1. Juli 2004 Klaus Pickshaus

"Gute Arbeit"

Arbeitspolitik als umfassender Politikansatz zur Gestaltung der Arbeitsbedingungen hat in den letzten zehn Jahren in den Gewerkschaften kaum eine Rolle gespielt. In den 1990er Jahren haben Einkommensfragen, Arbeitsplatzsicherung und Regelungen eines früheren Ausscheidens aus dem Erwerbsleben das Feld der Arbeitsgestaltung weitgehend in den Hintergrund gedrängt. Im Gefolge dieses Themenwechsels sind auch die innergewerkschaftlichen Ressourcen verknappt worden. Zwar ist die staatliche Forschungspolitik mit dem Schwerpunkt Arbeitsforschung ("Arbeit und Technik", "Innovative Arbeitsgestaltung" usw.) weiter begleitet worden; eine lebendige Beziehung und enge Verzahnung zu betriebs- und tarifpolitischen Handlungsfeldern ging jedoch mehr und mehr verloren.

Dieses Defizit ist mittlerweile auch Gegenstand interner Kritik in der IG Metall. Nicht zuletzt deshalb wurde die Frage aufgeworfen, ob eine neue Initiative zur Humanisierung der Arbeit benötigt wird.[1] Sie wurde aber auch gestellt, weil offenkundig neue Zumutungen und Gefährdungslagen eine gewerkschaftlich und politisch neue Antwort erfordern.

1. Arbeitspolitische Bilanz

Die 1990er Jahre können arbeitspolitisch als "verlorenes Jahrzehnt" bilanziert werden. Entgegen der Prophezeiungen einer schönen neuen Arbeitswelt in der entstehenden "Wissensgesellschaft" haben sich die Arbeits- und Leistungsbedingungen verschärft, sodass sie vor allem für alternde Belegschaften immer schwerer zumutbar sind. Ausdehnung der realen Arbeitszeiten bei gleichzeitiger Arbeitsintensivierung ist immer mehr betriebliche Realität. Zugleich ist ein arbeitspolitischer Rollback feststellbar: Vorgabezeiten und Arbeitstakte wurden verkürzt sowie Ansätze zur humanen Ausgestaltung etwa von Gruppenarbeit wieder zurückgefahren. Die Bilanz ist also überwiegend negativ, und all dies hat den betrieblichen Handlungsdruck auf dem Feld der Arbeitsgestaltung erheblich erhöht.[2]

In der IG Metall wurde in den letzten beiden Jahren intensiv diskutiert, wie betriebs- und gesundheitspolitisch auf die Umbrüche in der Arbeit und auf die neuen Gefährdungslagen reagiert werden kann und muss. Drei wichtige Haupttrends des Umbruchs, die mit neuen Gefährdungslagen einhergehen, sollen – selbstredend ohne Anspruch auf Vollständigkeit – kurz benannt werden.

Erstens: die zunehmende "Entgrenzung" von Arbeitszeit und Leistungsanforderungen im Rahmen neuer, marktzentrierter Steuerungsmodelle in den Unternehmen. Die Industriesoziologie spricht hier von einer "Vermarktlichung" der betrieblichen Arbeitsorganisation und der Sozialbeziehungen. Der Druck des Marktes und der Anforderungen der Kunden wird unmittelbar an die Abteilungen, Arbeitsgruppen und die einzelnen Beschäftigten weitergereicht. Dies führt nicht selten zu Arbeitszeiten, die kein Ende zu finden drohen und zu Dauerstress-Zuständen als betriebliche Normalität.[3] Darauf hat ein arbeitspolitischer Gestaltungsansatz zu reagieren. Wenn gesundheitsverträgliche und -förderliche Arbeit nach wie vor zu den gewerkschaftlichen Zielen gehört, dann muss die Arbeit wieder zu einem gesunden Maß zurückfinden. Die Imperative des äußeren oder inneren Marktes können nicht als alleinige Maßstäbe akzeptiert werden, sondern die Leistungsfähigkeit und die sozialen Zeitbedürfnisse der Menschen müssen hinreichende Berücksichtigung finden.

