1. Juli 2000 Johannes Steffen

» ... gewechselt haben nur die Fliegen«

»Was ich vorschlage, ist keine Politik gegen die Kolleginnen und Kollegen in den Gewerkschaften, sondern für sie. Und nicht nur für sie, sondern auch für ihre Enkel.«
Schreiben Walter Riesters vom Juni 2000 an Klaus Zwickel

So jedenfalls sieht Walter Riester sein Rentenkonzept, das er am 29./30. Mai auf einer Klausurtagung im hessischen Schloss Schönberg bei Bensheim von der Koalitionsarbeitsgruppe absegnen ließ. An gleicher Stelle verwahrt sich der Arbeitsminister gegen den Vorwurf seines früheren Vorstandskollegen, mit der rot-grünen »Reform« werde das Ende der solidarischen Rentenversicherung eingeleitet – das genaue Gegenteil sei der Fall: Er, Riester, werde mit seinem Konzept der Rente für die künftigen Herausforderungen ein neues, modernes Fundament geben. – Wer von so viel Glaubenskraft getragen wird, muss im tiefsten Inneren ein wahrer Christenmensch sein. Der nämlich weiß: Ewiges Leben kann nur erreichen, wer zuvor ins Jenseits befördert wird. Den Test macht Riester jetzt mit der Rente.

Als der Deutsche Bundestag am 9. November 1989 die letzte gemeinsam von Union und SPD getragene Rentenreform – das Rentenreformgesetz 1992 – verabschiedete, gingen die Parlamentarier davon aus, dass der Beitragssatz im Jahre 2000 bei 22% liegen werde; diese Perspektive erschien seinerzeit politisch durchaus akzeptabel. Berücksichtigt man die zwischenzeitlichen Eingriffe ins Leistungsrecht und den höheren steuerfinanzierten Anteil an den Rentenausgaben, so läge der Beitragssatz heute tatsächlich bei rd. 22%. Trotz damals nicht vorhersehbarer Wiedervereinigung und trotz seither drastisch gestiegener Massenarbeitslosigkeit gibt es also weder heute noch – nach heutiger Erkenntnis – in den kommenden »schweren« 30 Jahren irgendwelche neuen, plötzlich und überraschend aufgetauchten Finanzierungslöcher bei der Rente. Wo also liegt das Problem?

Früher – so wird hin und wieder erzählt – waren es vor allem Sozialdemokraten, bei denen Fragen der Verteilung und der sozialen Gerechtigkeit im Zentrum von Politik und Programmatik standen. Vom Primat der Politik soll da die Rede gewesen sein und von der dienenden Rolle der Wirtschaft. Heute, wo Dax und Dow Jones, Blue Chips und Neuer Markt geläufigere Begriffe sind als Solidarität und Verteilungsgerechtigkeit, herrschen andere Maßstäbe und Zielvorgaben. Ob dies zu bedauern oder zu begrüßen ist, kann hier dahingestellt bleiben; die Menschen sind wie sie sind. Geradezu erschütternd ist allerdings der Umstand, dass dieser Wandel politischer Werte, Wahrnehmungen und Deutungsmuster inzwischen auch bei jenen elementarste ökonomische Zusammenhänge und selbst die vier Grundrechenarten außer Kraft zu setzen scheint, deren Klientel und Wählerschaft auf einen funktionierenden Sozialstaat existenziell angewiesen sind.

Noch im Sommer vergangenen Jahres legte Riesters Ministerium Berechnungen vor, wonach bei Aufrechterhaltung eines lebensstandardsichernden Rentenniveaus von rd. 70% bis zum Jahre 2030 mit einem Beitragssatzanstieg auf rd. 26% zu rechnen sei. Arbeitgeber und Arbeitnehmer hätten demnach unter Beibehaltung der paritätischen Finanzierung jeweils 13% zu zahlen. Riesters neues Renten-Modell will den Beitragssatz deutlich niedriger halten: Bis zum Jahre 2020 bei unter 20% und danach bei unter 22%. Das gaukelt den Eindruck stabiler Belastungen vor und wird von Rot-Grün als politischer Durchbruch zu mehr Ehrlichkeit in der Rentenfrage gefeiert. Rudolf Dreßler, der im Bundestag fast zwei Jahrzehnte für sozialdemokratische Sozialpolitik stand, wird angesichts solchen Gebarens allerdings eher an den Autofahrer erinnert, der die aktuelle Benzinpreissteigerung mit der Bemerkung kommentiert: »Das ist mir gleichgültig, ich tanke eh immer für 50 Mark.«

