25. Oktober 2012 Otto König / Richard Detje: Der Weg des 2. Vorsitzenden der IG Metall

Gewerkschaftsstrategien am Ende des Rheinischen Kapitalismus

Als Detlef Wetzel im Sommer 1997 zum 1. Bevollmächtigten der IG Metall Verwaltungsstelle Siegen gewählt wurde, trat er an die Spitze einer ausgezehrten, finanziell ausgebluteten Organisation.

»Seit 1980 hatten wir im Siegerland ein Viertel aller Industriearbeitsplätze eingebüßt. Durch die damit verbundenen Mitgliederverluste waren an meinem ersten Arbeitstag in der Kasse noch 40.000 Mark übrig. Und das nicht in bar, sondern als Bilanzwert des Anlagevermögens – in unseren gemieteten Räumen waren das gerade mal die Schreibtische und Aktenschränke, die noch nicht abgeschrieben waren.« (63)

Die Ernennung zum Bezirksleiter der IG Metall in Nordrhein-Westfalen sieben Jahre später bescherte ein Déjà-vu. Nur »drei Verwaltungsstellen (waren) finanziell stabil, zehn in einem besorgniserregenden Zustand, und bei 33 Verwaltungsstellen schien schlicht und einfach die Existenz gefährdet« (131). Und noch einmal sollte sich die Geschichte wiederholen – im November 2007 bei der Wahl zum 2. Vorsitzenden der IG Metall. Auch dort musste nach jahrelangen Mitgliederverlusten ein Turnaround geschafft werden.

2012 weist die Bilanz schwarze Zahlen auf: Zugewinn statt Substanzverlust. Detlef Wetzel hat die Wege dorthin beschrieben. »Mehr Gerechtigkeit wagen. Der Weg eines Gewerkschafters«, lautet der Titel seiner Autobiografie.[1]

Der Masterplan war in den 1990er Jahren gereift und später ausgebaut worden. Drei Erfahrungen sind grundlegend für Wetzels Ansatz. Erstens die Aufkündigung des »Gesellschaftsvertrags« des Rheinischen Kapitalismus, damit die Verweigerung von sozialem Aufstieg und Teilhabe, die Wiederkehr von sozialer Spaltung und in diesem Prozess das Schleifen der institutionellen Machtressourcen der Gewerkschaften: von der Mitbestimmung bis zum Sozialstaat. Zweitens die beschleunigte Erosion struktureller Machtressourcen im Lohnarbeit-Kapital-Verhältnis in Folge ökonomischen Strukturwandels (größeres Gewicht von Klein- und Mittelbetrieben), Technik­einsatz und Automatisierung sowie expandierenden Belegschaften außerhalb des Shopfloor, zu denen auch die IG Metall kaum Zugang fand. Die dritte Erfahrung: Gewerkschaften müssen sich auf die Wiedererlangung von Organisationsmacht konzentrieren, wenn sie betriebliche Willkür und Tarifflucht verhindern und auf dem politischen Feld ernst genommen werden wollen.

Masterplan

Der organisationspolitische Masterplan weist zwei Ansatzpunkte aus:

Erstens beteiligungsorientierte Mitgliedergewinnung. Das erstreckt sich über Instrumente wie »Rückhol-Management« (»Heute sind wir ... in der IG Metall so weit, dass eine gute Verwaltungsstelle ein knappes Drittel ihrer Austritte in Wiedereintritte umwandelt« [70]), unmittelbare gewerkschaftliche Präsenz im Betrieben (betriebliche Interessenvertretung wird nur gestützt, wenn diese im Gegenzug die Gewerkschaft stärkt), Erschließung nicht-organisierter Betriebe, verbesserten Mitgliederservice bis hin zu bedingungsgebundener Tarifpolitik (»Tarif aktiv«) – »viel später erfuhr ich, dass wir ›Organizing-Strategien‹ nach amerikanischem Vorbild angewendet hatten« (72, 166ff.). Nun könnte man sagen, das alles ist nicht neu; Gewerkschaftsarbeit hatte immer Mitgliedergewinnung im Fokus. Doch was Wetzels Ansatz auszeichnet, ist die absolute Konsequenz, mit der er ihn durchzieht und dabei mit hergebrachten Routinen bricht. Mitgliederentwicklung ist für ihn »die politischste Frage« der IG Metall überhaupt (68, 130), ihr ist alles andere unterzuordnen: die Personalpolitik, die Verteilung der finanziellen Ressourcen, das Aufgabenprofil der Gewerkschaft vor Ort, der Zuschnitt der Organisation, ihr allgemeinpolitisches Mandat.