Ein zweiter Haupttrend wird durch die Folgen des demografischen Wandels bestimmt, die eine alternsgerechte und lernförderliche Arbeitsgestaltung verlangen. Es reicht nicht, zu proklamieren, dass die "Potenziale Älterer" stärker genutzt werden müssen. Es muss auch erklärt werden, wie mehr Beschäftigte gesund alt werden können. Nur ein Drittel der Beschäftigten erreicht das reguläre Rentenalter von 65 Jahren. Dabei wird über die Hälfte der Beschäftigten wegen vorzeitigem Gesundheitsverschleiß vorzeitig verrentet. Die knappe Hälfte der jährlichen Neurentenzugänge wegen Frühinvalidität erfolgt wegen Muskel-Skelett-Erkrankungen oder psycho-sozialer Erkrankungen. Hier ergibt sich eine enorme Herausforderung für eine Humanisierung der Arbeit, die nicht nur die alterskritischen Gruppen in den Blick nimmt, sondern auf eine alternsgerechte Gestaltung über das gesamte Arbeitsleben hinweg zielt.

Drittens: Prekäre Arbeit in Form befristeter und Leiharbeitsverhältnisse weitet sich – politisch gefördert – derzeit stark aus. Bei diesen Beschäftigtengruppen ist eine Kumulation von Gesundheitsrisiken feststellbar. Dies hat erst jüngst wieder eine Studie im Auftrag der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin aufgezeigt.[4] Dabei erweist sich, dass die Ausgestaltung des Arbeitsverhältnisses selbst, also die Zurückdrängung prekärer Elemente wie Befristungen und Leiharbeit, wesentliche Voraussetzung und Bedingung humaner Arbeitsbedingungen ist.

In mehreren Politikbereichen der IG Metall, zuallererst im Arbeits- und Gesundheitsschutz, aber auch in der Tarif- und Betriebspolitik, wurde dieser Handlungsdruck aufgenommen und eine gemeinsame Initiative für ein neues Projekt humaner Arbeitsgestaltung konzipiert. Eine Tagung zu "Gute Arbeit – Menschengerechte Arbeitsgestaltung als gewerkschaftliche Zukunftsaufgabe" im November 2002 sowie ein wissenschaftliches Brainstorming mit Industriesoziologen und Arbeitswissenschaftlern im Juni 2003, aber auch eine erste Zwischenbilanz und Positionsbestimmung als IG Metall-Publikation zu "Gute Arbeit" bildeten die nächsten Tastversuche bei der Wiederentdeckung gewerkschaftlicher Arbeitspolitik.[5]

Doch erst nach einer entsprechenden Beschlussfassung des Gewerkschaftstages 2003 wurde deutlich, dass es die IG Metall ernst meint. Im März 2004 beschloss der Vorstand, dass im Rahmen einer "Dachkampagne Arbeit und soziale Gerechtigkeit" das Projekt "Gute Arbeit" zu den vier wichtigsten Vorhaben der nächsten drei Jahre gehören soll.[6]

Ziel des Projekts ist es, gewerkschaftlich und politisch eine neue Initiative zur humanen Gestaltung der Arbeitswelt auf den Weg zu bringen. Damit muss intern in der Betriebs- und Tarifpolitik das Ziel und Aufgabenfeld "menschengerechte Arbeitsgestaltung" erneut aufgewertet werden. Sozialpolitisch kann insbesondere in der Auseinandersetzung um Reformen im Gesundheitswesen Prävention als Kernaufgabe deutlicher gemacht werden.

Aus der Analyse der skizzierten Umbruchtrends ergaben sich drei inhaltliche Schwerpunkte, die im Projekt "Gute Arbeit" bearbeitet werden sollen. Sie sind unter folgende Leitsätze gestellt worden:

  "Der Arbeit ein gesundes Maß geben: Arbeitszeit und Leistungsdruck begrenzen";

  "Alternsgerechte und lernförderliche Arbeitsgestaltung fördern";

  "Prekäre Beschäftigung eindämmen – Belastungen und Risiken verringern".