Bei genauerem Hinsehen bleibt in der Tat nur Lug und Trug. Bis zu 13% Arbeitnehmeranteil zur Altersvorsorge im Jahre 2030 sind angeblich nicht tragbar – wohl aber 15%. Die Jüngeren sollen endlich spürbar und dauerhaft entlastet werden – zahlen aber schon ab kommendem Jahr und dann fortlaufend immer mehr als sie zahlen müssten, wenn Riester seine Finger von der Rente lassen würde. Denn zusätzlich zu ihrem Arbeitnehmeranteil sollen sie in Zukunft auch noch 4% als Privatvorsorgebeitrag aufbringen – natürlich ohne Arbeitgeberbeteiligung. Immer klarer kristallisiert sich heraus: Der Arbeitsminister und sein Renten-Modell sind nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems.

Um den Beitragssatz auf der anvisierten Niedrigsthöhe zu halten, kommt Rot-Grün natürlich nicht umhin, die Leistungen drastisch einzuschränken. Das Nettorentenniveau, also das rechnerische Verhältnis der Nettostandardrente nach 45 Beitragsjahren mit Durchschnittsverdienst zum durchschnittlichen Nettoarbeitsentgelt der Aktiven, soll von heute etwa 70% auf rd. 62% im Jahre 2030 sinken (Rentenzugang); bis 2050 – soweit hat Riester rechnen lassen – sogar auf nur noch 54%. Ein methodisch sauberer Vergleich mit dem heutigen Rentenniveau würde allerdings nur noch Werte von 58% bzw. 50% ergeben. Denn Riesters Rechenmethode bedient sich eines Tricks aus der Täuscherwerkstatt: Vom durchschnittlichen Nettoentgelt zieht er einfach den formal zwar freiwilligen, faktisch aber obligatorischen Privatvorsorgebeitrag der Arbeitnehmer von künftig 4% ab – so, als handele es sich um Arbeitnehmerbeiträge zur Sozialversicherung. Selbst der schläfrigste Klippschüler weiß: Wer den Nenner kürzt, erhält bei konstantem Zähler ein besseres Ergebnis. Übrig bliebe am Ende eine gesetzliche Rente auf Sozialhilfeniveau. Aber auch für diesen Fall liegen die Rezepturen vermutlich schon in der Schublade:

»Berlin, irgendwann in den nächsten Tagen.
Bundesarbeitsminister Walter Riester (SPD) widersprach Pressemeldungen, wonach sein Reformkonzept die Rente unter den Sozialhilfesatz drücke. Das genaue Gegenteil sei der Fall. Wie ein Sprecher unter Verweis auf die Geschäftsverteilung im Kabinett hervorhob, sei Riester neben der Rente auch für das Bundessozialhilfegesetz zuständig. In dieser Eigenschaft werde er dafür Sorge tragen, dass es zu keiner Kollision (Rentenabstandsgebot) der beiden Sicherungssysteme komme. Im übrigen sei alleine schon der politische Werdegang des Ministers – Riester war zuletzt Zweiter Vorsitzender der IG Metall – Garant für die soziale Ausgewogenheit aller Reformüberlegungen seines Hauses; anders lautende Behauptungen gehörten zur inzwischen üblichen Polemik des politischen Gegners. Riester werde auch in Zukunft gewährleisten, dass die steuerfinanzierten Leistungen der Sozialhilfe deutlich unterhalb derer der beitragsfinanzierten Rente blieben.«

Während das Rentenniveau nach »Riester-Methode« bis zum Jahre 2030 auf 62% sinkt, verspricht die Koalitionsarbeitsgruppe den Rentenzugängen des Jahres 2030 – also den heute 35-Jährigen – ein Gesamtversorgungsniveau aus sozialer und privater Rente von zusammen 74,38%. Neben dem erwähnten Rechentrick wird bei diesem Vergleich bewusst unterschlagen, dass viele Arbeitnehmer schon seit langem private Vorsorge für’s Alter treffen – seien es z.B. Lebensversicherungen, Sparpläne oder Eigenheimerwerb; das Versorgungsniveau aus sozialer plus privater Vorsorge beträgt schon heute beim Standardrentner (West) zwischen 75% und 80%. Spätestens mit dieser optischen Trickserei entpuppt sich der Charakter der vermeintlich zusätzlichen Privatvorsorge im rot-grünen Konzept: Nicht Ergänzung, sondern – weil alleine von den Arbeitnehmern finanziert – teurer Ersatz für bislang paritätisch finanzierte und künftig drastisch gekürzte Leistungen der sozialen Rentenversicherung. Und: Das rot-grüne Privatvorsorgekonzept beschränkt sich auf die Absicherung des Einkommensrisikos im Alter. Während die gesetzliche Rente keinen risikoabhängigen Beitragssatz kennt, auch Invalide und Hinterbliebene absichert und ihre Leistungen auch durch Zeiten z.B. der Arbeitslosigkeit, Krankheit oder Kindererziehung erhöht werden, führen derartige Zeiten bei der privaten Absicherung unmittelbar zu Verlusten bei der Versorgungsanwartschaft. Bei Invalidität oder im Hinterbliebenenfall schmilzt die Leistung der Privatrente – sofern sie überhaupt erbracht wird – auf Minimalbeträge zusammen; und sollen mit der 4%-Prämie auch diese Risiken nur annähernd angemessen abgesichert werden, so bleibt an »Rendite« für die Alterssicherung nichts mehr übrig. Frauen schließlich erhalten als so genannte »schlechte Risiken« bei gleicher Prämienzahlung stets geringere Leistungen als Männer. Privatvorsorge kennt nämlich nicht nur keine Parität bei der Finanzierung, sondern auch keinen Solidarausgleich bei den Leistungen. – In den Augen der Koalition offenbar alles überzeugende Argumente gegen die soziale Rentenversicherung und für die private Vorsorge.

