1. April 2004 Fabio de Masi

Good-bye Sweezy!

Paul Marlor Sweezy (1910–2004) gehörte mit Sicherheit nicht zu jenen Ökonomen, die ihre Heimat, die USA, als Land der unbegrenzten Möglichkeiten bezeichnen. Als solches erscheint es aber, wenn man sich mit der Biografie des "dean of radical economists" und "the most noted American marxist scholar" (John Kenneth Galbraith im Wall Street Journal 1972) des 20. Jahrhunderts beschäftigt.

Die Biografie Sweezys ist nicht die Geschichte eines Tellerwäschers, der zum Millionär wurde, sondern die eines Sohnes aus dem gehobenen US-amerikanischen Establishment, eines Harvard-Ökonomen, der zum Marxisten wurde und als unbeugsamer Intellektueller auszog, den Eliten seines Landes das Fürchten zu lehren.

Sein ökonomisches Wirken war eng mit den Arbeiten von Karl Marx und Alois Schumpeter verbunden. Daraus hervorgegangen ist seine Untersuchung und Kritik der kapitalistischen Epoche, ihres Ursprungs, ihrer Entwicklung und ihres prognostizierten Niedergangs. Wer sich heute als Student der Wirtschaftswissenschaften durch eine Vorlesung der Mikroökonomie quält, der Königsdisziplin der orthodoxen Gleichgewichtslehre, kommt auch dort an Sweezy nicht vorbei. Seine frühen Arbeiten zu Marktversagen und Oligopolen, die berühmte "kinked demand curve", haben auch hier ihre Spuren hinterlassen. In der Performance der Oligopole, die vorhandenen Profitchancen des Marktes nicht auszunutzen, weil sie bei Ausweitung der Produktion die Preise zu ihrem eigenem Nachteil beschädigen, hat er die Ursache für die langfristige Stagnation des profitorientierten Kapitalismus gesehen. Der keynesianische Kompromiss, der Wohlfahrtsstaat, der lange Zeit für eine Stabilisierung der Investitionen, des Konsums und der Balance zwischen den Akteuren des Marktes sorgte, schien Sweezys Prognose zu verdrängen. Sweezy blieb umtriebig, davon zeugen nicht zuletzt seine letzten Veröffentlichungen zur Globalisierung der Finanzmärkte oder der ökologischen Frage.

Sweezy starb am 27. Februar diesen Jahres an einem Herzleiden in seinem Haus in Larchmont, New York. Der Kollaps des sozialistischen Experiments in Osteuropa 1989 hat Sweezy jedoch keine Herzattacke beschert: An dessen ökonomischen und demokratischen Erfolg hat er längst nicht mehr geglaubt. Mit dem Untergang des Ostblocks starb jedoch auch der keynesianische Kompromiss. Die Öffnung der Märkte bescherte den neoliberalen Lobbies Rückenwind und den Prognosen des alten, geduldigen Mannes wieder Aktualität. Genossen hat der Mitbegründer und -herausgeber der Monthly Review, dem weltweit führenden Journal des "independent marxism", die späte Wiederbelebung seiner Thesen wohl kaum. Dies passte nicht zu seinem Charakter, wenn man jenen glaubt, die ihm begegnet sind. Sweezy hielt die Torheiten des Kapitalismus für veränderbar, Geschichte war für ihn keine Einbahnstraße. Seine engagierten Debatten mit den großen Denkern seiner Zeit, zumeist aus dem liberalen Milieu, zeichnen das Bild eines redlichen Intellektuellen. Er wollte überzeugen. Geradezu unheimlich erscheint die Anerkennung seiner Leistungen, die ihm die Größen der ökonomischen Disziplin, wie die Nobelpreisträger der Wirtschaftswissenschaften, Paul Samuelson und Ken Arrow, selten verweigerten.

