1. April 2005 Redaktion Sozialismus

Große Koalition der neoliberalen Parteien

In den bundesdeutschen Medien stellt man sich auf den nicht mehr aufzuhaltenden Untergang des Projekts Rot-Grün ein. Von Seiten der SPD ist man bemüht, den Ball flacher zu spielen und die Pressekampagnen etwa gegen den langjährigen Publikumsliebling der Berliner Republik, Joschka Fischer, oder die durch Heckenschützen aus dem eigenen Lager zu Fall gebrachte Heide Simonis zur Ursache des erneuten Niedergangs zu stilisieren.

Für die Verluste in Schleswig-Holstein wie in dem Dutzend vorangegangener Wahlen gilt aber ein anderer Begründungszusammenhang: Die Politik der Agenda 2010 wird von einem beträchtlichen Teil der Mitglieder wie der WählerInnen der SPD nicht akzeptiert. Vom Übergang in das große Lager der NichtwählerInnen partizipieren die Parteien des bürgerlichen Lagers, die ihre relativen Stimmenzuwächse der Umschichtung im Wahlverhalten und nicht der Überzeugungskraft ihres politischen Angebots verdanken.

In Schleswig-Holstein suchte Rot-Grün eine durch den Südschleswigschen Wählerverband tolerierte Minderheitsregierung zu etablieren. Dieses Experiment entsprang offensichtlich dem Willen zur Verteidigung der Macht, hätte aber in der Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik die Chance auf einen zweifellos sehr begrenzten Neuansatz geboten. Wie sich herausstellte, ging selbst dies Teilen der Partei zu weit. Ins Haus steht nun eine große Koalition zu den Bedingungen der rechtskonservativen CDU. Damit ist zugleich ein Signal für die Wahlen in Nordrhein-Westfalen gesandt.

Aus den Regierungsetagen in Berlin und Düsseldorf hört man übereinstimmend die Botschaft: Aus eigener Kraftanstrengung sind die Wahlen für Rot-Grün nicht mehr zu gewinnen. Die sozialdemokratische Führung in NRW stellt sich auf einen Übergang (von einer heimlichen) zu einer (offenen) Großen Koalition ein – wenn es gelingt, die Liberalen klein zu halten oder gar aus dem Landtag zu drängen. Steinbrück und Schartau stehen vorbehaltlos zur Agenda 2010. Der Standort NRW müsse gründlich renoviert werden. Dabei gehe es um Augenmaß und Balance beim Sozialabbau, um den gesellschaftlichen Zusammenhalt nicht aufs Spiel zu setzen. Hieraus schließlich leite sich auch die patriotische Verantwortung der großen "Volksparteien" ab, sich zu einigen.

Die rot-grüne Regierungskoalition steht unter massivem Druck. Die Maßnahmen der Agenda 2010 haben keine "Dynamisierung der Wirtschaft" gebracht. Im Gegenteil: Die Konjunkturbewegung deutet auf eine Talfahrt hin. Deshalb soll es zusätzlich Maßnahmen zur Förderung des Wirtschaftswachstums geben. Den Unionsparteien wirft die Koalition "Populismus" vor: Wichtige Teile der Agenda 2010 – vom Gesundheitsmodernisierungsgesetz (Praxisgebühr, Zuzahlungen und Ausgliederungen von Leistungen) bis zur Hartz-IV-Gesetzgebung – seien gemeinsam ausgehandelt worden, doch habe sich die Union, als es schwierig wurde, aus dem Staub gemacht und Verantwortung von sich gewiesen.

In dieser Situation betritt "Super-Horsti" die Bühne, um mit den Weihen seines den politischen Niederungen entrückten Staatsamtes für eine entschiedenere Fortsetzung der neoliberalen Rosskur zu plädieren: "Wir vernachlässigen schon lange das Erfolgsrezept, das der Bundesrepublik Deutschland nach dem Krieg Zuversicht und Wohlstand, Stabilität und Ansehen gebracht hat... Diese Ordnung ist im Niedergang." Seit Jahrzehnten gebe es immer neue Auflagen und Regulierungen für die Wirtschaft; die Bürger seien träge geworden durch übersteigerte Sozialtransfers. Aus Köhlers neoliberalem Mantra erschallt der Ruf: Bereichert euch! "In Deutschland gilt es zuweilen als moralisch verdächtig, Gewinn zu machen. Das ist falsch." Der Bundespräsident agiert im Dienste der neoliberalen Elite. Es geht um Steuersenkungen für Unternehmen im Rahmen einer weiteren "großen Steuerreform" über das beim so genannten Job-Gipfel Vereinbarte hinaus,

  die Absenkung der "Lohnnebenkosten", u.a. des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung als weiterer Schritt zur "Entriegelung" des Arbeitsmarktes,

  Abkopplung der Sozialabgaben von der Lohnarbeit,

  Verlängerung der Politik der als Lohnzurückhaltung kaschierten Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums nach oben,

  Vorrang für betriebliche Bündnisse mit Lohnsenkungen und Arbeitszeitverlängerungen,

  und eine erneute Verbalattacke gegen Bürokratie.