In dieser Konsequenz steckt Widersprüchliches: einerseits die Aktivierung von Mitgliedern und Betroffenen als kollektive Interessenvertreter in eigener Person, damit Absage an Stellvertreterpolitik; andererseits administrative und politische Zentralisierung. Der Konflikt um das »Projekt 2009« (193ff.) brach auf dem letzten Gewerkschaftstag der IG Metall in Karlsruhe auf: Die Delegierten lehnten eine »schlanke« Spitze (Verringerung der Zahl der geschäftsführenden Vorstandsmitglieder von sieben auf fünf) auch wegen der Befürchtung ab, dass die weitgehend autonomen Verwaltungsstellen zu Weisungsempfängern von strategischem Organisationsmanagement entsprechender Vorstandsabteilungen werden. Diese Widersprüchlichkeit, die auch US-Organizingkonzepte und -praxen durchzieht, ist bis heute nicht aufgelöst.

Zweitens innovationsorientierte Unternehmenspolitik: »besser statt billiger«. Auch bei dieser Strategie reichen die siegerländer Wurzeln in die erste Hälfte der 1980er Jahre zurück. »Bemerkenswert war der damalige IHK-Präsident, der seit Jahren bei seinen leider falsch kalkulierten Walzenteilen draufgezahlt hatte. Er kam als Erstes, um die Löhne zu drücken... Etwas anderes war es, wenn ein Firmenchef zunächst auf kluge Weise versucht hatte, mehr Wettbewerbsfähigkeit herzustellen: Investitionen in neue Technologie, schlankere Management-Strukturen, effizientere Arbeitsorganisation. Auch solche Betriebe waren zum Teil gezwungen, nach all diesen Maßnahmen bei uns nach Zugeständnissen zu fragen, aber im Allgemeinen kamen sie gut durch die Krise« (36). Krisen aufgrund »gröbster Managementfehler« stehen hier im Fokus. Um Innovative Unternehmenspolitik ging es auch bei überbetrieblichen Initiativen der 1989 von der IG Metall gegründeten Beratungsagentur Siegerland Consult. Durch Bündelung und Neuausrichtung der Kräfte aus Gewerkschaft, Unternehmen, Politik und Verwaltung auf Prozess- und Produktinnovationen galt es Modernisierungsprozesse anzustoßen.

Strukturpolitik von unten – ein gescheiterter Weg?

Detlef Wetzel beschreibt dies als einen nach und nach gereiften, 1988 schließlich vollzogenen Strategiewechsel. So wie er es sieht, hatte sich die IG Metall in den Strukturkrisen der 1980er Jahre – Kohle, Stahl, Schiffbau – mit einem »Gegenmachtkonzept« (31) zur Verhinderung von Kahlschlagsanierung festgebissen. Der Ansatz bei der AG Weser und HDW in Hamburg war: Widerstand bis hin zu Betriebsbesetzungen gegen Werftenschließungen und Entwicklung von Zukunftsperspektiven mit alternativen Produktionen. In der Stahlindustrie war es ähnlich: massiver Widerstand und Entwicklung neuer Produktbereiche sowie Produktionsverfahren und vorgeschaltet die Errichtung von Beschäftigungsgesellschaften. Widerstand aus zwingendem Grund: War eine Stilllegung erst einmal erfolgt, brachten die besten Ideen nichts mehr. Aus der gewerkschaftlichen Gegenwehr erwuchsen in diesen Jahren die größten Mitmachaktionen im Ruhrgebiet. Nicht nur der betroffenen Belegschaften, sondern auch überbetrieblich-regional, gemeinsam mit überwiegenden Teilen der Bevölkerung – vom Arbeiter über die Erzieherin im örtlichen Kindergarten, den Lehrer und die Verwaltungsangestellte der Stadt, bis zum Metzgermeister und Pfarrer. Da war schon im Ansatz nichts mit Stellvertreterpolitik, da wurde tägliches Plebiszit praktiziert. Ohne die Aufgaben in die eigene Hand zu nehmen, selbst initiativ zu werden wäre weder Widerstand noch zukunftsorientierte Kreativität möglich gewesen. Es ist ein eigenes Thema, auszuführen, woran diese Ansätze gescheitert sind.2 Doch auch Erfolge, wie begrenzt auch immer, sollte man nicht unterschlagen. Dass die NRW-Landesregierung schließlich ein Zukunftsinvestitionsprogramm (ZIM) auflegte, war ein Erfolg widerständiger, mobilisierender und auf breite zivilgesellschaftliche Beteiligung ausgerichteter Verwaltungsstellen der IG Metall. Die Siegener Beratungsagentur hat davon profitiert: Ohne die Mittel aus diesem Landesprogramm hätte es sie nie gegeben.