Bei ihrem Sturmlauf gegen die soziale Rente lässt sich die Koalition auch finanziell nicht lumpen; wer ein »faules« Produkt politisch und ideologisch am Markt plazieren will, muss Werbekosten in Kauf nehmen, zumal sie am Ende von den Umworbenen weitgehend selbst bezahlt werden. Ab dem Jahre 2008 – von da an gilt ein Prämiensatz von 4% – will der Kanzler über staatliche Zuschüsse und Steuerfreibeträge, die ganz nebenbei hohe Einkommen stärker begünstigen als kleine, ein Volumen von jährlich fast 20 Mrd. Mark zur Förderung der Privatvorsorge locker machen. Der SPD-Bundestagsfraktion reicht dies aber offenbar noch nicht aus; zusätzlich müssten die Arbeitnehmer einen »vollen Rechtsanspruch auf steuer- und beitragsfreie Entgeltumwandlung für Beiträge zur privaten Altersvorsorge« erhalten, fordert deren stellvertretende Fraktionsvorsitzende Ulla Schmidt.

Bei der ganzen Debatte geht es inzwischen zu wie im Tollhaus; tiefere Sachkenntnis der Materie ist bei dem öffentlichen Disput nicht mehr gefragt. Die geforderte generelle Gehaltsumwandlung in Höhe beispielsweise der 4%igen Vorsorgeprämie würde Kranken-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung zusammen über 10 Mrd. Mark an Mehrbelastung bringen (Saldo aus Mindereinnahmen und Minderausgaben); auch die Rentenversicherung hätte im »ersten« Jahr Beitragsmindereinnahmen von rund 12 Mrd. Mark, denen im Folgejahr allerdings annähernd entsprechende Minderausgaben bei den Rentenzahlungen gegenüber stünden. Und schließlich müssten die Gebietskörperschaften mit weiteren Einnahmeausfällen in zweistelliger Milliardenhöhe rechnen. Insgesamt beliefe sich die staatliche Förderung der Privatvorsorge also auf überschlägig gut 40 Mrd. Mark pro Jahr – umgerechnet fast 3 Beitragspunkte zur Rentenversicherung. Nochmal: All diese öffentlichen Mittel sollen Jahr für Jahr in die Privatvorsorge gepumpt werden, weil die soziale Rente mit lebensstandardsichernden Leistungen nach Auffassung eines dilettantischen Arbeitsministers in Zukunft nicht mehr finanzierbar sei und vorgeblich verletzte »Generationengerechtigkeit« wieder hergestellt werden müsse. – Hier wird blanker Irrsinn zur Leitmaxime rot-grüner Sozialpolitik.