Paul Marlor Sweezy wurde am 10. April 1910 als Sohn von Everett B. und Caroline (Wilson) Sweezy in New York geboren. Sein Vater war Vize-Präsident der First National Bank of New York, einem engen Partner von J.P. Morgan and Company. Paul Sweezy war der Jüngste von drei Geschwistern. Er genoss seine Ausbildung in Exeter und Harvard. Das Studium der Ökonomie führte ihn nach dem Tod seines Vaters 1931 nach Wien und später nach London, an die London School of Economics and Political Science (LSE). Es war die Zeit der "Great Depression", die auch das Vermögen seines Vaters nicht verschonte, wenngleich sein komfortabler Lebensstandard niemals in Gefahr geriet. Die britische Eliteuniversität wird heute vom führenden Vordenker des "Dritten Weges" und Berater Tony Blairs, Anthony Giddens, geführt. Sweezy, dessen Absicht es ursprünglich war, für den konservativen Ökonomen Hayek zu arbeiten, wurde dort zum Marxisten. Auslöser einer sich verändernden Sichtweise Sweezys waren nicht nur ökonomische Erschütterungen und große historische Umbrüche wie das Aufkeimen des europäischen Faschismus, sondern Auseinandersetzungen mit jüngeren, links-orientierten Cambridge-Ökonomen, wie der Keynes-Schülerin Joan Robinson, oder der später ebenfalls profilierten Ökonomin Abba Lerner.

Bei seiner Rückkehr nach Harvard hatte sich das intellektuelle Klima an den großen amerikanischen Universitäten spürbar verändert. Der Marxismus spielte zunehmend eine Rolle in der Zeit der großen politischen Entwürfe. Die Ankunft eines der zum damaligen Zeitpunkt fortgeschrittensten Wirtschaftswissenschaftlers, Alois Schumpeter, wurde zum Keim einer langjährigen und intellektuell fruchtbaren Freundschaft. Schumpeter, ein konservativer Ökonom und Theoretiker der "schöpferischen Zerstörung" und der unternehmerischen Innovationskraft hatte tiefen Respekt vor den theoretischen Leistungen von Karl Marx. Wie dieser glaubte (der späte) Schumpeter nicht an die Stabilität des Kapitalismus in der langen Frist. Sweezy besuchte nicht nur dessen Seminar, er engagierte sich in leidenschaftlichen Debatten, später unter Mitwirkung von Ökonomen wie Samuelson, dessen Lehrassistent Sweezy wurde. Samuelson war der Vater der "neoklassischen-keynesianischen Synthese", der Komposition aus angebots- und nachfrageorientierter Wirtschaftstheorie.

Sweezy forschte als Assistenzprofessor in Harvard u.a. zu Preisstarrheit und unvollkommenem Wettbewerb, zur Rolle von Erwartungen und Unsicherheit in keynesianischen Modellen sowie der ökonomischen Stagnation, auf deren Gebiet er gemeinsam mit Schumpeter führend wurde. Er integrierte keynesianische Erkenntnisse in seine Modelle, blieb jedoch ein engagierter Neo-Marxist. Dies wurde ihm zum Verhängnis, als Schumpeter unter großem Einsatz versuchte, Sweezy eine langfristige Professur in Harvard zu verschaffen. Sweezy, der sah, dass er ohne seine finanzielle Unabhängigkeit wohl kaum der Anpassung im akademischen Betrieb widerstanden hätte, verabschiedete sich von den Universitäten und gründete gemeinsam mit amerikanischen Wissenschaftlern monthly review: An independent socialist magazine. Zu den frühen Autoren zählten Albert Einstein, Ernest Che Guevara und Joan Robinson.

Er veröffentlichte zuvor zahlreiche Studien für verschiedene Agenturen des US-amerikanischen "New Deal". Eine wichtige Arbeit aus dieser Zeit ist Interest Groups in the American Economy (1937), die Anhang zum wegweisenden Report zur Unternehmenskonzentration (The structure of the American Economy) des National Resources Comittee wurde. Sweezy klassifizierte acht führende Interessengruppen und ihren verzerrenden Einfluss auf die US-Ökonomie, in die er auch das Finanzunternehmen J.P. Morgan und die Bank, für die sein Vater wirkte, einreihte. Seine Zeit in der US-Army während des Zweiten Weltkrieges beendete er als Chefanalyst der britischen Volkswirtschaft im Dienste der US-Regierung im Vorläufer der Central Intelligence Agency (CIA), dem Office for Strategic Services (OSS). Er leistete offenkundig einen Beitrag zum Anliegen der US-Regierung, das Vereinigte Königreich nach dem Krieg als "top dog" im ökonomischen und weltpolitischen Geschäft abzulösen, wie es Sweezy im Rückblick einmal formulierte. Sweezy dürfte sich kaum im Konflikt mit seiner Tätigkeit als US-Dienstleister gefühlt haben. Es gehörte nicht zu Sweezys Denken, dass sich Fortschritt aufhielten ließe, seine politische Orientierung verbarg er dabei nie.