Diese Mixtur hat in den letzten Jahren eine Verschärfung der sozialen Spaltung bei gleichzeitiger Erhöhung der Labilität der Konjunktur und Arbeitslosigkeit gebracht. Ihr erneuter Aufguss in einer Großen Koalition wird kein anderes Ergebnis haben. Horst Köhler hat freilich die Niveaulosigkeit der neoliberalen Argumentation noch getoppt. Für das seit Jahren verfolgte Umverteilungsprogramm, dessen beschleunigte Fortsetzung er verlangt, will der frühere IWF-Präsident Ludwig Erhard als Kronzeugen vereinnahmen. Erhard hat allerdings stets unterstrichen, dass es ihm um eine Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik geht, in der eben nicht die bekannte Hierarchie und Einkommensgliederung als Richtschnur dient. "Am Ausgangspunkt stand der Wunsch, über eine breitgeschichtete Massenkaufkraft die alte konservative soziale Struktur endgültig zu überwinden. Diese überkommene Hierarchie war auf der einen Seite durch eine dünne Oberschicht, die sich jeden Konsum leisten konnte, wie andererseits durch eine quantitativ sehr breite Unterschicht mit unzureichender Kaufkraft gekennzeichnet."[1] Erhard setzte die soziale Marktwirtschaft von der liberalistischen Wirtschaft alter Prägung ab. Deshalb war er für Lohnerhöhungen und soziale Transfers. Und deshalb hat er wiederholt erklärt, "dass der so oft geübte grundsätzliche Widerstand der Arbeitgeber gegenüber Lohnerhöhungen, die dank einer gesteigerten Ergiebigkeit unserer Volkswirtschaft nicht nur möglich, sondern für die Stabilität unserer Währung sogar notwendig ... sein können, nicht in das System der Markwirtschaft passt."[2] Köhler bedient nicht nur die Mentalitäten der wohlhabenden Elite, sondern betreibt für seine Indoktrinationsübung auch eine massive Geschichtsklitterung.

Die geballte Kraftanstrengung, in die sich auch die Rede des Bundespräsidenten einordnet, dient dem Ziel, eine klassenübergreifende Verständigung für eine erneute neoliberale Umverteilungsaktion zustande zu bringen. Der Präsident, große Teile der Wirtschaftsverbände und einflussreiche Strömungen in der Sozialdemokratie wie den Unionsparteien wollen eine klassenübergreifende Allianz, um weitere radikale Einschnitte bei den Sozialausgaben und Sozialleistungen durchzusetzen. Dieses Projekt wird als "Agenda 2005" gehandelt. Sollte es – wie beabsichtigt – rasch die parlamentarischen Hürden nehmen, werden wir noch vor dem Wahljahr 2006 denselben Effekt wie bei den Projekten der Agenda 2010 registrieren können: Außer einer Verschärfung der sozialen Spaltung und der weiteren Zerstörung sozialer Rechte und des Sozialstaates ist nichts herausgekommen. Eine "Dynamisierung" wird von der Fortsetzung der Rosskur nicht ausgehen.

Gegenüber den Unionsparteien präsentiert sich die Sozialdemokratie als kleineres Übel. Weil die SPD um den sozialen "Kitt" in der bundesdeutschen Gesellschaft fürchtet, präsentiert sie sich als Garant des sozialen Friedens. Bundeskanzler Schröder: "Wir sollten aber aufpassen, dass wir nicht kontraproduktiv wirken, wenn wir sie mit gesetzlichen Regelungen, die die Tarifautonomie schwerstens infrage stellen, überziehen; kontraproduktiv insofern, als die Konflikte in der Arbeitswelt dann statt im Parlament und in Diskussionen in Zukunft stärker als im letzten Sommer auf der Straße ausgetragen werden. Das möchte ich wirklich nicht. Ich will keine anderen Länder nennen, aber Sie kennen sie alle." Von dieser Positionsbestimmung ist es nur ein kleiner Schritt in eine "große Koalition", wenn eben ein vermeintlich unabänderlicher Anpassungsprozess durchzusetzen ist.

Die Sozialdemokratie wird sich auch von einem verstärkten Abwärtstrend bei Mitgliedern und WählerInnen von dieser Strategie nicht abbringen lassen. Insofern ist es auch keine Drohung, wenn der einstige Vorsitzende und ehemalige Finanzminister Lafontaine zu einer grundlegenden Korrektur der Hartz-"Reformen" aufruft: "Das Hartz IV-Gesetz muss aufgehoben werden. Wenn dies nicht nach der Wahl in Nordrhein-Westfalen sichtbar wird, wenn die SPD sich davon nicht löst, kann ich dieser Partei, obwohl ich ihr Vorsitzender war, nicht länger angehören." Ein solcher – äußerst unwahrscheinlicher – Kurswechsel der SPD wäre für viele Engagierte auf Seiten der Linken die einfachste Lösung. Die Sozialdemokratie würde sich – vielleicht spät, vielleicht turbulent, aber immerhin – erneuern. Die andere Lösung ist praktisch schwieriger umzusetzen, zumal sie mit einer Erneuerung der politischen Kultur eines von zunehmender Demokratieentleerung bedrohten Gemeinwesens einhergehen muss. Es geht um den Aufbau einer wählbaren Alternative, die Abgrenzungen und Spaltungen auf Seiten der Linken vermeidet, aber gleichwohl eine realistische, zukunftsorientierte Politik für die arbeitende Bevölkerung und die an den Rand gedrängten sozialen Schichten verfolgt und schrittweise in Erfolge bei der Erhöhung des Wohlstandes, der sozialen Sicherheit und einer umfassenden sozialkulturellen Offensive zur Herstellung einer demokratisch verfassten Wissensgesellschaft umsetzt.

[1] Ludwig Erhard, Wohlstand für alle, Düsseldorf, 1957, S. 7
[2] Ebd., S. 211

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