2. "Gute Arbeit" als betriebspolitische Querschnittsaufgabe

Schon aus diesem inhaltlichen Zuschnitt des Projekts "Gute Arbeit" wird deutlich, dass eine neudefinierte und revitalisierte Arbeitspolitik der Gewerkschaften sich nicht auf ein Politikfeld, etwa den Arbeits- und Gesundheitsschutz, reduzieren lässt. Sie wird das klassische Arbeitsgestaltungsfeld, aber z.B. auch die Qualifizierungs-, Leistungs- und Arbeitszeitpolitik mit umfassen müssen. Sie kann sich allerdings die neue Rechtsbasis und das innovative Instrumentarium des modernen Arbeits- und Gesundheitsschutzes zunutze machen. Denn erstmals ist seit dem Arbeitsschutzgesetz 1996 "menschengerechte Arbeitsgestaltung" eine verpflichtende gesetzliche Grundlage, und mit der "Gefährdungsbeurteilung" (§ 5 ArbSchG) besteht ein umfassend anwendbares, allerdings bisher noch weitgehend ungenutztes "Innovationsinstrument" einer kontinuierlichen Verbesserung von Arbeitsorganisation und Arbeit insgesamt.

Aus diesem mehrdimensionalen Aufgaben- und Handlungssetting ergibt sich die Notwendigkeit, "Gute Arbeit" als Querschnittsthema zu entwickeln und zu verankern. Je stärker dies praktisch gelingt, desto eher wird sicherlich auch die Definition und inhaltliche Füllung von "Guter Arbeit" präzisiert werden können, die als Ausgangshypothese im Projektplan wie folgt beschrieben wird: "›Gute Arbeit‹ umfasst neben den Entgeltbedingungen auch Arbeitszeitgestaltung, Schutz vor Leistungsüberforderung und einen nachhaltigen Umgang mit der menschlichen Leistungsfähigkeit. Sie setzt lernförderliche und alternsgerechte Arbeitsgestaltung voraus und schließt einen ganzheitlichen, präventiv und beteiligungsorientierten Arbeits- und Gesundheitsschutz ein, der den unterschiedlichen Situationen und Belangen von Frauen wie von Männern Rechnung trägt. Ein Konzept von ›guter Arbeit‹ muss die veränderten Erwerbs- und Lebensentwürfe von Frauen wie Männern berücksichtigen." Aus dieser Aufgabenstellung ergibt sich im Übrigen auch, dass den Gender-Aspekten im Projekt systematisch Rechnung getragen werden soll.

Die Ausgangs- und Handlungsbedingungen in den drei Themenfeldern des Projekts sind zweifellos recht unterschiedlich. Die meisten Anknüpfungspunkte und den größten Vorlauf an gewerkschaftlichen Aktionserfahrungen bieten die Auseinandersetzung mit den Wirkungen der Entgrenzung der Arbeit. Die leistungs- und arbeitszeitpolitischen Folgen der neuen "vermarktlichten Leistungsregime" haben den Arbeitsdruck und die psychischen Belastungen zu einem erstrangigen Problemfeld werden lassen, wie alle Umfragen und betrieblichen Berichte bestätigen. In mehreren Bezirken der IG Metall sind Aktionen wie "Tatort Betrieb: Psychische Belastungen – Terror für die Seele" gestartet worden. Diese betrieblichen Präventionsbeispiele bei arbeitsbedingtem Stress bedürfen einer systematischen Ausweitung und Verstetigung. Sie können sich dabei auf gesicherte Mitbestimmungsrechte nach § 87, Abs. 1, Ziffer 7 BetrVG stützen. Betriebliche Erfahrungen in der Auseinandersetzung mit der neuen Maßlosigkeit in der Arbeit sind auch in der Arbeitszeitinitiative "Arbeiten ohne Ende? Meine Zeit ist mein Leben" insbesondere im Angestelltenbereich und in der IT-Branche gewonnen worden, die für die Neubestimmung des Verhältnisses von individuellen Interessen und kollektiven Verständigungs- und Handlungsprozessen wichtige Anstöße geben.