All das steckt in dem Begriff des »Gegenmachtkonzepts«, das von vornherein ein offensives Gestaltungskonzept war. Wetzel spricht diese Erfahrungswelten mit keinem Wort an. Stattdessen reduziert er sie auf Insolvenz begleitende Maßnahmen, bei denen nicht mehr als eine Politik des »letzten Geleits« heraus kam: »Wir ... reichten als Wegzehrung noch eine Fleischwurst im Brötchen« (32). Aber haben um ihre Arbeitsplätze kämpfende Belegschaften nicht zumindest einen normativen Rechtsanspruch auf eine konfliktorientierte Gewerkschaft? Ralf Dahrendorfs Verdikt über »Verteidigungsorganisationen absteigender sozialer Gruppen« taugt nicht als politische »Wegzehrung« für eine Interessenvertretung, die eben auch Werft- und Stahlarbeiter organisiert. Sicher: Im Strukturwandel verändern sich die Unternehmens- und Arbeitslandschaften. Aber exakt aus diesem Grund war Strukturpolitik zentraler Bestandteil der Kämpfe in Hamburg und Bremen, in Hattingen, Rheinhausen und anderswo – eingebettet in eine Gegenmachtstrategie, die davon ausgeht, dass renditegesteuerte Standortkonzepte mit »guten Argumenten« allein nicht in Richtung Konversion und alternativer Produktion korrigiert werden, und dass auch die Lernfähigkeit von Landesregierungen davon abhängt, ob Gegenwehr mobilisiert wird oder nicht.

Flexibilisierung auf der »high road«

Was tun, wenn Pfadwechsel durch Gegenmacht für unrealistisch gehalten werden? Detlef Wetzel setzt auf Optimierung, auf wettbewerbsorientierte Modernisierung. Selbstverständlich nicht auf einer »low road« des Lohndumping, sondern auf der »high road« hoher Produktivität. Unter dieser Maßgabe beleuchtet er die Entwicklung der IG Metall in den zurückliegenden drei Jahrzehnten. Exemplarisch:

  • am Kampf um die 35-Stunden-Woche; Wetzel kritisiert die damalige Politik der IG Metall, nicht frühzeitig auf den Zug der Arbeitszeitflexibilisierung aufgesprungen zu sein, wohlweislich, dass die Gewerkschaft im Zuge der Flexibilisierung schließlich die Kontrolle über die Arbeitszeiten verloren hat;
  • am Vorschlag des »Bündnis für Arbeit« (Zwickel 1995) – ein »Stoff, aus dem erfolgreiche Politik gemacht wird« (56), obwohl es trotz offensivem »concession bargaining« und weitreichender Zugeständnisse von Seiten der IG Metall nicht möglich war, verbindliche Beschäftigungsgarantien zu erhalten;
  • an den Themen Öffnungsklauseln und Zweistufigkeit von Tarifverträgen (Pforzheimer Abkommen): »Hätten wir heute Dienstleistungsfenster in unseren Tarifverträgen, dann müssten wir nicht beklagen, dass Werkvertragsbeschäftigte oft ohne oder mit schlechten Tarifverträgen ihre Arbeit tun müssen« (126). »Dienstleistungsfenster« heißt: Abweichung vom Metalltarifvertrag nach unten, um durch entsprechende Kostensenkung z.B. Outsourcing zu verhindern.

