitgeber setzten durch, dass sie Leiharbeiter zwei Jahre ohne Einschränkungen im Betrieb beschäftigen können. Danach muss der entleihende Betrieb dem Betroffenen ein Übernahmeangebot machen. Gesamtwirtschaftlich beträgt »die durchschnittlich geschätzte Dauer sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungsverhältnisse in der Arbeitnehmerüberlassung 8,7 Monate« (2010);[7] rund die Hälfte dauert weniger als drei Monate – womit nicht die Beschäftigungsdauer im Entleihbetrieb beziffert ist, sondern die Länge der zwischen Verleihunternehmen und Leiharbeitnehmern bestehenden Arbeitsverhältnisse. Die IG Metall hat 2011 selbst eine bundesweite Befragung unter Mitgliedern in Leiharbeit durchgeführt, die zu dem Ergebnis kommt, 55% der Leiharbeitskräfte länger als ein Jahr im gleichen Einsatzbetrieb arbeitet. Selbst für den Fall, dass dieser Befund nicht überzeichnet sein sollte, bleibt zur tariflichen Regelung einer Übernahme der Leiharbeiter nach zwei Beschäftigungsjahren noch eine erhebliche zeitliche Kluft. Es wird sich in den kommenden Monaten also erst noch erweisen müssen, wie groß die Zahl der Leiharbeitskräfte ist, für die diese Form prekärer Arbeit der Vergangenheit angehört.

Stufenweise verbessern wird sich die Entlohnung der Leiharbeiter in der Metall- und Elektroindustrie ab November 2012 durch Branchenzuschläge auf ihr Tarifentgelt, die zwischen der IG Metall und den Leiharbeitsverbänden vereinbart wurde. Allerdings ist mit diesen Anhebungen selbst in der höchsten Zuschlagsstufe mit 50% nach neun Monaten nicht sichergestellt, dass Leiharbeiter die unterste Lohngruppe im Betrieb erreichen. Tarifliches equal pay ist das nicht.

Perspektiven?

Die verteilungspolitische Bilanz der Tarifrunde 2012 kann sich nach den bisherigen Ergebnissen sehen lassen. Dass zugleich Entprekarisierungsinitiativen mit stark mobilisierendem Effekt unternommen worden, fällt in der politischen Bewertung positiv ins Gewicht – auch wenn die Kluft zwischen Forderungen und Ergebnissen hier am größten ist. Wie bei ver.di wird auch in der IG Metall diskutiert, wie belastbar der Fuß in der Tür zu einer Tarifpolitik ist, die – wie die Volkswirtschaftsabteilung der Commerzbank formulierte – »die Ära moderater Lohnabschlüsse« beendet, ihre Verantwortung in einem auch verteilungspolitisch zerklüfteten, wenn nicht gar auseinandergesprengten Europa überprüft und Verteilungspolitik mit Guter Arbeit koordiniert. Wie wird der weitere ökonomische Krisenprozess in Europa eingeschätzt, wie die politische Entwicklung unter einem autoritären Fiskalregime? Welche Argumente sprechen weiterhin für eine gesamtwirtschaftliche Anlage der Tarifpolitik, welche für die Auslotung sektoraler Verteilungs- und Regulierungsspielräume? Im Februar hatten wir im Forum Gewerkschaften dieser Zeitschrift Diskussions- und Klärungsbedarf hinsichtlich der Perspektiven der Tarifpolitik reklamiert.[8] Nachdem nun zwei große Tarifrunden beendet sind, ist die Zeit gekommen, diese Debatte zu führen.

Otto König ist Mitherausgeber, Richard Detje Redakteur der Zeitschrift Sozialismus.

[1] Siehe zur kontroversen Bewertung des Tarifabschlusses im Öffentlichen Dienst: Bernd Riexinger: Zustimmung und Ablehnung, in: Sozialismus 5/2012, S. 36-39 und Michael Wendl: Tarifpolitischer Erfolg, www.sozialismus.de (3. April 2012).
[2] T. Niechoj/U. Stein/ S. Stephan/R. Zwiener: Deutsche Arbeitskosten: Eine Quelle der Instabilität im Euroraum, IMK-Report Nr. 68, Dezember 2011.
[3] IMK/OFCE/WIFO: Fiskalpakt belastet Euroraum, IMK-Report 71, März 2012.
[4] ILO: Global Employment Trends for Youth 20120, Genf 2012.
[5] Bundesagentur für Arbeit: Zeitarbeit in Deutschland – aktuelle Entwicklungen, Januar 2012.
[6] »Die Bedingungen in der Branche haben sich drastisch verschlechtert, inzwischen arbeiten zwei von drei Leiharbeitsbeschäftigten zu Niedriglöhnen. Während Vollzeitbeschäftigte im Durchschnitt 18,04 Euro brutto pro Stunde (2006) verdienen, erreichen Leiharbeitskräfte mit 9,71 Euro nahezu nur die Hälfte. Wegen der niedrigen Löhne müssen 11,5% aller Leiharbeitskräfte ergänzend Leistungen der Grundsicherung (Hartz IV) in Anspruch nehmen… Die Kosten für diese Aufstockung betrugen nach Auskunft der Bundesagentur für Arbeit zwischen Juni 2008 und Mai 2009 rund 531 Millionen Euro.« G. Bosch: Missbrauch von Leiharbeit verhindern. Stellungnahme zur öffentlichen Anhörung des Bundestagsausschusses für Arbeit und Soziales, IAQ-Standpunkte 02-2011.
[7] Bundesagentur für Arbeit, a.a.O., S. 19.
[8] R. Detje/O. König: Tarifrunde 2012: Verteilungspolitik braucht neue Perspektiven, in: Sozialismus 2/2012, S. 48-50.

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