Beim Thema des demografischen Wandels ist eine eklatante Diskrepanz feststellbar: Zwar wurden in den letzten Jahren sehr viele Forschungsergebnisse vorgelegt (vgl. www.demotrans.de); in den Betrieben sind hingegen eine frappierende Problemignoranz und praktische Umsetzungsdefizite prägend. An dieser Stelle wird das Projekt "Gute Arbeit" anzusetzen haben. Neben einer Sensibilisierung für die Aufgabe alternsgerechter Arbeitsgestaltung in der Arbeitswelt werden Instrumente eines integrierten Handlungsansatzes zu erproben sein, die sich nicht auf Personalentwicklung und Qualifizierung beschränken, sondern auch auf eine gesundheitsförderliche Arbeitsgestaltung während des gesamten Erwerbslebens beziehen müssen. Die Entwicklung als Querschnittsaufgabe wird sich hier bewähren müssen. Zugleich kann gegen den sozialpolitischen Missbrauch des Demografiethemas für eine Absenkung der Rentenniveaus der Fokus auf eine Verfasstheit der Arbeitswelt gerichtet werden, in der nur eine Minderheit gesund das Rentenalter erreicht und in sechs von zehn Betrieben heute niemand mehr über 50 Jahre alt ist.

Soll der gewerkschaftliche Anspruch auf eine einheitliche Vertretung der Interessen aller Arbeitnehmergruppen nicht aufgegeben werden, sind trotz aller Schwierigkeiten auch die Zonen prekärer Beschäftigung einzubeziehen. In den bisherigen Forschungsprogrammen zur innovativen Arbeitsgestaltung sind bekanntlich diese Probleme der wachsenden Polarisierung und Prekarisierung in der Arbeitswelt weitgehend ausgeklammert worden. Eine realistische Bestandsaufnahme über das Ausmaß an Prekarisierung und ihren Belastungen wird deshalb erforderlich sein. Die notwendige Sensibilisierung der Interessenvertretungen der Stammbelegschaften kann sich die wachsende Erfahrung zunutze machen, dass die Ausweitung von prekären Arbeitsverhältnissen (innerhalb der Betriebe oder auch durch Outsourcing) auch den Druck auf eine Absenkung der Standards für die Stammbelegschaften enorm erhöht. Präventionskonzepte, die systematisch auch prekäre Beschäftigte einbeziehen, sind gemeinsam mit anderen Akteuren zu entwickeln.

"Gute Arbeit" als Querschnittsaufgabe zu entwickeln steht also – je nach Handlungsfeld – vor unterschiedlichen und komplizierten Herausforderungen.

3. Gute Arbeit als "gegentendenzielles Projekt"

Betrachtet man die Rahmenbedingungen für eine Initiative zur Revitalisierung von Arbeitspolitik, so sind neue und positive Anknüpfungspunkte für eine Initiative "Gute Arbeit" zu registrieren. Dazu zählen neben der nationalen Umsetzung des EU-Rechts zum Arbeits- und Gesundheitsschutz auch europäische Initiativen wie die "EU-Gemeinschaftsstrategie für Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz", die auf eine Verbesserung der "Qualität der Arbeit" abzielt und von einem "weiten Konzept" des Wohlbefindens bei der Arbeit ausgeht. Hinzu gerechnet werden muss ebenso die bundesdeutsche "Initiative für eine neue Qualität der Arbeit" (INQA), die sich auf diesen europäischen Impuls bezieht und national eine verbesserte und verbindliche Kooperation aller Akteure im Arbeitsschutz und weit darüber hinaus anstrebt. Die Gewerkschaften haben deshalb INQA begrüßt und aktiv unterstützt, um vorhandene Umsetzungsdefizite bei der "menschengerechten Gestaltung der Arbeit" als Auftrag des Arbeitsschutzgesetzes zu verringern.

Gleichwohl stellt sich die Ausgangslage für die Gewerkschaften widersprüchlich dar, denn statt einer notwendigen staatlichen Flankierung solcher neuen Impulse verschlechterten sich die Bedingungen durch eine Deregulierungsstrategie, die auch den Arbeits- und Gesundheitsschutz als bürokratisches Standorthemmnis ins Visier nimmt. Konkret zeigt derzeit die nach dem "Masterplan zum Bürokratieabbau" verfolgte Deregulierungspolitik des Bundesministeriums für Wirtschaft und Arbeit, dass ein Abbau von Schutzstandards und Arbeitsschutzressourcen mit dem Argument der Beseitigung von Wettbewerbshemmnissen realisiert werden soll.

