25. März 2022 Jens Becker: Zum 50. Todestag von Otto Brenner

»Handelnde und gestaltende Kraft«

Die Ära Brenner in der IG Metall, die mit der Wahl zum Ersten Vorsitzenden 1956 begann und mit seinem plötzlichen Tod am 15. April 1972 endete, ist gekennzeichnet durch einen tiefgreifenden soziokulturellen und sozioökonomischen Modernisierungsprozess (siehe Becker/Jentsch 2007: 241–342, Becker 2020), der die Nachkriegsbundesrepublik dynamisierte und individualisierte.

Gegenwärtig findet ein vergleichbarer, möglicherweise noch weitgehenderer Veränderungsprozess statt, den die IG Metall unter dem Banner »Transformation gestalten« mitzubestimmen versucht: »Digitalisierung, Globalisierung, Elektrifizierung, Klimawandel und demografischer Wandel werden tiefgreifende Umbrüche zur Folge haben.« Es gehe um nichts weniger als um eine Transformation unserer Wirtschaft, unserer gesamten Lebens- und Arbeitswelt lautet der Untertitel der Mitgliederzeitung »Metall« vom 2.1.2019. Die IG Metall habe den Anspruch, den Wandel zu gestalten und gemeinsam mit den Beschäftigten eine humanere Arbeitswelt zu schaffen. Die Transformation müsse sozialen Fortschritt bringen ― »für alle«.

Zum 50. Todestag von Otto Brenner lohnt sich daher ein Blick auf seine Reden und Schriften, die durchgängig mit antikapitalistischem Realismus ohne Anbiederei an die herrschenden Klassen in Staat und Gesellschaft verknüpft sind. Auf dem 3. Gewerkschaftstag der IG Metall 1954 formulierte Brenner noch in seiner Funktion als Ko-Vorsitzender eine Grundsatzposition, die sein weiteres Denken und Handeln bestimmte: »Die Arbeiterbewegung, deren unauslöslicher Bestandteil die Gewerkschaften sind, hat sich die große Aufgabe gestellt, unsere Gesellschaftsordnung zu verbessern und umzugestalten. Das soll geschehen im Sinne eines Höchstmaßes an Wohlstand und sozialer Sicherheit, an Glück und Zufriedenheit, an politischer, geistiger und wirtschaftlicher Freiheit der arbeitenden Menschen und ihrer Familien, die die große Mehrheit auch in unserem Volke ausmachen.« Entscheidend sei dabei aber die Frage, ob die Gewerkschaften als »Objekt, Spielball in der turbulenten Entwicklung der gesellschaftlichen Kräfte, oder Subjekt, handelnde und gestaltende Kraft« agierten (zitiert nach Becker/Jentsch 2007b: 55). Die hart erkämpften tarifpolitischen Erfolge der 1950er und 1960er Jahre, die die IG Metall zur Lokomotive der DGB-Gewerkschaften machen sollte, belegen diesen Anspruch.

Dr. Jens Becker ist Referatsleiter Promotionsförderung in der Hans-Böckler-Stiftung.

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