Inzwischen wird den Berliner Abgeordneten in ihren Wahlkreisen schon vielerorts von aufgebrachten Arbeitnehmern und Rentnern auf den Zahn gefühlt. Die Ärmsten wehren sich angesichts der Chaospolitik ihres Arbeitsministers so gut sie können und verweisen darauf, dass Rot-Grün doch das Loch bei den sozialversicherungsfreien Beschäftigungsverhältnissen dicht gemacht habe, dass Altersarmut künftig wirksamer verhindert werde, dass Mütter ihre geringen Entgelte während der so genannten Kinderberücksichtigungszeiten aufgewertet bekämen usw. – dass also bisherige Sicherungslücken von Rot-Grün konsequent geschlossen würden. Mit anderen Worten: Da klaut einer unter aller Augen die Sau vom Hof, bringt tags darauf ein Schnitzel zurück und will auch noch als Spender gefeiert werden. Dass die Gewerkschaften – jedenfalls in ihrer Mehrheit – gegen diese rot-grüne Konter-Reform mobil machen wollen, sollte alleine schon ihrer eigenen Glaubwürdigkeit wegen eine Selbstverständlichkeit sein. Ob sie hierbei allerdings auch die Kraft finden, sich endgültig vom Ruch der »ideologischen Kumpanei« mit neoliberaler Krisendiagnose und -therapie frei zu machen (vgl. Kasten) ist derzeit noch völlig offen. Die Dimension des geplanten Angriffs auf den Kernbereich der Sozialstaatsverfassung, den die soziale Rentenversicherung nun einmal darstellt, findet in den letzten zwei Jahrzehnten jedenfalls keinen Vergleich – auch nicht in den zwischenzeitlich wieder revidierten Änderungen des Entgeltfortzahlungsgesetzes oder den Verschlechterungen beim gesetzlichen Kündigungsschutz im Jahre 1996, die bekanntlich Anlass für gewerkschaftliche Massenproteste und für den Ausstieg aus dem Kohl-Bündnis waren. »Wer, wenn nicht wir«: Im Kampf um die Zukunft der Rente wird sich schnell zeigen, ob die Imagekampagne des DGB lediglich von semantischen Luftblasen oder von gesellschaftspolitischem Gestaltungswillen – auch gegen die rot-grüne Bundesregierung – getragen wird.

»Die Sozialbeiträge insgesamt und die Sozialabgabenquote müssen stabilisiert und bis zum Jahre 2000 wieder auf unter 40% zurückgeführt werden. Eigenvorsorge muss ein wachsendes Gewicht erhalten.«
Bündnis für Arbeit und zur Standortsicherung, vereinbart zwischen Bundesregierung sowie Spitzenrepräsentanten der Wirtschaftsverbände und Gewerkschaften anlässlich des 7. Gesprächs zur Zukunftssicherung und für mehr Beschäftigung am 23.1.1996

»Die am Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit beteiligten Seiten streben vor allem an: 1. weitere dauerhafte Senkung der gesetzlichen Lohnnebenkosten ... «
Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit, gemeinsame Erklärung vom 7.12.1998

»Im Streit um die Rentenreform wirft Bundesarbeitsminister Riester den Gewerkschaften vor, sie würden sich den gemeinsam im Bündnis für Arbeit beschlossenen Grundsätzen zur Senkung der Lohnnebenkosten verweigern. Die Gewerkschaften sollten sich an das von ihnen im Rahmen des Bündnisses für Arbeit mit beschlossene Grundsatzziel halten: Senkung der Lohnnebenkosten auf höchstens 40 Prozent. Die rot-grüne Bundesregierung ginge jetzt das Thema praktisch an, indem sie eine Stabilisierung des Rentenbeitragssatzes auf 20 Prozent für die nächsten 20 Jahre garantieren wolle. Sollte die Abkehr von einmal verabredeten Grundsätzen wirklich der Meinung der Gewerkschaften entsprechen, dann fände er es richtig, wenn die Gewerkschaften es im Bündnis für Arbeit thematisierten.«
Walter Riester gegenüber der Leipziger Volkszeitung vom 15.06.2000

Einem solchen Glaubwürdigkeitstest können sich aber auch die Abgeordneten der Regierungsfraktionen nicht entziehen. Es wäre ein reichlich zynischer Treppenwitz der Geschichte, wenn die im Kampf des kaiserlichen Obrigkeitsstaates gegen die alte Sozialdemokratie geborene Sozialverfassung und deren Strukturprinzipien von der neuen Sozialdemokratie – jetzt selbst an der Macht – für überflüssig befunden würden.

Vor zwei Jahren stand die Forderung nach einem Politikwechsel für Arbeit und soziale Gerechtigkeit ganz oben an. Am Abend des 27. September 1998 schien eine der wesentlichen Voraussetzungen hierfür geschaffen. Sollten die Abgeordneten der Koalitionsparteien jetzt allerdings den Plänen ihres Arbeitsministers zur Abschaffung der sozialen Rentenversicherung auch nur in Teilen oder in abgespeckter Form – z.B. durch die jüngst in der Debatte wieder aufgetauchte Blümsche »Rentenniveau-Sicherungsklausel von 64% – ihre Zustimmung geben, dann steht am Ende wirklich nur die nüchterne Erkenntnis des alten Sponti-Spruchs: »Der Haufen Scheiße ist geblieben – gewechselt haben bloß die Fliegen.«

Johannes Steffen ist Referent für Sozialpolitik bei der Arbeiterkammer Bremen.

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