Eine solche Spannung zwischen neuen Optionen und Restriktionen ist allerdings schon in der europäischen "Gemeinschaftsstrategie" selbst angelegt, auf die sich auch INQA bezieht. Sie bettet die Orientierung auf "Qualität der Arbeit" in eine wettbewerbspolitische Strategie ein, nach der "die Union zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt" werden soll. Diese standortpolitische Begründung kann eben auch bedeuten, dass nur solche Optionen einer Arbeitspolitik und eines Gesundheitsschutzes begünstigt werden, die "wettbewerbskompatibel" sind und damit den Gesundheitsschutz einem kurzfristigen Kosten-Nutzen-Kalkül unterwerfen. Die betriebliche Realität zeigt, dass Investitionen in das Humankapital dann zurückgenommen werden, wenn sie ihren Beitrag zur Wettbewerbsstärkung in der geforderten (unter Shareholder-Value-Kriterien immer kürzeren) Frist nicht nachzuweisen vermögen.

Das wettbewerbspolitische Paradigma bietet deshalb keinen verlässlichen Begründungsrahmen für eine Initiative "Gute Arbeit". Angesichts der vorherrschenden und vornehmlich auf Kostensenkung fokussierten Wettbewerbspolitiken ist eine gewerkschaftliche Initiative eher als "gegentendenzielles Projekt" zu konzipieren und zu praktizieren. Dieses Projekt bringt in erster Linie die gesundheitlichen, sozialen und arbeitsinhaltlichen Interessen der Beschäftigten zur Geltung, bezieht aber aus den produktivitäts- und wettbewerbsfördernden Impulsen dennoch Bewegungsenergie. Sie erhebt sie aber nicht zum zentralen Bewertungs- und Rechtfertigungskriterium.[7]

Damit trägt eine Initiative "Gute Arbeit" aber durchaus zur Auseinandersetzung mit den dominierenden unternehmenspolitischen Konzeptionen einer "Ökonomie der kurzen Fristen" bei und liefert Argumente für ein "alternatives Wettbewerbsmodell". Ein solches Modell setzt auf Qualität der Arbeit als zentraler Innovationsstrategie, bei der Investitionen in die Humanressourcen (Kompetenz – Motivation – Gesundheit) eine Schlüsselrolle einnehmen. Nicht nur die bessere Nutzung der Qualifikationen und eine erhöhte Arbeitszufriedenheit, sondern vor allem die Beteiligung der Beschäftigten stellen dabei zentrale Ressourcen dar. So erweist sich gegenwärtig nicht eine angebliche Überregulierung im Arbeitsschutz als Innovationsbremse – wie es die Deregulierungsverfechter behaupten –, sondern die mangelnde Nutzung der Innovationspotenziale und -instrumente des modernen Arbeits- und Gesundheitsschutzes.

Eine gewerkschaftliche Initiative "Gute Arbeit" wird ebenfalls auf die externalisierten gesellschaftlichen Kosten unterlassener Prävention und unterlassener humaner Arbeitsgestaltung im Betrieb hinweisen und diese zu einem sozialpolitischen Auseinandersetzungsfeld machen. Auch wenn der Krankenstand seit Jahren ein sehr niedriges Niveau hat – nicht zuletzt aufgrund der Arbeitsplatzangst –, kann dies nicht über das Ausmaß tatsächlicher und insbesondere chronischer arbeitsbedingter Erkrankungen hinwegtäuschen. Im Vordergrund stehen Herz-Kreislauf- und Muskel-Skelett-Erkrankungen. Psychische Belastungen in der Arbeitswelt als Mitverursachungsfaktoren nehmen zu. Die gesellschaftlichen Kosten, die dieser Komplex arbeitsbedingter Gesundheitsrisiken und Erkrankungen erzeugt, sind enorm hoch. Nach Ermittlungen durch ein Forschungsprojekt des BKK-Bundesverbandes (im Auftrag der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin) kosten arbeitsbedingte Erkrankungen die Gesellschaft jährlich mindestens 28 Mrd. Euro. Etwa 15 Mrd. Euro sind direkte Kosten für Krankheitsbehandlungen (also Kosten, die die Krankenversicherungen übernehmen müssen); weitere 13,5 Mrd. Euro entfallen auf indirekte Kosten durch Produktionsausfall.[8]

Angesichts der aktuellen Kostendebatten in der Sozialpolitik ergibt sich hier ein brisantes Konfliktfeld, in dem eine gewerkschaftliche Initiative "Gute Arbeit" in der Arbeitswelt einen wichtigen Präventions- und damit Kostensenkungsbeitrag erbringen kann. Zugleich wird deutlich, dass auch ein vorrangig betriebspolitisches Projekt die politischen Weiterungen und Handlungsfelder konzeptionell und praktisch mit in den Blick nehmen muss.