Wohin führt das? Die Hinweise wären stichhaltig, wenn man davon ausgehen könnte, dass durch Öffnungsklauseln zumindest vergleichbare, wenn nicht größere Kostenvorteile für Unternehmen entstünden, die dadurch veranlasst würden, auf die Prekarisierung der Arbeit zu verzichten. Will man derart weit geöffnete Dienstleistungsfenster? Trotz »Pforzheim« hat sich die Ausweitung von Leiharbeit, Werkverträgen usw. mit höherem Tempo weiter fortgesetzt. Wir sind uns nicht sicher, wo der 2. Vorsitzende der IG Metall das Ziel sieht und wo er die Reißleine ziehen würde. Bei geringer gesamtwirtschaftlicher Produktivität (im Binnenmarkt und Dienstleistungssektor) und niedrigen Preissteigerungen sind die Lohnstückkosten in Deutschland im Vergleich zu allen Nachbarländern gefallen. Gleichzeitig ist die Produktivität im Verarbeitenden Gewerbe, in der Metall- und Elektroindustrie allemal, noch einmal um etliches mehr als im gesamtwirtschaftlichen Durchschnitt gestiegen. Diese Konstellation ermöglichte es Deutschland – seit Einführung des Euro allemal, wie auch Wetzel schreibt, da es seitdem keine Aufwertung einer nationalen deutschen Währung mehr gibt – zum Exportvizeweltmeister, vor dem Aufstieg Chinas gar zum Weltmeister aufzusteigen. Man kann das als wirtschaftlichen und beschäftigungspolitischen Erfolg sehen. Doch zeigt die Krise in der Europäischen Währungsunion, dass dieser Erfolg auf der Grundlage wachsender Handels- und Leistungsbilanzdefizite nur temporär möglich ist, bevor die ökonomische, gesellschaftliche und politische Krise zurückschlägt.

Wiederbelebung von Sozialer Marktwirtschaft

Detlef Wetzel hat ein klares politisches Programm. Sein »Gegenmodell« oder »Gegenentwurf« zum gescheiterten Neo­liberalismus fordert eine »neue Übereinkunft«, aber ist weithin an den Grundpfeilern des Rheinischen Kapitalismus orientiert: Reichtum nicht für wenige, sondern Wohlstand und Teilhabe für alle, unverriegelte Chancen sozialen Aufstiegs, Förderung von Bildung und Ausbildung, Gute Arbeit und leistungsgerechte Entlohnung, soziale Sicherung gegen Armut, Ausgrenzung und Stigmatisierung und schließlich mehr Demokratie in den ökonomischen und sozialen Lebensbereichen. Nur im letzten Punkt geht er einen entscheidenden Schritt weiter, über die hergebrachten Strukturen repräsentativer Demokratie mit der Maxime des »demokratischen Maximums« hinaus. Die Forderung nach Belebung Sozialer Marktwirtschaft bleibt im Gestern stecken.

Für Wetzel ist die Ausstrahlungsfähigkeit des Rheinischen Kapitalismus ungebrochen, was ihn dazu verleitet, in Helmut Schelskys nivellierter Mittelstandsgesellschaft und Ludwig Erhardts sozialer Marktwirtschaft zutreffende Zeitdiagnosen zu sehen. Dass diese Welt zerbrach, lastet er neoliberaler Politik und nicht mehr zum sozialen Ausgleich fähigen Unternehmensvertretern und Finanzmarktinteressen an, ideologisch aufgerüstet durch Think Tanks wie die von Gesamtmetall finanzierte Initiative Soziale Marktwirtschaft. Einer neoliberalen Politik im Übrigen, die erst mit der rot-grünen Koalition unter Schröder/Fischer zur vollen Entfaltung kam, denn im Rückblick müsse »man Blüm und Kohl zugestehen, bis 1998 zumindest das Fundament des ›Rheinischen Kapitalismus‹, also die Arbeitnehmergesellschaft, beibehalten zu haben: den Konsens, dass Sozialpartnerschaft und Ausgleich sinnvoll waren« (28f.). Am Ende seines Buches, mit dem letzten Satz, würdigt er Ludwig Erhardt als Vater dieser Arbeitnehmer- oder Teilhabegesellschaft: »Wäre er hingegen noch am Leben, dann stünde der Vater der sozialen Marktwirtschaft in dieser Zeit – da bin ich sicher – an unserer Seite« (239).