Er beschäftigte sich zu mehreren Anlässen mit der Diktatur Stalins. Er scheute weder vernichtende Kritik, noch die nüchterne Debatte verschiedener Aspekte seiner ökonomischen Nachkriegspolitik. Selbst Business Week zollte der Unabhängigkeit der monthly review-Autoren und ihrer scharfen ökonomischen Analyse Respekt und Times International ermittelte Sweezy als eine der begehrtesten Persönlichkeiten, die japanische Businessleader und Meinungsmacher einmal treffen möchten. Für den aufgeregten Antikommunismus der McCarthy-Ära blieb Sweezy scheinbar zu nüchtern. Er musste vor den U.S. Surpreme Court aussagen und wurde nach einer flammenden, politisch eindeutigen Rede nicht nur nicht verurteilt, sondern läutete das Ende einer Politik ein, die bedeutende Persönlichkeiten wie Berthold Brecht und Charlie Chaplin aus den USA trieb.

Sweezy meist debattiertes Werk war neben The Theory of Capitalist Development (1942), Monopoly Capital (1966), das er gemeinsam mit seinem Weggefährten, dem Standford-Professor für Ökonomie und Pionier der dependency-Theorie in der Entwicklungsökonomie, Paul Baran, formulierte. Es erfuhr in seinen Marshall-Lectures in Cambridge 1972 eine letzte grosse akademische Würdigung. Monopoly Capital enthielt eine frühe und dezidierte Analyse der Bedeutung des Marketing, der Rüstung und der Finanzmärkte für das US-amerikanische Wachstum. Sweezy befasste sich in dieser Zeit mit internationalen Fragen. Seine Hoffnung auf politische Umbrüche stützte er dabei auf die Peripherie, da er zunächst davon ausging, dass die Widersprüche des Kapitalismus dort am stärksten zum Tragen kämen. Sein Augenmerk konzentrierte sich zuletzt aber wieder auf die entwickelten Volkswirtschaften, da ihn die Arbeiten seines Mitstreiters Harry Bravermann dazu veranlassten, die Arbeitsbedingungen und Konflikte der "high-skilled jobs" neu zu bewerten. Sweezy konzentrierte sich in den letzten Jahren auf die Rolle der internationalen Finanzmärkte. Er wurde dabei von Harry Magdorff bei monthly review unterstützt, einem Kind der New Yorker Bronx, der wegen seiner politischen Aktivitäten sein Mathematik- und Physikstudium aufgeben musste und nach einem Studium in Commerce zu einem Finanzanalysten, New Deal-Businesslobbyisten und Wirtschaftsberater des US-Präsidentenkandidaten Wallace aufstieg.

Paul Sweezy wurde 94 Jahre alt. Er bleibt all jenen ein Vordenker, die über eine andere und freiere Welt nachdenken, ohne den Blick auf den vermeidbaren "Terror der Ökonomie" zu scheuen. Sweezy hat nicht nur ein Jahrhundert der Ökonomie besichtigt, er war ein Jahrhundertökonom. Ein Jahr vor der Jahrtausendwende sagte er mit Blick auf die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen: "Well, if socialism is ever going to happen, we’re nearer to it now than we were then." Paul Sweezy hat nach einem so langen und ereignisreichen Leben seine Ruhe verdient. Wir werden ihn schmerzlich vermissen, den netten alten New Yorker.

Fabio De Masi ist Student der Volks- und Betriebswirtschaftslehre an der University of Cape Town (Südafrika) und der Hochschule für Wirtschaft und Politik in Hamburg.

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