1. Juni 2025 Claus-Jürgen Göpfert: Wie und warum Nestlé in Deutschland Tausende von Arbeitsplätzen abbaut
»Geiern auf noch mehr Profit«
Eine Kolonne von Demonstrierenden zieht am frühen Nachmittags durch das Bahnhofsviertel von Frankfurt am Main. Auf den Transparenten, die sie tragen, stehen Sätze wie »Geiern auf noch mehr Profit!« oder »Ende der Bescheidenheit – ab jetzt sind wir kampfbereit!«.
Es ist eine Premiere: 250 Mitarbeitende aus acht Standorten des Konzerns Nestlé in Deutschland sind mit Bussen und Bahnen angereist, um vor der nationalen Zentrale des weltgrößten Nahrungsmittelproduzenten zu demonstrieren. Zum ersten Mal laufen die Menschen am 14. Mai 2025 zur neuen Hauptverwaltung nahe des Frankfurter Hauptbahnhofs, die 2024 bezogen wurde. Aus Hamburg kommen sie und aus Schwerin, vom Bodensee oder aus der kleinen Gemeinde Conow in Mecklenburg-Vorpommern.
Es ist ein Zeichen für Wut und Verzweiflung, aber auch trotzigen Kampfesmutes, die sich über Jahre angestaut haben. Denn lange schon baut Nestlé Arbeitsplätze in Deutschland ab, verlagert sie in die Länder Osteuropas wie Polen oder Serbien, in denen die Löhne und die Kosten wesentlich niedriger sind. Rücksichtslos spielt das Unternehmen dabei die einzelnen Standorte gegeneinander aus. »Wir waren 2014 noch 12.400 Kolleginnen und Kollegen bei Nestlé Deutschland, heute sind davon noch etwa 6.500 übriggeblieben«, erklärt Andreas Zorn, der Vorsitzende des Gesamtbetriebsrates. Allein dem Profit und der Steigerung der Marge ordne das Management alles unter.
Aktuell stehen zwei Nestlé-Niederlassungen vor dem Aus: Mitte 2026 soll das Werk im rheinländischen Neuss geschlossen werden. Dort produzieren derzeit noch 145 Menschen Senf und Mayonnaise. Bereits Anfang 2026 will der Konzern sich aus dem Standort Conow in Mecklenburg-Vorpommern zurückziehen. Er soll verkauft werden. Aber ob sich ein Käufer findet und die 81 Arbeitsplätze erhalten bleiben, ist derzeit völlig offen.
André Hemmerle hat solche Geschichten schon oft gehört, er kennt sie zur Genüge. Seit Jahrzehnten schlägt sich der Aktivist der französischen Gewerkschaft CGT mit Nestlé herum. Der inzwischen 75-jährige Gewerkschafter, dessen weißer Haarschopf weithin sichtbar aus der Menge hervorsticht, ist eigens aus Straßburg angereist. Seit den 1990er-Jahren arbeitet Hemmerle mit der deutschen Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) zusammen, deshalb weiß er: »Wir können nur international gegen einen Konzern wie Nestlé bestehen, der in Deutschland und Frankreich, aber auch in Indien und Lateinamerika produziert – deshalb bin ich hier!«
Diese Kooperation der Gewerkschaften über Landesgrenzen hinweg ist angesichts der Entwicklung des Lebensmittelproduzenten Nestlé auch dringend notwendig. Der Konzern zählt nach Angaben von Andreas Zorn mittlerweile weltweit etwa 265.000 Beschäftigte in rund 160 Ländern.
Claus-Jürgen Göpfert ist Journalist und Autor. Gerade erschien von ihm im VSA: Verlag Hamburg der Band »Zeitung im Kampf. 80 Jahre ›Frankfurter Rundschau‹ oder: Niedergang des linksliberalen Journalismus?«