Wie es dazu kommen konnte, dass eine »Mittelstandsgesellschaft« aufgebrochen, fragmentiert, in schreiende soziale Ungerechtigkeit und massenhafte Prekarität und Armut zerlegt wurde, und wie es dazu kommen konnte, dass aus »mehr Demokratie wagen« eine in der jüngeren Zeitgeschichte nie dagewesene Distanz zur politischen Klasse wurde – für Detlef Wetzel ist das wohl ein dem »irrationalen Überschwang« vergleichbarer Prozess. Um den zu fassen, greift er auf die von Karl Polanyi in der »Great Transformation« beschriebene Pendelbewegung zurück. Das verheißt zugleich Perspektive: »Der Leidensdruck für viele hat das erträgliche Maß überschritten. Die Gesellschaft in Deutschland beginnt sich gegen die Phänomene der Ausbeutung, der Zerstörung und der Unterminierung zu wehren. Auch die große öffentliche Sympathie für eine neue Bewegung wie Occupy weist darauf hin. Wir als Gewerkschaft müssen uns in dieser Phase zunächst bewusst machen, dass wir lange Zeit nicht in der Lage waren, auf die Situation des bedrohlich in unsere Richtung schwingenden Pendels zu reagieren. Dies holen wir jetzt nach und wollen ein guter Teil der Kraft des zurückschwingenden Pendels werden« (219).

Liefert das Bild des »zurückschwingenden Pendels« eine treffende Zeitdiagnose? Folgt nach dem neoliberalen Überschwang nun die Gegenbewegung in ein – sagen wir es verkürzt – sozial­demokratisches Zeitalter, in dem die Spaltungen gekittet und eine Mittelstandgesellschaft neu erwächst? Rheinischer Kapitalismus ante portas?

Epochenbrüche 1975–2009

In aller Kürze zwei Gegenargumente:

  • Die Untersuchungen der Forschungsgruppe um Wilhelm Heitmeyer, die Wetzel selbst heranzieht (222), weisen auf eine wachsende Tendenz hin: auf die Formierung einer breiten rechtspopulistisch/rechtsextremen Bewegung in Europa, die durch die nicht mehr zivilisierte, antigesellschaftliche »rohe Bürgerlichkeit« besitzender Klassen noch befördert wird. In etlichen Nachbarländern schlägt das Pendel nicht zurück, sondern in eine andere Richtung.
  • Polanyis Programm des »Selbstschutzes der Gesellschaft« heißt Dekommodifizierung – Herausnahme zentraler Lebensbereiche aus der kapitalistischen Marktregulation, als Grundlage dafür, dass »gutes Leben« entstehen kann. Das schließt Wirtschaftssteuerung und Ausbau öffentlicher Sektoren ein – Polanyi hat das am Beispiel des Rooseveltschen New Deal beschrieben. Und daran kritisiert, dass dieses wirtschaftsdemokratische Programm der 1930er Jahre zu sehr Demokratie »von Oben« war – neue Partizipationsansätze heute laufen in Richtung stärkerer  Demokratie »von unten«, und in diesem Punkt könnten wir uns vielleicht mit Detlef Wetzel treffen. Doch ohne eine neue Qualität von Wirtschaftssteuerung und Gesellschaftsveränderung wird es in der Systemkrise der Gegenwart nicht gehen. Der innovativste Vorschlag der IG Metall im Krisenjahr 2009, die Auflage eines Public Equity Fonds taucht bei Detlef Wetzel nur noch als technisches Instrument einer Zukunftsanleihe auf (202); dabei liegt der entscheidende Ansatz des projektierten Fonds in der Einflussnahme auf das Wie, Was und Wofür der Investitionen sowie in erweiterter Mitbestimmung – im Rahmen tripartistischer Koordinierung (Gewerkschaften, Unternehmen, Staat) – ein aus der Not der Krise geborenes Projekt eines vorausschauenden, demokratischen Strukturwandels. Vergleichbar die Forderung nach Vergesellschaftung der Spekulationsverluste privater Geschäftsbanken nur bei öffentlichen Eigentums- und Kontrollrechten bis in Aufsichtsrat und Vorstand hinein, um auf die künftige Geschäftspolitik Einfluss zu nehmen – von Peer Steinbrück 2009 vehement zurückgewiesen. Damit sind wir aber wieder bei der Frage: transformatorische Strukturpolitik oder innovationsorientierte Wettbewerbspolitik? Auch hier gilt: Der Pendel schwingt nicht in die vorhergehende Stelle zurück.