4. Arbeitspolitische Offensive in einer gewerkschaftlichen Defensivlage?

Die Argumente und Fakten, die für eine Initiative "Gute Arbeit" sprechen, haben Gewicht. Aber sind die heutigen Zeiten und Handlungsbedingungen nicht allzu gegenläufig?

Ein knapper Blick auf die Geschichte gewerkschaftlicher Humanisierungspolitik kann vielleicht helfen, Unterschiede zur damaligen HdA-Politik und neue Anforderungen an eine heutige Initiative zu konturieren. Nur drei Akzente sollen hervorgehoben werden.

Erstens konnte sich die damalige HdA-Initiative in der Tat in einem Klima allgemeiner Reformpolitik und eines gewerkschaftlichen Aufschwungs entfalten, auch wenn Restriktionen im Laufe der 1980er Jahre immer spürbarer wurden. Heute dagegen teilt eine Initiative "Gute Arbeit" oder humaner Arbeitsgestaltung die restriktiven Bedingungen jeder realen Reforminitiative: Sie muss politisch in einem Klima der Gegenreform, des Deregulierungswahns und staatlichen Sozialabbaus begründet und etabliert werden. Zugleich sind gewerkschaftliche Positionen in Betrieb und Gesellschaft schwächer geworden. Eine neue gewerkschaftliche Initiative "Gute Arbeit" muss also aus der Defensive heraus entwickelt werden, kann sich aber auf eine starke Erwartungshaltung unter den Beschäftigten beziehen.

Zweitens: Die damalige HdA-Politik war eher technik- und expertenzentriert, während heute als neue Anforderung eine Arbeits- und Organisationsprozessorientierung in den Vordergrund tritt. Hinzu kommt, dass Beschäftigte als Experten ihrer eigenen Gesundheit und Arbeitsgestaltung ins Handlungszentrum treten müssen und klassische Stellvertreterpolitik immer mehr ins Leere läuft.

Drittens: Inhaltlich standen bei der alten HdA-Initiative die Zumutungen tayloristischer Arbeit, der Monotonie, eingeschränkter Handlungsspielräume und klassischer Belastungen im Vordergrund. Heute hingegen erfordern die Ambivalenzen entgrenzter Arbeit, die mehr Autonomie bei gleichzeitig mehr Druck beinhalten, neue Gestaltungs- und Politikformen, die sich erst in einem Suchprozess herausbilden können. Die intensivere Verschränkung von Arbeits- und Lebenswelt muss deshalb in einer neuen Initiative zum integralen Bestandteil gehören.

Dies sind nur einige der neuen Anforderungen. All dies macht das ambitionierte Projekt "Gute Arbeit" nicht leichter. Angesichts vieler überbordender Erwartungen, die derzeit in jeder neuen gewerkschaftlichen Initiative die Lösung aller strategischen Defensivprobleme erwarten, muss daran erinnert werden, dass für den Erfolg eines solchen Vorhabens entscheidend ist, ob es gelingt, die Komplexität an Anforderungen und Themen praxisgerecht zu reduzieren. Dies wird durch den skizzierten Projektplan versucht.

Die Gewerkschaften müssen sich der Arbeitspolitik wieder annehmen. Die Erwartungen der Beschäftigten auf eine Gestaltung ihres betrieblichen Arbeitsalltags und auf ein gesundes Maß der Arbeit sind hoch. Gewerkschaftliche Interessenvertretungspolitik hat dies ernst zu nehmen – erst recht in einer Zeit gewerkschaftlicher Defensive. Für eine Wiederbegründung gewerkschaftlicher Gegenmacht besitzt das Feld der Arbeitsbedingungen – wie schon in den Anfängen der Gewerkschaftsbewegung – eine große Bedeutung.

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