Wir haben in der damaligen Zeit – sogar zehn Jahre zuvor – noch einmal nachgelesen: bei Willy Brandt, Bruno Kreisky und Olof Palme. In deren Diskussionen ging es in verschiedenen Themenfeldern darum, grundlegende Veränderungen zu erfassen und die Sozialdemokratie neu aufzustellen. Demokratie und Krise waren zwei der großen Themen. Am 15. April 1975 schrieb Bruno Kreisky an Brandt und Palme: »Es mag sein, dass es sich bei der gegenwärtigen wirtschaftlichen Entwicklung in den demokratischen Industriestaaten um eine mehr oder weniger lange dauernde, mehr oder weniger tiefgreifende Rezession handelt. Man kann aber, ebenso wie manche Nationalökonomen, Wirtschaftsjournalisten und Bankiers es auch tun, von einer Krise reden, die ähnlich schwer sein wird wie die Ende der zwanziger und Anfang der dreißiger Jahre... Was tun wir Sozialdemokraten für den Fall, dass die weitere Entwicklung den Pessimisten Recht gibt? Gelingt es nämlich der europäischen Sozialdemokratie nicht, darauf eine Antwort zu geben, brauchen wir uns über vieles andere den Kopf nicht zu zerbrechen. Mit der tröstlichen Erkenntnis, dass wir heutzutage über ein Instrumentarium verfügen, das uns erlaubt, Krisen wirksamer zu bekämpfen als seinerzeit, wird es nicht getan sein«.3 Was Brandt, Kreisky und Palme andiskutierten, waren Strukturveränderungen, wenn man so will: Epochenbrüche im hochentwickelten Kapitalismus. Doch diese Erkenntnis setzte sich in der Sozialdemokratie nicht durch. Bereits unter der Kanzlerschaft von Helmut Schmidt erfolgte Ende der 1970er Jahre der Übergang zu einer Politik der Anpassung an die Krise auf Kosten von Sozialstaatlichkeit – und damit der Anfang von Ende des Rheinischen Kapitalismus. In der Systemkrise seit 2008 wurde die Erinnerung an die Systemkrise der 1930er Jahre reaktualisiert. Bei Ludwig Erhardt und dem deutschen Ordoliberalismus wird man die Antworten auf die­se Krise nicht finden. Das sollte Anlass sein, über das »Wagnis« von »mehr Gerechtigkeit« hinaus zu gehen.

Otto König ist Mitherausgeber, Richard Detje ist Redakteur von »Sozialismus«.

[1] Hamburg: Hoffmann und Campe 2012, 239 Seiten. Die Ziffern in Klammern beziehen sich auf diesen Text.
[2]  Siehe Otto König: Band der Solidarität. Widerstand, Alternative Konzepte, Perspektiven. Die IG Metall Verwaltungsstelle Gevelsberg-Hattingen 1945-2010, Hamburg: VSA 2012, 510 Seiten.
[3] Willy Brandt/Bruno Kreisky/Olof Palme: Briefe und Gespräche. Frankfurt a.M./Köln 1975, S. 111f.

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